Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie? (1970): „In jedem Fall bedürfen wir einer Theorie historischer Zeiten, wenn wir das Verhältnis der ›Geschichte an sich‹ zu den unendlich vielen Geschichten im Plural klären wollen. Ideologisier­bar, wie »Geschichte« ist, bleibt sie gleichwohl als transzendentale Katego­rie Bedingung unserer neuzeitlichen Erfahrung. Als solche geht sie nie unmittelbar auf in den jeweiligen Geschichten, die erfahren oder erkundet werden, auch wenn sie diese erst erkennbar macht.“

Wozu noch Historie?

Von Reinhart Koselleck

Werner Conze zum 31. Dezember 1970

Die Frage wird gestellt, wozu wir überhaupt noch Historie trei­ben. Das Mißbehagen über die Langeweile des Geschichtsunter­richts an den Schulen, über den Lehrbetrieb an den Universitäten, über die mangelhafte Rückbindung der Forschung in die gesell­schaftliche Öffentlichkeit – dies Mißbehagen ist unverkennbar und veranlaßt unsere Frage: Wozu noch Historie?

Mit dieser Frage hat sich offenbar die Krise des Historismus, die Heussi nach dem Ersten Weltkrieg registriert hat,[1] verschärft. Es scheint sich nunmehr, nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur um eine Krise der historischen Weltanschauung, eines sich ins Unend­liche reproduzierenden Relativismus, zu handeln: Offenbar han­delt es sich um eine Krise der Historie als eines strengen For­schungszweiges. Unsere Wissenschaft als solche wird in Frage gestellt. Offensichtlich hängt die Krise der Historie von der Krise des Historismus so sehr ab, wie die Geschichtswissenschaft im Historismus gründet.

Vielleicht ist diese Frage auch hervorgerufen worden von jener uneinlösbaren Forderung, daß die ›Geschichte‹ die Vergangen­heit, unsere Vergangenheit, zu bewältigen habe. Denn damit sind wir überfordert: Die Vergangenheit ist vergangen und als Vergan­genheit nicht mehr zu bewältigen – höchstens in unkritischer Weise zu vergewaltigen. Die Doppeldeutigkeit von ›Vergangenheit‹, auch Gegenwart zu sein, wird verkannt, wenn man glaubt, die Vergangenheit aufarbeiten zu können. Anscheinend wird uns Historikern immer noch die Geschichte als Weltgericht zugemutet. Gleichwohl enthält jenes Postulat eine berechtigte Herausfor­derung, daß nämlich die Historie als Wissenschaft die Vergangen­heit kritisch so zu sichten habe, daß wir für die Praxis heute und morgen eine schärfere Erkenntnis der Handlungsbedingungen ge­winnen mögen. Mit anderen Worten, die Frage Nietzsches nach Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben wird aufs neue aufgerollt. Das jedenfalls scheint mir der Sinn jener emphatisch formulierten Frage – wozu noch Historie – auch heute noch zu sein.

Bevor wir uns auf eine Antwort einlassen, möchte ich auf die wissenschaftsgeschichtliche Lage der Historie im Zusammenhang der Geistes- und Sozialwissenschaften verweisen. Der Befund ist allgemein bekannt. Seit dem Ersten Weltkrieg sind die Geistes- und Sozialwissenschaften dem Prozeß einer rapide um sich grei­fenden Enthistorisierung erlegen. Das einigende Band um die alte, bald ehemalige philosophische Fakultät war das historische Selbst- und Weltverständnis gewesen. Alle Fächer wurden im Medium des historischen Bewußtseins behandelt. Der alte Topos vom ewi­gen Wandel wurde seit rund 1800 auf die Einmaligkeit des jeweili­gen Wandels eingeengt; die anhaltende Veränderlichkeit wurde – oft stillschweigend – unter regulative Prinzipien wie die des Wer­dens, der Entwicklung oder des Fortschritts gestellt; Kausalerklä­rungen innerhalb der Zeitabfolge wurden genetisch kondensiert; schließlich wucherten biologische Naturalismen, ohne daß ihre metaphorische Bedeutung für den Bereich speziell historischer Fragestellungen hinreichend aufgeschlüsselt worden wäre. Allen Bewegungen wurden Substanzen oder Werte zugeordnet, die sel­ber relativiert, aber nicht hinterfragbar schienen. Die Frage nach der Wahrheit wurde allenthalben historisch vermittelt.

Inzwischen sind die Einzelfächer aus diesem Historismus der philosophischen Fakultät sukzessive ausgeschert. Die National­ökonomie hat ihre historische Schule fast vergessen und entdeckt sie nur unter neuen theoretischen Prämissen im Bereich der Öko­nometrie wieder. Die Philologien entfernen sich zunehmend von genetischen Fragestellungen, und ebenso versteht sich die Litera­turgeschichte immer weniger als Geistesgeschichte; über die For­mengeschichte und über strukturwissenschaftliche Fragen stößt man vor zu einer allgemeinen Sprachwissenschaft, hinter deren Algebra die Historie verblaßt. Ebenso ist die Kunstgeschichte in Anbetracht der modernen Kunst genötigt, eine Theorie der Kunst zu entwickeln, um sich überhaupt noch als Wissenschaft auswei­sen zu können. Auch der Methodenstreit unter den Soziologen lebt auf einer Seite von einem antihistorischen Vorbehalt, der eine entsprechende purifizierte Wissenschaftlichkeit abstützen soll. Schließlich hat die Philosophie selber das seit Hegel aufgerichtete ehrwürdige Gebäude der Philosophiegeschichte weitge­hend verlassen. Als Hermeneutik entfaltet sie ein metahistorisches Selbstverständnis; viele Fragen wenden sich sprachanalytischen Aufgaben zu, die ahistorisch behandelt werden und die manche Berührungspunkte zur Hermeneutik aufweisen.

Wir registrieren also einen Vorgang, der unsere Zunft isoliert hat. Die Historie ist auf sich selbst zurückgeworfen. Sie scheint von der Vergangenheit zu leben und weiß nicht genau, wo ihr Ort in dieser enthistorisierten Fakultät sei. Einige Bereiche, etwa die Parteien- oder die Sozialgeschichte, die Geschichte des National­sozialismus oder der Kriegsursachen, scheinen dank ihrer Aktua­lität noch einen gewissen allgemeinen Fragebedarf zu stillen. Aber die unendliche Fülle historischer Erkenntnisobjekte aller Räume und Zeiten hat ihre Bildungsfunktionen – die sie früher für das historische Weltverständnis gehabt hatte – eingebüßt.

Dazu kommt, daß die historische Wissenschaft auch ihre ehe­dem naiv hingenommene politische Funktion soweit verloren hat, als die Pflichten eines historischen Professors, bei Gedenk- und Feiertagen inflammierende Reden zu halten, heute als deplaziert empfunden werden. Die Soziologen sind – nicht beneidenswert – in die Rolle eines Deuters eingerückt. Wir Historiker sind also auf uns zurückgeworfen und in vieler Hinsicht echolos zu einer Wis­senschaft für die eigenen Spezialisten geworden. Diese Reduktion wirft also auch aus der Immanenz der Wissenschaftsgeschichte die Frage auf: wozu noch Historie? – es sei denn, sie ist sich selbst Zweck genug.

Betrachten wir noch einmal den Vorgang der Enthistorisierung unserer Sozial- und Geisteswissenschaften, so wird eine Eigen­tümlichkeit deutlich, die speziell die Historie auszeichnet oder be­nachteiligt, wie man es nimmt. Alle einzelnen Forschungsbereiche haben ihre je eigene Systematik, ihre je eigenen Theorien entwickelt, die den gemeinsamen Erfahrungsraum der Sozial- und Gei­steswissenschaften aufgliedern. Die Soziologie hat es in ausgezeich­neter Weise mit der Gesellschaft, die politische Wissenschaft mit dem Staat, der Verfassung und der Politik allgemein zu tun; die Sprachwissenschaften mit der Sprache und den Sprachen; die Eth­nologie und Anthropologie mit dem Menschen und den Kulturen; die Ökonomie mit der Wirtschaft und so fort. Die methodische Verwandlung der Erfahrungsbestände in Erkenntnisobjekte scheint im Zuge der Enthistorisierung derartig komplett, daß für die Historie als solche kein genuines Erkenntnisobjekt übrigbleibt.

Die erste Folgerung, die wir aus diesem Befund ziehen können, wäre demnach so zu formulieren: Die Geschichtswissenschaft als solche hat sich soweit aufgelöst, als sie von den verschiedenen Ein­zelwissenschaften unter ihre jeweiligen systematischen Aspekte subsumiert wird. Für sich genommen ist dieser Sachverhalt unbe­streitbar. Die Historie dient in der Tat allen anderen Einzelwissen­schaften als eine Art Hilfs- und Ergänzungswissenschaft. Keine Systematik kommt ohne historische Daten aus, die in sie einge­hen, wie auch immer sie hypothetisch sortiert und genutzt wer­den. Im Maß also, wie die Historie um ein ihr spezifisch zugeord­netes Objekt gebracht ist, bleibt nur noch die historische Methode übrig, deren sich die anderen Wissenschaften subsidiär bedienen. Wie Lévi-Strauss sagt: »In Wahrheit ist die Geschichtswissen­schaft nicht an den Menschen oder an irgendein besonderes Ob­jekt gebunden. Sie besteht ganz und gar in ihrer Methode«.[2]

Dieses erste Ergebnis sei hingenommen und ist nicht zu unter­schätzen. Keine Wissenschaft, so a- oder antihistorisch sie sich geriert, kann ihren historischen Implikationen entrinnen. Soweit sich die zeitlichen Dimensionen des menschlichen Daseins ver­schränken, die Zukunft, die Vergangenheit und die Gegenwart – so daß jede Zukunft Vergangenes und alles Vergangene Zukünfti­ges in sich enthält -, soweit läßt sich die Historie als Medium des Selbstbewußtseins, als eine Grenz- oder gar Inhaltsbestimmung der Forschungspraxis nicht ausräumen. Die Endlichkeit des Da­seins verweist mit Heidegger auf dessen Zeitlichkeit, diese auf die geschichtlichen Valenzen jeder Situation. So allgemein gespro­chen bleibt also jede Wissenschaft historisch imprägniert. Wo etwa komparative Methoden verwendet werden, entgehen sie kaum dem Zwang, diachronische Tiefenbestimmungen zu treffen. Ge­neralisierungen leben von Einzelfällen, die immer auch ihren hi­storischen Stellenwert behalten.

Die jüngst so oft diskutierte Verschränkung von Subjekt und Objekt verweist in allen Wissenschaften auf deren Geschichtlichkeit. Demzufolge zeigt sich in allen Wissenschaften die historische Dimension: Welche Gesetzesauslegung kann von den Entstehungs­bedingungen eines Gesetzes absehen? Welche Analyse eines Kunst­werkes kann – mit Kubler zu reden – davon abstrahieren, daß auch die vollkommenen Kunstwerke Probleme aufgeben, die erst durch die nachfolgenden Kunstwerke gelöst werden?[3] Welche noch so abstrakte und modellhafte Zeitreihe einer ökonomischen Theorie kann der Daten entraten, die historisch einmalig waren? Welches sprachanalytische Raster, welche Metasprache kann vom dauern­den Wandel der gesprochenen Primärsprache absehen?

Ersparen Sie mir weitere Beispiele. Die Enthistorisierung der Einzelwissenschaften hat zwar das einigende Band einer histori­schen Weitsicht zerschnitten, sie hat aber nirgends die historischen Implikationen einer jeden Wissenschaft ausräumen können. Inso­fern bleibt die Historie als Forschungsmethode – dort mehr, da we­niger – ein unentbehrliches Hilfsmittel im Kosmos unserer Wis­senschaften. Alle Wissenschaften leben aus der Geschichte ihrer selbst heraus. Die Sozial- und Geisteswissenschaften können spe­ziell von ihrem Forschungsbereich her auf die Subsidiarität der historischen Methode nicht verzichten.

Mit dieser Feststellung bleibt freilich unsere eigentliche Frage un­beantwortet: Wozu noch Historie – an und für sich genommen? Hat sie überhaupt einen ihr eigentümlichen Forschungsbereich? Das offenbar nicht, denn den teilt sie unter jeweils verschiedenen Fragestellungen mit den übrigen Sozial- und Geisteswissenschaf­ten. Die übliche Definition des historischen Forschungsobjektes: der Mensch und sein Wandel, seine Tätigkeiten und sein Leiden – diese Definition schließt die Gegenstandsbereiche der Philologie, der Soziologie, der politischen Wissenschaft – oder was Sie wol­len – nicht eindeutig aus. So drängt sich schnell eine Antwort auf, die einleuchtend scheint; die Geschichte selber ist ihr Forschungs­bereich. Solange es Geschichte gibt, wird es Historie geben. Die Verantwortung für die heikle Frage, wozu noch Historie, scheint damit von den Schultern der Historiker genommen, denn daß es Geschichte gebe, daß wir in ihrem »Bann« leben, wird wohl nie­mand bestreiten wollen.

Damit kommen wir zum zweiten Teil unserer Ausführungen. Genaugenommen wird uns die Antwort nicht erleichtert, wenn wir die Historie als Wissenschaft an eine Geschichte binden, deren »Existenz« oder deren »Walten« unbestreitbar scheint. Wir alle kennen das Schlagwort vom Ende der Neuzeit oder gar vom Ende der Geschichte; oder umgekehrt von der Revolution, die alle bis­herige Geschichte in Vorgeschichte verwandeln werde; oder jene Wendung, die die Geschichte aus dem Feld der Notwendigkeit in ein Reich der Freiheit überführe – alle bisherige Geschichte sol­le aus den Bahnen übermenschlicher Zwänge in den glücklichen Raum souveräner Planung umgeleitet werden. Dem gegenüber steht die Resignation, die Flucht aus der Geschichte oder die Fest­stellung, daß der Sinn aller Geschichte die Rettung aus ihr sei. Alle diese Wendungen zusammengenommen setzen die Fragwürdig­keit der Geschich­te selber voraus. Wozu noch Geschichte? scheint die provokative oder verzweifelte, die eigentliche Frage zu sein, die hinter der Kritik an unserer Wissenschaft lauert.

Diese umformulierte Frage ist nun keineswegs so unsinnig, wie sie sich ausnimmt. Denn die Geschichte, von der wir hier so selbst­verständlich sprechen, ist ein ganz spezifisches Produkt der Neu­zeit. Ja, man kann sagen, die Neuzeit beginnt erst, seitdem die Geschichte als solche entdeckt wurde.

Lassen Sie mich das kurz erläutern.[4] Geschichte meinte früher vorwiegend Begebenheit, Schicksal, Zufall, besonders eine Folge getätigter oder erlittener Handlungen. Historie meinte vorzüglich die Kunde davon, ihre Erforschung, den Bericht und die Erzäh­lung darüber. Im Laufe des 17., besonders des 18. Jahrhunderts überlappten sich zunehmend die beiden deutlich trennbaren Be­deutungsfelder. Ereignis und Erzählung wuchsen in beiden Wort­bedeutungen zusammen, Historie und Geschichte färbten sich ge­genseitig ein, aber doch mit einer unüberhörbaren Dominanz der ›Geschichte‹ für den Doppelsinn von Wissenschaft und Erzählung einerseits und Ereignis- und Wirkungszusammenhang anderer­seits. Diese sprachliche Kontamination bezeugt einen wichtigen Vorgang. Seit 1770 bereitete sich sprachlich die transzendentale Wende vor, die zur Geschichtsphilosophie des Idealismus führte. Die Droysensche Formel, daß Geschichte nur das Wissen ihrer selbst sei, ist das Ergebnis dieser Entwicklung. Mit anderen Wor­ten, Geschichte wurde zu einer subjektiven Bewußtseinskategorie – wie übrigens ähnlich auch die Begriffe ›Revolution‹ und »Fortschritt«.

Die »Geschichte an sich«, »als solche«, »schlechthin« – all diese Ausdrücke tauchen damals auf, und alle bezeugen einen tiefgrei­fenden Erfahrungswandel. Die Geschichte wird zu einem Regu­lativ des Bewußtseins für alle zu machende Erfahrung: Handeln und Leiden der Menschen, die Praxis der Politik, die Gewißheit der Offenbarung, die Roman- und Trivialliteratur, die Dramen, die bildenden Künste, die progressiven Entdeckungen der For­schung – alles wird seitdem durch das historische Bewußtsein ver­mittelt. Die »Geschichte selbst« hat den Historismus freigesetzt.

Dazu kommt ein weiteres, nicht minder wichtiges Merkmal, das uns die Begriffsgeschichte der Geschichte für die Wende um 1770 herum aufzeigt. Die Geschichte war früher eine Pluralform von den Singularformen »das Geschichte« und »die Geschieht«. »Die Geschichte sind«, heißt es etwa in einem Lexikon von 1748, »die Geschichte sind ein Spiegel der Tugend und Laster, darinnen man durch fremde Erfahrung lernen kann, was zu tun oder zu las­sen sei, sie sind ein Denkmal der bösen sowohl als der löblichen Taten«.[5] Die Geschichte bestand also früher aus einer Summe von Einzelgeschichten, jede Einzelgeschichte hatte ihren begrenzten Zusammenhang, der exemplarisch auf ähnliche Geschichten ver­weisen mochte. Die Geschichten konnten sich wiederholen, und deshalb konnte man aus ihnen lernen – so wie auch Bodin seinen methodus zur besseren Erkenntnis der historiarum, der Geschich­ten im Plural, ge­schrieben hatte.[6]

Bis kurz vor der Französischen Revolution kannte man nur be­stimmte Geschichten, jede hatte ein ihr innewohnendes Subjekt, bzw. jede Darstellung hatte ihr konkretes Objekt. Es gab eben nur Geschichten von etwas: die Geschichte Karls des Großen, Frank­reichs, der Kirche, der Dogmen und selbst die historia universalis bezog sich auf die empirische Quersumme einzelner Geschichten zur gleichen Zeit. All das kennen und schreiben wir natürlich auch heute noch. Aber der Begriff von Geschichte hatte einen neuen Aggregatzustand gewonnen.

Die Geschichte als Pluralform von Einzelgeschichten verdich­tete sich zu einem Kollektivsingular. Erst seit 1770 kann man den früher unaussprechbaren Gedanken formulieren: die Geschichte an sich. Mit anderen Worten, die Geschichte wird zum Subjekt und zum Objekt ihrer selbst. Hinter diesem sprachgeschichtlichen Befund meldet sich unsere spezifisch neuzeitliche Erfahrung: die Bewegung, die Veränderbarkeit, die Beschleunigung, die offene Zukunft, die revolutionären Trends und ihre überraschende Ein­maligkeit, die stets sich überholende Modernität – die Summe die­ser temporalen Erfahrungen unserer Neuzeit sind in dem Kollek­tivsingular von Geschichte auf ihren Begriff gebracht worden.

Erst seitdem kann man – mit Hegel – von der Arbeit der Ge­schichte sprechen, erst seitdem kann man Natur und Geschichte einander konfrontieren, erst seitdem kann man Geschichte ma­chen, planen, erst seitdem kann man sich dem vermeintlichen Wil­len der Geschichte unterwerfen.

Fassen wir das Ergebnis unseres wortgeschichtlichen Exkur­ses zusammen: Die Geschichte ist sowohl eine subjektive Bewußtseinskategorie geworden, wie sie zugleich als Kollektivsingular die Bedingung der Möglichkeit aller Einzelgeschichten in sich ent­hält. Das eine verweist auf das andere und umgekehrt.

Das Organon der historischen Wissenschaften, die geschicht­liche Reflexion auf das politische Handeln, das Vorgebot der Sinnfindung oder Sinnstiftung allen Zeitläufen zum Trotz – die Quersumme dieser Bedeutungen macht die ›Geschichte schlecht- hin‹ zu einem Begriff mit Totalitätsanspruch. Anders gewendet, die Geschichte wird seit der Französischen Revolution zu einem metahistorischen Begriff.

Fragen wir nach den Folgen dieses Vorgangs von epochaler Be­deutung. Im Bereich der historischen Wissenschaften bleibt die metahistorische Kategorie der Geschichte zumeist unreflektiert. Sie wird naiv hingenommen und angewendet, weil man sich ohnehin nur historisch zu verstehen meint. Es geht mit der Geschichte wie mit vielen Metabegriffen: Im Zuge der Forschungspraxis werden die kritisch zu reflektierenden Voraussetzungen abgeschliffen, weil sie im zweiten Durchgang unvermittelt gehandhabt werden.

Innerhalb und außerhalb der historischen Wissenschaften wu­chert nun der Begriff der Geschichte proportional zu seiner un­kritischen Verwendung. Säkularisate gehen in ihn ein: die Welt­geschichte ist das Weltgericht, die Geschichte wird allmächtig, allweise, allgerecht, deshalb ist man auch vor ihr verantwortlich. Ernst Moritz Arndt verteidigte die Ehre der deutschen Geschich­te.[7] Die Geschichte wird emphatisch überhöht, sie wird heilig. Treitschke verkündete, daß man sich an der Herrlichkeit der deut­schen Geschichte versündigt habe.[8] »Geschichte müssen wir ma­len, Geschichte ist die Religion unserer Zeit, Geschichte allein ist zeitgemäß«, schreibt die Zeitschrift für bildende Kunst 1876.[9] Droysen konstatierte, daß die Adelsopposition des 17. Jahrhun­derts die preußische Geschichte für zwei Jahrhunderte aus ihrer Bahn geworfen und ruiniert habe: womit die wirkliche an einer wünschbaren gleich wahren Geschichte gemessen wurde – ein auch heute nicht unbekanntes Verfahren. »Wir«, rief Hitler, »sind vom Schicksal ausersehen worden, im höchsten Sinne des Wortes Geschichte zu machen. Was Millionen Menschen verwehrt wird, hat uns die Vorsehung gegeben. An unserem Werk wird sich die späteste Nachwelt noch unser erinnern«.[10] Mit dem Nachsatz hat Hitler ohne Zweifel recht behalten, aber es drängt sich die Vermu­tung auf, daß die tatsächliche Wirkung, die Hitler gezeitigt hat, aus der von keiner Empirie widerlegbaren Überzeugung abzulei­ten ist, mit der er Geschichte machen zu können glaubte. Schließ­lich ein letzter Beleg für den außerwissenschaftlichen Sprachge­brauch, der zur Historie zurückführt: Bei der Vorberatung über die zu erstellende Parteigeschichte in der DDR hat »Genosse Ulbricht […] heute morgen in einem Zwischenruf gesagt, die Ar­beit mit den Historikern hat ihn mehr Mühe gekostet als die Arbeit mit der Geschichte […]«[11]

Was bezeugt nun die Reihe der vorgetragenen Belege? Die Ge­schichte als Kollektivsingular und als Bewußtseinskategorie er­weist sich als äußerst geschmeidig und anpassungsfähig. Sie wird zu einem Sammelbecken aller nur denkbaren Ideologien, die sich auf die Geschichte berufen können, weil die Geschichte selber nicht kritisch in Frage gestellt wird. Geschichte wurde zu einer Leerformel, zu einem Blindbegriff. Damit wird das Wort, bewußt oder nicht, manipulierbar. Die Geschichte erhält die göttlichen Epitheta, deren sich die Menschen bedienen – insofern wird sie säkularisiert. Die Geschichte wird – obwohl ursprünglich auf zeit­liche Bewegung hin konzipiert – handfest substantialisiert und personifiziert. Schließlich wird sie voluntarisiert, wodurch sie sich scheinbar dem Willen derer fügt, die sie zu machen glauben. Auch der Rückgriff auf vermeintliche Gesetzmäßigkeiten kann die Dif­ferenzen zwischen Planung und Effekt nicht aus der Welt schaf­fen, im Gegenteil oft nur vergrößern.

Diese Überlegungen führen uns zu einer neuen Schlußfolgerung. Indem wir schlicht Wortgeschichte getrieben haben, indem wir den historischen Gebrauch der Vokabel »Geschichte selbst« hinter­fragt haben, haben wir etwas getan, das uns zu unserer Ausgangs­frage zurückführt. Es könnte sein, daß wir die Historie als Wissen­schaft unversehens in ihr Recht gesetzt haben, indem wir die Ge­schichte als Begriff und dessen Verwendung unserem kritischen Urteil unterworfen haben. Anders gewendet: Je fragwürdiger die »Geschichte schlechthin« geworden ist, desto mehr wird die Histo­rie als kritische Wissenschaft legitimiert. Damit haben wir eine zweite Antwort auf unsere Frage, wozu noch Historie, gefunden.

Fragen wir nunmehr, was uns eine solche historische Wissen­schaft im einzelnen zu bieten vermag. Hier freilich müssen wir uns auf Hinweise und Anregungen beschränken. Jedenfalls ist mit dem bisherigen Nachweis seiner Berechtigung unser Forschungs- und Lehrbetrieb nicht hinreichend bestimmt.

Reflektieren wir darauf, was wir soeben getan haben, so gewin­nen wir bereits einige formale Kriterien, die eine historische Tätig­keit kennzeichnen, Kriterien, kraft deren sie sich auch gegenüber den andern Wissenschaften und gegenüber der Öffentlichkeit aus­weist. Die begriffsgeschichtliche Detailanalyse, die ich skizziert habe, dient uns freilich nur als Beispiel, als Einstieg, solche Krite­rien zu entwickeln, die sich ebensogut aus allen andern Bereichen der Geschichtswissenschaft ableiten lassen.

Wenn ich dabei auch Trivialitäten formuliere, so fürchte ich nicht um deren Gewicht, denn gerade die stummen Voraussetzun­gen unserer Arbeit in Erinnerung zu rufen ist in Anbetracht der Herausforderung an die Historie dringend nötig.

Erstens haben wir uns auf das konkrete Detail eingelassen. Die Bedeutungsverschiebung von den Historien im Plural zur ›Geschichte an sich‹ im Kollektivsingular ist ein Vorgang, der sich in den Jahrzehnten von 1760 bis 1780 mit statistischer Exaktheit messen läßt. Ob Sie sozialökonomische oder sprachgeschichtliche oder sonstige Fragen zu beantworten suchen, die historische Me­thode, die sich durch die Einzelfälle hindurcharbeiten muß, kann von keiner anderen Methode überholt werden. Das gilt ebenso und vor allem für die historische Urteilsbildung. Keine Historik verzichtet auf die Erkenntnis, daß die subjektiven Fragestellungen und deren gesellschaftliche Bedingungen eine inhärente Voraus­setzung historischer Urteile sind. Diese selbstkritische Reflexion erübrigt aber in keiner Weise den methodischen Kanon histo­rischer Forschung, um die Ergebnisse kommunikabel und damit kontrollierbar zu machen. Nur die Einzelforschung entzieht die historischen Aussagen der Beliebigkeit, sie liefert den Testfall, ob sich eine allgemeine Feststellung halten kann oder nicht.

Zweitens haben wir in unserem Beispiel eine Anleihe bei den Sprachwissenschaften aufgenommen, sofern nämlich die Semantologie ein Teil derselben ist. Die semasiologischen und onomasiologischen Zugriffe sind von ihrer theoretischen Prämisse her nicht notwendigerweise historisch – um so fruchtbarer ihre An­wendung auf soziale und politische Phänomene. Der Zwang zur interdisziplinären Arbeit, in der sich verschiedene theoretische Prämissen brechen, ist nur die Kehrseite der oben geschilderten Sachlage, daß keine Wissenschaft auf ihre historische Komponente verzichten kann. Anders gewendet: Die Geschichtswissenschaft bleibt ihrerseits auf die Systembildung der Sozialwissenschaften insgesamt angewiesen.

Drittens haben wir einen gewissen Verfremdungseffekt erzielt, indem wir uns klarmachten, wie wenig die alte ›Historia‹ geeignet war, den neuzeitlichen Erfahrungshorizont einer sich als fort­schrittlich begreifenden Geschichte zu umreißen. Daß es Geschich­te im Popperschen Sinne des Historizismus[12] nicht immer gegeben hat, zeigen uns jene relativen Konstanten aus der Zeit vor 1789, die uns den Wandel seit der Revolution erst zu diagnostizieren erlauben. Das heutige Postulat etwa nach einer Emanzipation, wenn sie sich nicht als naturale Kategorie perpetuieren soll, wird meist im Rückgriff auf andere Sozialformationen als die unseren formuliert. Die zeitliche Tiefe, die über unsere unmittelbare Er­fahrung hinausführt, kann aber nur mit dem Rüstzeug histori­scher Wissenschaft erschlossen werden. Vielleicht stellt sich dann aber heraus, daß der Generationenkonflikt eine größere Konstan­te darstellt, als eine geschichtsphilosophische Perspektive über die Jahrhunderte hinweg wahrhaben will.

Viertens haben wir, indem wir die Verwendung des Wortes »Geschichte« analysierten, Ideologiekritik geliefert. Freilich kennt die reine Wortgeschichte keine Kriterien, um den jeweiligen Aus­sagegehalt ideologisch zuordnen zu können. Gleichwohl ist die Ideologiekritik Ergebnis einer konsequent durchgehaltenen histo­risch-philologischen Methodik, die ihre Texte bekanntlich nicht nur nach äußeren, sondern ebenso nach inneren Kriterien beur­teilt. Jede Zweideutigkeit oder Inkonsistenz von Texten verweist auf Sachverhalte oder Bedingungen außerhalb der Texte, an de­nen die Texte gemessen werden müssen. So besteht das Geschäft unserer Forschung darin, mit Hilfe von Texten zu Aussagen zu gelangen, die über die Texte hinausführen, indem sie diese in ei­nen geschichtlichen Bedeutungszusammenhang stellt. Darin un­terscheiden wir uns von den Geisteswissenschaften, die die Texte selber oder um ihrer selbst willen thematisieren, darin liegt die ideologiekritische Komponente unserer Methode enthalten. Wir kommen gar nicht umhin, Ideologiekritik zu liefern, auch wenn die Maßstäbe je nach den eingebrachten Prämissen wechseln. Vielleicht stellt sich, wenn wir diese Überlegung zu Ende denken, heraus, daß selbst die Ideologiekritik nur eine Variante des Histo­rismus ist, der von der › Geschichte an sich‹ lebt, die es ›an sich‹ gar nicht gibt. Lucien Sebag hat gezeigt, wie heterogen sprachliche Strukturen und geschichtliche Realitäten sind, ohne daß man zur Gänze das eine auf das andere zurückführen kann.[13] Es bleibt ein Problem des historischen Bewußtseins, daß sich seine Strukturen mit der geschichtlichen Wirklichkeit nicht decken. Diesem Di­lemma entrinnen auch jene nicht, die sich auf utopische Weise in die Zukunft entwerfen, die scheinbar bewußtseinskonform ist, weil ihr geschichtliches Substrat nicht erfahrbar ist.

Fünftens haben wir etwas nicht getan, was die Historie als Wis­senschaft auch nicht tun kann: Wir haben keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für morgen geliefert. Gleichwohl müssen wir unsere eingangs aufgestellte Behauptung begründen, daß die Lehre der Geschich­te, und um die geht es uns ja allen, nicht Selbst­zweck sein oder bleiben könne. Historia magistra vitae – nicht historia magistra historiae. Die alten Historien, wie sie bis in das 18., ja 19. Jahrhundert hinein gelehrt wurden, enthielten immer ein Moment unmittelbarer Applikation: für die Politik, für das Recht, für die Moral, selbst im theologischen Bereich. Die theore­tische und aufgrund der vergleichsweise langfristigen Stabilität im sozialen Leben auch empirisch einlösbare Voraussetzung war der natürliche Kreislauf aller Dinge. Aus ihm folgte die Wiederholbar­keit der Geschichten, also auch die praktische Anwendbarkeit ihrer Lehren.

Seitdem die »Geschichte schlechthin‹ entdeckt wurde, ihre Ein­maligkeit, seitdem lehrt sie nur mehr dies, daß aus ihr keine Leh­ren abzuleiten seien. Die »angewandten Geschichten«, die wir in unserem deutschen Sprachbereich aufzuweisen haben,[14] sind nicht geeignet, dies Hegelsche Diktum zu widerlegen. Jede eigene Erfahrung verändert die Ausgangslage und damit die Erfahrung selber. Vergangene Erfahrung, die andere gemacht haben, läßt sich nicht unmittelbar übertragen.

Wir müssen uns also bescheiden, aber darin liegt der Gewinn. Der Verzicht auf Aktualität ist die Bedingung einer vermittelten Applikation, die nun allerdings die Historie als Wissenschaft frei­setzen kann. Die Historie zeigt Perspektiven, Bedingungsnetze möglichen Handelns; empirisch liefert sie Daten, um Trends zu extrapolieren – insofern hat sie Teil an der Prognostik. Daß die Per­spektiven standortgebunden sind, gehört mit der Geschichtlichkeit des Daseins zu den Voraussetzungen unserer Wissenschaft, sie zu reflektieren ist daher ein methodisches Gebot. Daraus folgt aber nicht, daß die bewußte Einnahme eines Standpunktes einen Garan­tieschein für die Wahrheit der gewonnenen Aussagen liefert. Auch die heute so gern formulierte Berufung auf Werte ist kein Blanko­scheck für wertvolle Erkenntnisse, sowenig wie sich eine Hand­lungsanweisung aus ihnen ableiten läßt. Wir mögen uns daran erin­nern, wie häufig Hitler die Kategorien der Werte beschworen hat, besonders den ›Höchstwert‹ (des deutschen Volkes), und welche Folgen das für jene hatte, die auf der Seite des Unwerts situiert wur­den – um uns darüber klar zu sein, daß die Wertvokabel als solche bedeutungsblind ist und jeder Willkür ausgesetzt bleiben kann.

Damit habe ich aus dem vorgetragenen begriffsgeschichtlichen Beispiel fünf formale Kriterien abgeleitet, die unsere wissenschaft­liche Tätigkeit kennzeichnen: die Hinwendung zum konkreten Detail; der Zwang, sich der theoretischen Prämissen auch der Nachbarwissenschaften zu bedienen; der Verfremdungseffekt hi­storischer Aussagen; die ideologiekritische Implikation der histo­risch-philologischen Methode und die Unmöglichkeit, unmittel­barer, aber die Aufgabe vermittelter Nutzanweisungen histori­scher Erkenntnis. Der Katalog ließe sich verlängern, aber er scheint mir hinzureichen, um der Frage, warum noch Historie als Lehr- und Forschungsbetrieb, einen positiven Aspekt abzugewinnen.

Freilich muß ich hier einen Vorbehalt anmelden. Die genannten Formalkriterien folgen zwar aus unserer Methodik, aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß sich auch die uns benachbarten Sozial- und Geisteswissenschaften dieser Kriterien bedienen, um sich aus­zuweisen. Wir müssen also unsere Fragen enger fassen, um die Historie in ihrer Eigentümlichkeit zu legitimieren.

Ich habe Vorzüge und Grenzen unserer Methode umrissen, aber von der »Sache«, von der Geschichte, speziell von der Ver­gangenheit, war wenig die Rede. Das führt mich zum Schluß mei­ner Ausführungen.

Wir haben anfangs die Entstehung der ›Geschichte‹ als einer metahistorischen Kategorie geschildert; wir haben den ideologi­schen Spielraum umrissen, der seitdem freigesetzt wurde und den einzugrenzen unsere Aufgabe ist. Nun läßt sich freilich ›Geschichte‹ durch keine sprachkritische oder methodische Reflexion über­holen. Auch die Entdeckung der Geschichtlichkeit als einer existentialen Kategorie für die Endlichkeit des Menschen und für die Dauerhaftigkeit des Wandels verschiebt nur das Problem: Ge­schichtlichkeit ist ebenfalls ein Symptom für die Unaufholbarkeit dessen, was mit Geschichte gemeint ist.

Wir stehen vor einer Antinomie der Geschichte.

Die Vergangenheit ist absolut vergangen, unwiderruflich – und zugleich wieder nicht: Die Vergangenheit ist gegenwärtig und ent­hält Zukunft. Sie beschränkt kommende Möglichkeiten und gibt andere frei, sie ist in unserer Sprache vorgegeben, sie prägt unser Bewußtsein wie das Unbewußte, unsere Verhaltensweisen, unsere Institutionen und deren Kritik.

Wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, wird mit sich selbst konfrontiert; oder, um mit Hegel zu reden, was wir als Historiker treiben, »ist also keine eigentliche Geschichte, oder es ist eine Geschichte, die zugleich keine ist«.[15] Wir werden hier diese Anti­nomie nicht lösen, und ob sie lösbar ist, bleibe unentschieden. Aber eines scheint mir sicher: Wir müssen uns dieser Antinomie stellen. Das aber setzt voraus, daß wir die Fragwürdigkeit unserer Wissenschaft theoretisch klären. Darum sei noch ein Hinweis auf die Theoriebedürftigkeit unserer Wissenschaft erlaubt.

Geschichte, seitdem sie einmal unsere Erfahrung eröffnet hat, läßt sich nicht durch Kritik destruieren. Vielmehr kommt es dar­auf an, daß wir uns wieder der transzendentalen Bedeutung vergewissern, die dem Begriff ursprünglich innewohnte. Als sie sprach­lich artikuliert wurde, war die ›Geschichte selber‹ identisch mit ›Geschichtsphilosophie‹. Und bevor sich die historische Wissen­schaft von den inhaltlich durchgeführten teleologischen Syste­men der idealistischen Geschichtsphilosophien zu trennen suchte, bemühten sich die Historiker um eine hypothetische Geschichts­schreibung. Die aufgeklärte Historie trachtete nach einer System­bildung und einer Theorie der ›Geschichte seibere Anders gewen­det, es war ihre Theoriebedürftigkeit, die mit dem Begriff der ›Geschichte selber‹ gesetzt wurde.

Dieses Postulat gilt es, nachdem sich die Geschichtsphiloso­phien des vergangenen Jahrhunderts überholt haben, neu zu erfül­len. Dabei hätten wir uns – zunächst – der Hilfen unserer Nach­barwissenschaften zu versichern, die ihrerseits von unseren Metho­den leben. Es gibt eine Unmenge von ungenannten Hypothesen, die stillschweigend in unsere Forschungspraxis eingehen, ohne daß wir uns darüber Rechenschaft ablegen. Popper hat einmal eine Reihe von Regelhaftigkeiten aufgezählt, deren formale An­wendbarkeit für uns ihren Ort in einer zu entwickelnden Historik hätte.

Sowie wir uns über unsere theoretischen Prämissen klar sind, wird sich zeigen, wie eng wir den Sozialwissenschaften verhaftet sind. Und das kann dann nicht ohne Rückwirkungen auf unsere Forschungspraxis bleiben. So ist es beispielsweise erforderlich, eine historische Anthropologie zu entwickeln, wie sie etwa Fou­cault oder van den Berg entworfen haben. Wie anders kann man solche Erscheinungen wie die Konzentrationslager untersuchen – es sei denn, man bleibt vor einer Registratur der Grausamkeiten stehen. Um überhaupt nur andeutungsweise begreifen zu können, was sich in den Konzentrationslagern abgespielt hat, bedarf es der Hilfen einer Sozialpathologie. Wir müssen freilich die scheinbar fremden Kategorien in unsere Wissenschaft einholen, sie gleich­sam mit einem geschichtlichen Bewegungskoeffizienten versehen – aber wir kommen nicht umhin, uns solchen anthropologischen Fragen zuzuwenden, wenn wir eine den genannten Phänomenen adäquate Erkenntnis gewinnen wollen, die dann unser Verhalten beeinflussen mag.

Um ein anderes Beispiel zu nennen: Es ist ein dringendes Desiderat, die Wirtschaftswissenschaften in die Sozialgeschichte zu re­integrieren (was eine Trennung voraussetzt, die in der Mittelal­terforschung nie so weit stattgefunden hat wie in der Neueren Geschichte). Eine solche Reintegration setzt aber die Kenntnis ökonomischer Theorien voraus, die – wie in der New Economie History – für die Geschichtswissenschaft zu überraschenden Er­gebnissen führen kann, gerade weil der theoretische Vorgriff nicht historisch ist.

Eine weitere Forderung wäre, die Ergebnisse der modernen Lin­guistik für die Historie nutzbar zu machen. Die semantologische Zerlegung des Geschichtsbegriffs, wie ich sie versucht habe, ist – von seinen theoretischen Prämissen her gedacht – auf alle substan­tiellen Aussagen auszu­dehnen, deren wir uns naiverweise bedie­nen. Staat, Volk, Klasse, Jahrhundert, Rasse, Persön­lichkeit sind Größen, die als substantielle Handlungseinheiten nur hypothe­tisch gebraucht werden sollten. Die gebotene Entsubstantialisierung solcher Begriffe führt aber zwangsläufig zu einer Verzeitlichung ihrer kategorialen Bedeutungen. Damit stoßen wir auf eine spezifisch historische Aufgabe, nämlich statt fixierter Größen die intersubjektiven Zusammenhänge als solche zu thematisieren, und zwar in ihrer zeitlichen Erstreckung. Korrelationen, die in sich beweglich sind, lassen sich aber nur funktional beschreiben, mit hypothetisch einzubringenden Konstanten, die ihrerseits wieder in anderen funktionalen Zuordnungen als Variable zu interpretie­ren sind. Die sogenannte Strukturgeschichte, die Dauer und Wan­del aneinander mißt, kann gar nicht anders vorgehen als eben mit temporalen Hypothesen.

Damit kommen wir zu unserem letzten Postulat. Es fehlt völlig eine Theorie, die, wenn über­haupt, unsere Wissenschaft von den Theorien der übrigen Sozialwissenschaften unterscheidet: eine Theorie der historischen Zeiten. Kants Forderung, daß sich die Geschichte nicht nach der Chronologie, sondern umgekehrt die Chronologie nach der Geschichte zu richten habe,[16] ist bis heute noch nicht erfüllt. Es gibt mehrschichtige Zeitabfolgen, die alle für sich ein Vorher und Nachher kennen, die aber auf dem Raster der naturalen Chronologie in ihrer linearen Sequenz nicht zur Deckung zu bringen sind.[17] Daher kommt es darauf an, Temporal­strukturen freizulegen, die den mannigfachen geschichtlichen Bewegungsweisen angemessen sind. Die Temporalität geschicht­licher Ereignisse und die Ablaufstrukturen geschichtlicher Pro­zesse können dann – gleichsam von sich selbst aus – die Geschich­te gliedern.

Welcher grundsätzlichen Schwierigkeit die Historie dabei ge­genübersteht, erhellt schon daraus, daß sie alle ihre Kategorien dem natürlichen und räumlichen Bereich entlehnen muß. Wir leben von einer naturalen Metaphorik und können dieser Meta­phorik gar nicht entraten, weil die Zeit nicht anschaulich ist. Um so mehr sind wir bei unseren Übersetzungsversuchen, die ge­schichtlichen Zeiten sprachlich zu fassen, auf genuine Hypothe­sen angewiesen, die uns vor den übrigen Wissenschaften auswei­sen.

In jedem Fall bedürfen wir einer Theorie historischer Zeiten, wenn wir das Verhältnis der ›Geschichte an sich‹ zu den unendlich vielen Geschichten im Plural klären wollen. Ideologisierbar, wie »Geschichte« ist, bleibt sie gleichwohl als transzendentale Katego­rie Bedingung unserer neuzeitlichen Erfahrung. Als solche geht sie nie unmittelbar auf in den jeweiligen Geschichten, die erfahren oder erkundet werden, auch wenn sie diese erst erkennbar macht.

Freilich wäre es anmaßend zu behaupten, daß durch die Be­griffsbildung der »Geschichte schlechthin«, die obendrein eine spe­zifisch deutsche Sprachschöpfung darstellt, alle Ereignisse vor der Französischen Revolution zur Vorgeschichte verblassen müßten. Es sei nur an Augustin erinnert, der einmal feststellte,[18] daß sich die Historie zwar mit den menschlichen Institutionen beschäftige, daß aber ipsa historia keine menschliche Einrichtung sei. Die Historie selber sei nichts anderes als der von Gott vorgeplante ordo temporum. Die metahistorische – und auch temporale – Be­deutung der Historia ipsa ist insofern nicht nur ein neuzeitlicher Befund, sondern bereits theologisch vorgedacht worden. Gleich­wohl fehlt nicht zufällig bis in das 18. Jahrhundert hinein ein gemeinsamer Oberbegriff für all die Geschichten, res gestae, die pragmata und vitae, die seitdem unter dem Begriff der ›Geschichte‹ im Kollektivsingular gebündelt werden.

Die epochale Differenz zwischen der »Geschichte an sich‹ – dem Erfahrungsraum des Historismus – und den Historien alten Stils, die unter mythischen, theologischen oder anderen Voraussetzun­gen erfahren wurden, kann nur überbrückt werden, wenn wir nach den temporalen Strukturen fragen, die der Geschichte im Singular und den Geschichten im Plural zugleich eigentümlich sein mögen.

Deshalb dient die Frage nach den Zeitstrukturen der theore­tischen Erschließung unseres genuinen Forschungsbereiches. Sie eröffnet einen Zugang, das ganze Gebiet historischer Forschung sachimmanent zu gliedern, ohne daß man sich an chronologische Triaden halten und ohne daß man an der semantischen Erfah­rungsschwelle einer Geschichte schlechthin seit rund 1780 ste­henbleiben müßte.[19] Nur die temporalen, d. h. die den Ereigniszu­sammenhängen innewohnenden, jedenfalls an ihnen aufzeigba­ren Strukturen können den historischen Erfahrungsraum adäquat als eigenen Forschungsbereich gliedern. Dieser Vorgriff ermög­licht die präzisierende Frage, inwiefern sich eigentlich die Ge­schichte schlechthin von den mannigfachen Geschichten früherer Zeiten unterscheidet. Dieser Vorgriff soll uns den Zugang schaf­fen zur Andersartigkeit der Geschichten vor unserer Neuzeit, ohne dabei deren Ähnlichkeit unter sich und mit unserer Geschichte aufgeben zu müssen. Erst unter derartigen theoretischen Prämis­sen können wir über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Aussagen machen, erst dann können wir so fragliche Begriffe wie Beschleunigung, Fortschritt oder eben Geschichte selber in die Wissenschaft einbringen.

Schließlich ist die Frage nach den Zeitstrukturen formal genug, um mögliche geschichtliche Ablaufformen und Ablaufbeschrei­bungen unbeschadet ihrer ehedem mythischen oder theologischen Deutung herausschälen zu können. Dabei wird sich zeigen, daß viele Bereiche, die wir heute als eine genuin geschichtliche Thema­tik definieren, früher unter anderen Voraussetzungen gesehen wor­den sind, ohne daß dabei das Erkenntnisobjekt einer ›Geschichte‹ freigelegt worden wäre.

Im Durchgang durch ›die Geschichte‹ werden die Geschichten neu entdeckt – die früheren und die von heute. Wie Humboldt sagte: »Der Geschichtschreiber, der dieses Namens würdig ist, muß jede Begebenheit als Theil eines Ganzen, oder, was dasselbe ist, an jeder die Form der Geschichte überhaupt darstellen.«[20] Die Form der Geschichte überhaupt, und damit der durch sie sichtbar zu machenden Geschichten, ist deren spezifische Zeitlichkeit.

Vortrag gehalten am 4. April 1970 auf dem Deutschen Historikertag in Köln. Zuerst veröffentlicht in: Historische Zeitschrift 212 (1970), S. 1-18.

Quelle: Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Dutt, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2010, S. 32-51.


[1] [Karl Heussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932.]

[2] Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken. Aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt am Main 1968, S. 302.

[3] [Vgl. George Kubler, The Shape of Time: Remarks on the History of Things, New Haven und London 1962, S. 54 f.]

[4] [Vgl. zum Folgenden Reinhart Koselleck, Art. »Geschichte, Historie. V. Die Her­ausbildung des modernen Geschichtsbegriffs«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Le­xikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 647-691.]

[5] Johann Theodor Jablonski, Allgemeines Lexikon der Künste und Wissenschaf­ten, 2. Aufl. Königsberg und Leipzig 1748, Sp. 386.

[6] [Vgl. Jean Bodin, Methodus ac facilem historiarum cognitionem, Paris 1566.]

[7] [Vgl. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 9 Bde., hg. v. Fritz Wiegard, Frankfurt am Main 1848/1949, Bd. 2, S. 1292.]

[8] [Vgl. Heinrich von Treitschke, »Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage«, in: Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. v. Walter Boehlich, Frankfurt am Main 1965, S. 86.]

[9] Zit. nach Klaus Lankheit, Art. »Malerei und Plastik«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, 3. Aufl. Tübingen 1960, Sp. 687.

[10] Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen, Bd. I/2, München 1965, S. 541.

[11] Ernst Engelberg, »Die Historiker müssen helfen, die Welt zu verändern«, in: Einheit, Sonderheft (9/1962), S. 22.

[12] [Vgl. Karl Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965.]

[13] [Vgl. Lucien Sebag, Marxismus und Strukturalismus. Aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt am Main 1967. S. 227 ff.]

[14] Vgl. beispielsweise Heinrich Wolf, Angewandte Geschichte. Eine Erziehung zum politischen Denken und Wollen, 7. Aufl. Leipzig 1913 (10. Aufl. 1920), und die darauf aufbauende Angewandte Rassenkunde. Weltgeschich­te auf biologi­scher Grundlage, Leipzig 1927.

[15] G.W.F. Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Hamburg 1959, S. 133. Hegel, der hier die Ambivalenz des damals modernen Begriffs von Geschichte reflektiert, hat im gleichen Zusammenhang (S. 134) auch schon die Kritik am Historismus vorweggenommen: »Wenn die historische Tendenz in einem Zeitalter überwiegend ist, dann kann man annehmen, daß der Geist in Verzweiflung geraten, gestorben ist …«

[16] [Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: ders., Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 12: Schriften zur Anthropo­logie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt am Main 1968, S. 503.]

[17] Vgl. dazu Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 296 f.

[18] De doctr. christ. II, XXVIII, S. 44.

[19] Sind die geschilderten Gesichtspunkte, die die Theoriebedürftigkeit unserer Wissenschaft beleuchten, einmal als Postulate zugegeben, so ergeben sich daraus praktische Konsequenzen, von denen zwei genannt seien:
Erstens ist die bestehende Lehrstuhlgliederung und sind die daraus resultieren­den Lehrpläne an Universität und Schule veraltet. Es ist nicht einzusehen, wie­so der chronologische Bandwurm, der seit Cellarius nach der mythologischen Triade Altertum, Mittelalter und Neuzeit zergliedert wird, ein sinnvolles Regu­lativ für Forschung und Lehre sein soll. Es gibt nur eine allgemeine Geschichts­wissenschaft, die sich nur nach Fragestellungen gliedern lässt. Daß sich dabei die Fragen nicht bloß auf Zeitabschnitte, sondern ebenso auf Zeitschichten aus­richten sollten, ist ein Postulat, das unmittelbare Folgen für die so viel bemühte Didaktik haben wird.
Zweitens folgt aus den zu erarbeitenden theoretischen Prämissen eine klare Zuordnung zwischen den vielerlei Sozialwissenschaften und den Geisteswissen­schaften. Für die Praxis heißt das, daß wir in Anbetracht der vor uns stehenden Schwierigkeiten Historie nur als Ein Fach studieren können, daß die Nebenfä­cher umzuwandeln sind in Supplementär- und Komplementärfächer für unsere geschichtlichen Fragestellungen. Solche die Historie ergänzenden Fächer könn­ten gleichwohl in der Schule gelehrt werden. Der Gewinner einer solchen Orga­nisation wären wir alle, an der Universität, in der Schule – und damit die Histo­rie als Wissenschaft.

[20] Wilhelm von Humboldt, »Über die Aufgabe des Geschichtschreibers« (1821), in: ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1960, S. 590.

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