Claus Westermann, Das doppelte Gesicht Ijobs (1983): „Der fromme, demüti­ge, sich in Gottes Willen Fügende und der ver­zweifelt gegen Gott sich Auflehnende – das ist derselbe Mensch, für den es beide Möglichkeiten gibt, die eine davon am äußersten Rand. Es ist dabei zu bedenken: Im Dialogteil ist es nicht das Leiden als solches, gegen das sich Ijob auflehnt. Es ist vielmehr die Behauptung der Freunde, die in diesem Leiden und in der Sprache dieses Leidens den Beweis sieht, dass Ijob ein Frevler, ein Gottloser ist; auch die Behauptung, der Schwere des Leidens müsse die Schwere seines Vergehens entsprechen, für das Gott ihn be­straft. Und Gott scheint, wenn er Ijob seinem Leid und damit dem Weg in den Tod schweigend überlässt, auf der Seite der Freunde zu stehen. Aber dann antwortet Gott. Und in seiner Ant­wort tritt er auf Ijobs Seite, tritt er für ihn ein. Gott wendet sich Ijob, der ihn so schwer ange­klagt hatte, wieder zu.“

Das doppelte Gesicht Ijobs

Von Claus Westermann

Jedem Leser des Ijobbuches muß der Gegensatz auffallen zwischen dem Verhalten Ijobs gegen­über Gott in der Prosaerzählung, die das Ijobdrama rahmt, und in diesem Drama selbst. In der Erzählung ist er der geduldige, demütige, sich in sein von Gott gesandtes Schicksal fügende From­me, im Drama klagt er Gott an, rebelliert gegen Gott, lehnt sich gegen das von Gott gesandte Schicksal auf.

Die gewöhnliche Erklärung für diesen Wider­spruch ist eine literarische: Der Rahmen sei eine alte Volkserzählung, das Ijobdrama sei davon unabhängig, selbständig und ursprünglich ohne den Rahmen entstanden. Gemeinsam sei beiden nur der Name der Hauptperson Ijob. Mit der Unterscheidung von zwei Autoren ist aber das Problem nicht wirklich gelöst, es ist nur verscho­ben. Vorausgesetzt, daß diese These einer litera­rischen Scheidung im Recht ist, wer ist dann verantwortlich für die Zusammenfügung der Er­zählung mit dem Drama? Ist es ein Redaktor, dann muß er diese Zusammenfügung auch theo­logisch für möglich gehalten haben. Wahrschein­lich ist, daß der Dichter des Ijobdramas selbst dieses in den Rahmen der Erzählung gefügt hat; besonders der Schluß legt das nahe. Dann hat der Dichter des Ijobdramas den Gegensatz gesehen und gewollt.

Um zu verstehen, was der Ijobdichter mit diesem Kontrast sagen will, ist es unerläßlich, die beiden kontrastierenden Darstellungen der Got­tesbeziehung Ijobs aus dem Zusammenhang zu verstehen, dem sie hier und dort angehören. Mit diesem Zusammenhang wird sich der erste Teil des Aufsatzes beschäftigen, mit dem, was sich aus ihm für den Gegensatz ergibt, der zweite.

I. Teil: Das Ijobdrama und die Erzählung von Ijob

1. Das Ijobdrama ist eine Dichtung von hohem Rang. Damit ist auch gesagt, daß hinter ihm die Konzeption eines Dichters steht; die Teile des Ijobbuches sind als Glieder dieser ganzheitlichen und einheitlichen Konzeption zu verstehen. (Zum folgenden vergleiche C. Westermann, Der Aufbau des Buches Ijob, Stuttgart 31978, mit einer Übersicht über die neuere Ijobforschung.) Innerhalb des Rahmens (Kap. 1-2; 42, 7-17) hat das Ijobdrama die Form eines Dialogs, zunächst zwischen Ijob und seinen Freunden Kap. 3-31, dann zwischen Ijob und Gott Kap. 31-42 (ohne die Elihureden 32-37). Der erste Teil ist von der Klage Ijobs eingefaßt, Kap. 3 und 29-31. Auf die Klage Kap. 3 sollte eine Tröstung folgen; die Freunde Ijobs kommen, um ihn zu trösten. Aber das Trösten wandelt sich zu einem Streitge­spräch, die Freunde tadeln Ijob und machen ihm Vorwürfe wegen seiner Klage. Sie bringen Argu­mente dafür vor, daß sein Leiden durch seine Sünde begründet sein muß. Ijob aber geht auf ihre Argumente nicht ein, er stellt ihnen vielmehr seine Klage entgegen, die durch diese Argumente nicht gestillt wird (in den drei Redegängen Kap. 4-27). Die Lehre prallt an der Realität des Schmerzes ab. Kap. 28 ist, ähnlich wie der Chor in den antiken Dramen, ein Wort zum Abgang der Freunde, das ihnen die Weisheit, die sie vortragen wollten, bestreitet. Nach dem ergeb­nislosen Abbrechen des Streitgespräches kehrt die Klage wieder (Kap. 29-31), endet jetzt aber in einer Herausforderung Gottes (31) und leitet damit den zweiten Teil ein. Gott antwortet auf sie in der Gottesrede (38-42), und Ijob beugt sich vor Gott (42).

So gesehen entspricht der Dialogteil des Ijobbuches tatsächlich einem Drama. Es wird ein Geschehen zwischen drei Partnern dargestellt: Ijob – die Freunde – Gott. Der Dichter stellt eine in sich geschlossene Handlung dar (3-42), die er in den Rahmen einer Erzählung (1-2; 42) stellt. Das beherrschende Element in diesem Gesche­hen ist die Klage; mit ihr setzt der Dia­logteil ein, Kap. 3, mit ihr schließt er ab (Kap. 29-31); sie verbindet das Streitgespräch zwischen Ijob und den Freunden mit dem Appell an Gott (31), der aus der Klage erwächst. Ijob hatte an das Mitge­fühl seiner Freunde appelliert, sie haben es ihm versagt. Nun appelliert er an die letzte Instanz. Darüber hinaus aber beginnt der Appell an Gott schon in der Eingangsklage Ijobs in Kap. 3, zu der als ein Glied der Klage die Anklage Gottes gehört, die sich durch alle Klagen Ijobs zieht. Dabei geht die Sprache der Leid-Klage in die Sprache des Rechts, der Rechts-Klage über, weil Gott zugleich der das Leid Ijobs Verursachende und der Richter in dem unentschiedenen Streit zwischen Ijob und den Freunden ist. Die Ant­wort Gottes auf die Klage und den Appell Ijobs ist in der Rede Kap. 38-42 verschlüsselt. So viel aber wird aus dem Schluß klar: Ijob weiß nun, Gott hat ihn gehört, sein Appell ist von Gott angenommen worden. Damit ist seine Klage gestillt.

2. Die Erzählung von dem frommen Ijob. Die Einfügung des Ijobdramas in eine Erzählung von dem frommen Ijob hat für das Drama eine we­sentliche Bedeutung. Das wäre nicht der Fall, wenn (wie das nach wie vor viele Ausleger sagen) das Ijobbuch ein Problem, also eine Denkfrage, behandeln will, ein Problem, das am «Fall» des Mannes Ijob dargestellt wird. Wäre die Behand­lung eines Problems vom Dichter beabsichtigt, dann wäre die Rahmenerzählung eher störend, weshalb sie auch von vielen Auslegern dem Ijob- dichter abgesprochen wird. Die Rahmenerzäh­lung aber bedeutet, daß der Dichter nicht von einer von ihm erfundenen Figur spricht, sondern von einem Mann Ijob, von einem wirklichen, lebendigen Menschen mit einem bestimmten Na­men und an einem bestimmten Ort wohnend, ebenso wie seine drei Freunde Männer sind, die mit diesen Namen an diesem Ort wirklich gelebt haben.

Das heißt nun nicht, daß Ijob und seine Freun­de ‹historische› Gestalten in unserem Sinn sind. Die Darstellungsweise von Geschehenem in der Rahmenerzählung ist vorgeschichtlich wie die der Vätergeschichten, deren Typ sie entspricht. Das Geschehen ist in die vorgeschichtliche Zeit, die Zeit der Väter versetzt, außerhalb Israels. Ijob als ein frommer Mann in der Vorzeit wird auch an anderen Stellen im AT erwähnt (Ez 14,14.20).

Der Dichter macht für seine Leser deutlich, daß die von ihm aus der Tradition übernommene Erzählung einmal selbständig lebte, selbständig tradiert wurde, wie die Vätergeschichten in Gen 12-36 auch. Damit aber gibt der Ijobdichter auch zu erkennen: Diese Erzählung hatte einmal ihr eigenes Wort von Ijob zu sagen, sie soll dieses eigene Wort in der Zusammenfügung mit dem Ijobdrama behalten, auch wenn sie nicht in allem mit ihm übereinstimmt. Daß beide nicht in allem übereinstimmen sollen, zeigt der Dichter seinen Hörern und Lesern drastisch in dem Fehlen des «Satan» in Kap. 3-42, der in Kap. 1-2 eine wichtige Rolle spielt. Er sprach zu Hörern und Lesern, die dieses Nicht-Übereinstimmen ver­standen.

Für die Auslegung ist damit der Weg gewiesen. Was von Ijob und seinem Gottesverhältnis im Prolog und Epilog gesagt wird, ist zunächst je aus seinem Zusammenhang zu erklären.

II. Teil: Ijob, der Demütige, Ijob der Rebell

1. Ijob in der Erzählung. Die Erzählung gehört in den weiteren Zusammenhang der Vätererzäh­lungen. Fragen wir hier nach einer Ijob 1-2 ähnlichen Erzählung, bietet sich Gen 22 an. Hier wie dort geht es um die Prüfung eines Mannes durch Gott, um eine Bewährung der Frömmig­keit. Die Unterschiede zwar sind beträchtlich, aber das Gemeinsame ist unverkennbar. Die Struktur der Erzählung in den großen Zügen ist die gleiche:

  1. Gott will seinen Diener prüfen;
  2. die Prüfung vollzieht sich in einem schwe­ren Leid;
  3. die Prüfung besteht darin, ob der von dem Leid Betroffene an Gott bzw. an seinem Wort festhält;
  4. der Geprüfte hält an Gott fest, Gott wendet das Leid.

Als gemeinsam kommt hinzu, daß sich das Geschehen hier wie dort im familiären Bereich abspielt. Traditionsgeschichtlich gehört Gen 22 als theologische Erzählung in ein relativ spätes Stadium der Entwicklung der Vätergeschichten, Ijob 1-2 wiederum gehört einem späteren Sta­dium als Gen 22 an. Neben anderen Zügen zeigt das die starke Tendenz, Ijob als einen vorbildlich Frommen zu zeichnen. Dieser Zug ist aus der Traditionsgeschichte der Erzählung zu verste­hen; in Gen 22 ist er nicht so ausgeprägt, obwohl er auch hier schon vorhanden ist. Wahrscheinlich hatte die Erzählung von Ijob eine Vorgeschichte, in der dieser Zug noch nicht so stark entwickelt war. Ursprünglich wurde sie nicht erzählt, um ein Vorbild mustergültiger Demut und Gotter­gebenheit zu zeichnen, sondern sie wollte von einem Mann erzählen, den Gott durch schweres Leid prüfte und der diese Prüfung bestand. Keine dieser Erzählungen darf so ausgelegt werden, als sei mit der einen Erzählung alles über diesen Mann gesagt.

Schon deswegen hat für den Dichter des Ijobbuches ein unüberwindbarer Widerspruch hier nicht bestanden. Gewiß war es auch für ihn ein Gegensatz, aber doch einer, wie er innerhalb eines Menschenlebens möglich ist. Er wollte mit der Verfügung der Erzählung sagen, daß Ijob ein frommer, gottesfürchtiger Mann war. Ohne die­sen Prolog könnte das Ijobdrama einen falschen oder verzerrten Eindruck von Ijob vermitteln. Gerade weil er sich dessen bewußt war, wie kühn und wie einseitig das war, was er von dem sich auflehnenden Ijob in seinem Drama sagte, setzte er als Gegengewicht die Erzählung von dem frommen Ijob voran. Die dadurch bewirkte Spannung ist beabsichtigt als eine Herausforde­rung für seine Hörer.

Was sagt die Erzählung von dem Gottesver­hältnis Ijobs? «Er war fromm und gottesfürchtig, dem Bösen feind» 1,4-5; vgl. Kap. 31. Seinen Reichtum verstand er als Gabe des Segens Got­tes. Er wachte fürbittend über den Festen seiner Söhne (1,4-5). Wie er von den Katastrophen hört, in denen seine Söhne umkommen und er seine Habe verliert, da ist er in seiner Trauer und Verzweiflung fähig, zu sprechen:

«Nackt bin ich aus meiner Mutter Schoß ge­kommen,
und nackt werde ich wieder dahingehen.
Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s ge­nommen;
der Name des Herrn sei gelobt!» (1,21)

Dann trifft ihn noch der schwere Schlag einer Krankheit, vielleicht der Aussatz, und seine Frau sagt in tiefer Verzweiflung zu ihm: «Fluche Gott und stirb!» Aber Ijob entgegnet ihr: «Das Gute nehmen wir von Gott, und das Böse sollten wir nicht annehmen?» Der Erzähler fügt nach bei­den Abschnitten hinzu: «In alledem versündigte sich Ijob nicht» (2,9-10).

Gott hat Ijob, zu dem er von Anfang bis zum Ende steht, mit zwei schweren Heimsuchungen geprüft, und Ijob hat unter der Wucht dieser beiden schweren Schläge an ihm festgehalten. Am Schluß wird hinzugefügt, daß Gott ihn in allem wieder herstellt. Macht man sich nun klar, daß dies einmal eine selbständige Erzählung war, dann verliert das Verhalten des Mannes in dieser Erzählung viel von dem Außerordentlichen, das man gewöhnlich in ihr sieht. Dieses Übermäßige erhält sie erst in der Zusammenfügung mit dem Dialogteil, durch den die einmal selbständige Erzählung gewissermaßen zum ersten Akt des Ijobdramas wird. Dadurch, daß die Klage Ijobs nach dem kurzen Zwischenstück des Besuches der Freunde (2,11-13) unmittelbar auf die Worte Ijobs in Kap. 2 folgt, entstand der scharfe Kon­trast, der den Hörer fragen läßt: Kann das dersel­be Ijob sein?

Ein kleiner Hinweis in der Erzählung kann das verdeutlichen. Ijob weist seine Frau, die ihn auffordert «Fluche Gott und stirb!» mit den Worten zurück: «Wie eine der Törinnen redet, so redest du!». Mit diesen Worten sagt Ijob: Es wäre Torheit, jetzt Gott abzusagen. Er ist über­zeugt davon, daß es das Richtige, das Gegebene ist, angesichts der schweren Schläge, die ihn getroffen haben, an Gott festzuhalten. Für ihn ist das nicht das Besondere, Außerordentliche, Be­wunderungswürdige, es ist das Normale. Der Ijobdichter konnte die Erzählung seinem Ijob­drama vorfügen, weil er davon überzeugt war, daß die beiden Haltungen zu Gott durchaus einem und demselben Menschen möglich waren.

2. Ijob im Ijobdrama. Wir sahen oben: Be­stimmend für den Dialogteil des Ijobbuches ist die Klage; der Sprachform der Klage gehören die Sätze und Passagen an, in denen sich Ijob gegen Gott wendet. Die Klage ist im Alten Testament, aber nicht nur in ihm, die Sprache des Leides. Die Reaktion des Menschen auf Leid, Schmerz, Ent­täuschung, Erniedrigung und Beleidigung hat sich in ihr eine eigene Sprachform geschaffen. Sie hat eine vielfältige, reiche Ausprägung in den Klagepsalmen gefunden.

Hier muß zunächst auf eine Sprachschwierig­keit aufmerksam gemacht werden. In unseren europäischen Sprachen kommt die Klage, so wie sie die Bibel versteht, nicht vor. Weil in den christlichen Kirchen die Klage aus dem Gebet ausschied, riß auch die Sprachtradition ab, in der die Klage ein Bestandteil des Gebetes, des Rufens zu Gott ist. An die Stelle der polaren Entspre­chung von Klage und Lob trat die von Bitte und Dank. Da jetzt der ‹Sitz im Leben» des ‹ Klagens» die Totenklage wurde, konnte Leidklage und Totenklage mit dem gleichen Wort bezeichnet werden, obwohl sie im Ursprung grundverschie­dene Vorgänge sind mit verschiedenen Bezeich­nungen. Die Leidklage, aus dem Gebet ausge­schieden, erhielt eine negative Wertung: «Lerne leiden, ohne zu klagen.» Das aus dem Gebet gelöste Klagen verkam zum Jammern», das als verächtlich gilt. Diese sprachliche Grenze muß auf Schritt und Tritt beachtet werden, wenn wir die Klage als ein Rufen zu Gott im Alten Testa­ment verstehen wollen.

Sehen wir die Klage von vornherein, wie uns das instinktiv nahe liegt, mit einem negativen Vorzeichen, können wir nie verstehen, was da­mit im Alten Testament gemeint ist. Andererseits scheint uns im bürgerlichen Leben die Klage vor Gericht als etwas durchaus Positives, Notwendi­ges. Wo Unrecht geschehen ist, darf und soll Anklage erhoben werden. Wo einer leiden muß, ohne daß er selbst dieses Leid verschuldet hat, hat er das Recht zu klagen. Im Alten Testament wird die Klage vor Gericht und die Klage vor Gott als der gleiche Vorgang, nur vor verschiede­nen Instanzen, gesehen. Auch die Entscheidung vor Gericht geschieht im Namen Gottes. Für den modernen Menschen hat beides fast nichts mehr miteinander zu tun. Das ist für das Ijobbuch insofern wichtig, als in Kap. 12-14 die an Gott gerichtete Klage unmerklich in die Sprache des Rechts übergeht.

Neuerdings scheint sich hier ein Wandel anzu­bahnen. Ein Impuls dafür geht von den jungen Kirchen aus, in denen vielfach wieder die Klage ihren Ort im Gebet erhält. Unter dem Eindruck der großen Katastrophen wandelt sich hier auch in der abendländischen Welt etwas.

Die Klage ist im Alten Testament ein Vorgang, der zum Dasein gehört, weil Schmerz und Leid zu ihm gehören. Sie hat ihr eigenes Leben; es ist eine in einer langen Tradition geprägte Sprach­form, der eine feste Struktur eignet in den drei Erstreckungen als Ich-Klage, Feindklage und Gott-Klage (vgl. Struktur und Geschichte der Klage im Alten Testament: C. Westermann, Lob und Klage in den Psalmen, 51977, S. 125-164). Diese Dreigliederung der Klage ist in ihrem Wesen als Sprache des Leides begründet; wo immer Leid sich ausspricht, sind in irgendeiner Weise diese drei Aspekte dabei; das ist auch in der Psychologie und in der Psychotherapie be­kannt, wo aber an die Stelle der Gott-Klage die Sinnfrage tritt. Die Klage als Sprache des Leiden­den ist ein Privileg des Leidenden, das keinem anderen zukommt, 7,11. Je tiefer ein Mensch in die Abgründe des Leides, der Schmerzen sinkt, desto gefährdeter darf sein Sich-Aussprechen gegenüber Gott werden, es spiegelt ja nur die Tiefe seines Leides.

Sieht man davon ab, daß aus diesen Klagen die Qual eines Menschen spricht, macht man sie zu abstrakten Aussagen über Gott allgemeinen und zeitlosen Charakters, hat man sie von Grund auf mißverstanden. Eben das tun die Freunde, die eine zeitlose, abstrakte Lehre von Gott vertreten. Nach dieser Lehre müssen die Aussagen über Gott, die sie aus Ijobs Klagen hören, frevelhaft sein. Sie müssen ihn verurteilen.

Keinen der Sätze des Gott sein Leid klagenden Ijob kann man aus ihrem Zusammenhang lösen, ohne damit ihren Sinn grundlegend zu verän­dern. Die Gottklage oder Anklage Gottes (= an Gott gerichtete Klage) ist einer dieser Bestandtei­le. Sie zieht sich durch die Reden Ijobs von der Anfangs- bis zur Schlußklage in einem klar er­kennbaren Gefälle. In der Eingangsklage Kap. 3 ist sie nur angedeutet und verhalten. Am Anfang verflucht Ijob den Tag seiner Geburt: «Und Ijob hob an und sagte: Es vergehe der Tag, an dem ich geboren wurde, und die Nacht, die sagte: Ein Knabe ist empfangen! …». Schon dieser Anfang (3,1.2.10) hat ein Gefälle zur Anklage Gottes hin; denn hinter dem Tag der Geburt steht Gott, der ihn zu diesem Leben geboren werden ließ. Die Frage, warum er überhaupt geboren wurde, kann sich nur an Gott richten (3,20-23): «War­um gab er Licht dem Geplagten und Leben dem in der Seele Verbitterten? …» Ijob redet hier Gott noch nicht an; aber hier ist schon ausgesprochen, daß er in seinem Leid das Handeln Gottes an ihm nicht mehr verstehen kann.

Im ersten Redegang Kap. 4-14 wird die an (oder gegen) Gott gerichtete Klage in zwei Stufen entfaltet. In den ersten beiden Reden Ijobs Kap. 6-7 und 9-10 entspricht sie ganz der überliefer­ten Gott-Klage in den Psalmen (zu jedem Motiv finden sich Parallelen in den Psalmen), ist aber der Form der Dichtung entsprechend breiter entfaltet. Am Anfang von Kap. 6 entschuldigt sich Ijob gegenüber seinen Freunden wegen sei­ner sie schockierenden Sprache: «Die Pfeile des Mächtigen sind in mir, deren Gift trinkt mein Geist, die Schrecken Gottes verstören mich» (6,4). Diese indirekte Anklage Gottes wird in 7,11-21 entfaltet. Dieser Teil wird in V. 11 so eingeleitet, als beginne hier erst die Klage; der Dichter weist dadurch darauf hin, daß die Ankla­ge Gottes die eigentliche Klage ist: «Darum will ich … reden in der Not meines Herzens, will klagen im bitteren Leid meiner Seele.» Hier beginnt die Klage in direkter Anrede V. 12-21: V.12: «Bin ich denn das Meer oder ein Meerun­geheuer, daß du eine Wache gegen mich auf­stellst …?», V.16b: «Laß ab von mir! …», V.20: «Warum hast du mich dir zur Zielscheibe ge­macht, warum bin ich dir zur Last geworden? …»

In der zweiten Rede Ijobs Kap. 9-10 ist die Anklage Gottes beherrschend. In dieser Rede ist Kap. 9 von Gott als Weltschöpfer, Kap. 10 von Gott als dem Menschenschöpfer bestimmt. Am Anfang seiner Rede stimmt Ijob Bildad zu, der als Argument gegen ihn angeführt hatte, vor Gott sei niemand gerecht. Darauf sagt Ijob: Ja, ein Mensch kann vor Gott gar nicht gerecht sein (V. 2-3.14-16); er ist ja der Weltschöpfer: «Wie könnte ein Mensch sich gegen ihn auflehnen!» (V. 4). In dem Lob des Schöpfers der Welt V. 4-13 aber kehrt Ijob das zerstörende Wirken des Herrn der Schöpfung hervor V. 5-7.12-13: V. 12: «Er reißt weg, – wer kann ihn hindern? –». Er zieht daraus die Folgerung für sich: V. 14-15: «Wie könnte ich ihm antworten! Ich bekäme keine Antwort, wäre ich auch im Recht!» Hier­auf folgt die Anklage Gottes V. 17-24.30-35: V.17: «Er, der im Sturm nach mir schnappt …», V. 19: «Geht es um die Kraft des Starken, – hier bin ich! Geht es aber um das Recht, wer kann mich vorladen!» Das Folgende ruft Ijob in der bitteren Ohnmacht seines Leides aus 9,21-31: «Ich bin schuldlos! um mein Leben kümmere ich mich nicht! Den Schuldigen wie den Schuldlosen vernichtet er …».

Kap. 10 ist von dem Motiv der Menschen­schöpfung bestimmt; Ijob fragt Gott: Warum zerstörst du das, was du selbst geschaffen hast? 10,3: «Was hast du davon, daß du bedrückst, V. 4: daß du nach meiner Sünde suchst …, ob­wohl du weißt, daß ich nicht schuldig bin?» Die Verse 8-17 entfalten diesen Widerspruch, V. 18-19 kehren wieder zu V. 2-3 zurück und stellen die Frage, warum Gott ihn geboren wer­den ließ: V. 18: «Warum zogst du mich aus dem Mutterleib …?» Die Anklage in Kap. 9 und 10 wirft Gott als dem Weltschöpfer vor, er sei als Herrscher, der alle Macht in Händen hat, ein Tyrann, der ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht vernichtet. Sie wirft Gott als Schöpfer der Menschen vor, daß er sinnlos wieder zerstö­re, was er selbst geschaffen hat. Das erscheint als Sprache eines gottesfürchtigen Mannes ungeheu­erlich; man kann die Freunde verstehen, wenn sie Ijob als Frevler verurteilen. Man kann diese Sprache aber als die eines Leidenden, eines Ver­zweifelten verstehen; man muß dabei beachten, Ijob zieht nicht den Schluß, Gott könne nicht der Schöpfer sein. Er hält an Gott als dem Schöpfer der Welt und des Menschen fest, auch wenn er ihn nicht mehr verstehen kann.

In der dritten Rede Kap. 12-14 wendet sich Ijob von seinen Freunden ab und allein Gott zu. In dieser Rede geht Ijob in seiner gegen Gott gerichteten Klage zum formellen Rechtsstreit über, zu einer Vorforderung Gottes, begründet in der Frage nach dem Rechtsgrund für sein Handeln an ihm. Hierbei deckt sich die Warum-Frage der Anklage Gottes mit der Frage nach dem Rechtsgrund als Teil einer Gerichtsverhand­lung. Diese Herausforderung Gottes kommt zu ihrem Höhepunkt in 13,23-27 wo die verschie­denen Anklagepunkte konzentriert zusammengefaßt sind.

Die Vorforderung Gottes ist in Kap. 12 einge­leitet durch das Motiv: Gott als der Herr der Geschichte. In den Lobpsalmen wie z. B. Ps 33 wird das Lob der Majestät Gottes so entfaltet: Er ist der Schöpfer und Herr seiner Schöpfung, wie in Ijob 9-10, er ist der Herr der Geschichte, wie in Ijob 12. Diese Entsprechung ist ein sicheres Zeichen dafür, daß nicht nur die Motive, sondern auch die Strukturen der Psalmen hier zugrunde liegen. Die Entfaltung des Motivs: Gott ist Herr der Geschichte in 12,13-25 ist eine großartige Weiterbildung des Psalmmotivs, die aber das Unbegreifliche in Gottes Geschichtshandeln hervorkehrt: V. 13: «Bei ihm ist Weisheit und Kraft, …, V. 14: Siehe: er reißt ein, und es wird nicht aufgebaut, …, V. 16: Bei ihm ist Kraft und Rat, sein ist, der irrt und irreführt…,» V. 23: «Der Völker erhebt und sie vernichtet, der Na­tionen ausbreitet und sie stürzt.» In 13,1ff. wendet sich Ijob von seinen Freunden ab und allein Gott zu; er leitet den Rechtsstreit ein (V. 17-19) und fragt Gott nach dem Rechtsgrund seines Tuns an ihm: 13,3: «Doch ich möchte zu dem Mächtigen reden, und mit Gott zu rechten begehr ich!, V. 18: Ich lege meinen Fall dar, ich weiß, daß ich im Recht bin!…» Die Warum- Frage der Anklage Gottes aus den Psalmen ist hier in der Weise radikalisiert, daß sie zu einer direkt an Gott gerichteten Frage nach dem Rechtsgrund seines Handelns an einem leiden­den Menschen wird. Ein Mensch will Recht von Gott! Aber diese Vorforderung Gottes steht auf dem Hintergrund des Leidens; vom Todes­schicksal des Menschen redet Kap. 14. Aus dieser Klage erwächst der Wunsch, der das unbedingte Festhalten Ijobs an Gott trotz der Anklagen zeigt, 14,13-15: «Ach, daß du mich bärgest in der Unterwelt, mich verstecktest bis dein Zorn sich gewendet, einen Termin mir setztest und dann meiner gedächtest! Alle Tage meines Dien­stes wollte ich ausharren, bis meine Ablösung käme. Dann würdest du rufen und ich dir ant­worten, nach dem Werk deiner Hände sehntest du dich!» Damit ist die Anklage Gottes am Ende des ersten Redeganges (Kap. 4-14) zu Ende gekommen.

Im zweiten Redegang Kap. 15-21 (Reden Ijobs in 16-17 und 19) erhält die Anklage Gottes die Form der Feindklage 16,9-14; 19,7-12. Weil Gott auf seine Herausforderung nicht geantwor­tet hat, kann Ijob jetzt in Gott nur noch seinen Feind sehen, 16,9-14: V. 9: «Sein Zorn hat geris­sen und warf mich nieder…, V. 13: «Er hat mich als seine Zielscheibe aufgestellt, es umschwirren mich seine Geschosse.» Dazu 19,7-12: «Siehe: ich schreie Gewalt! und bekomme keine Ant­wort, ich rufe um Hilfe, und mir wird kein Recht …»

Im dritten Redegang (Kap. 22-23; 24-27 fragmentarisch) begegnet eine ausgeprägte An­klage Gottes nicht mehr, sie bildet aber noch ein Glied in der Schlußklage Kap. 30 in den Versen 20-23: «Ich schreie zu dir, aber du antwortest mir nicht, … Du wandelst dich mir zu einem Wüterich, befehdest mich mit deiner starken Hand… Ja, ich weiß: dem Tod willst du mich zukehren, dem Ort, wo alles Lebendige sich trifft.» In Kap. 31 beteuert Ijob noch einmal seine Unschuld in einem ‹Reinigungseid›. Da­nach läuft die Schlußklage auf die Herausforde­rung von Kap. 13,24-27 hinaus, jetzt aber abge­wandelt zu einem Wunsch 31,35-37: «O daß es einen gäbe, der auf mich hörte … Hier meine Unterschrift! Der Mächtige antworte mir! Möchten meine Augen seine Anklage sehen und die Anklageschrift, die mein Gegner geschrie­ben. Fürwahr! Ich wollte sie auf meine Schulter nehmen, wollte sie mir umbinden wie einen Kranz. Ich kann ihm jeden meiner Schritte kund­tun, wie ein Fürst würde ich ihm begegnen!» Wenn hier am Ende des Ijobdramas die Bitte um Zuwendung Gottes vom Ende des ersten Rede­ganges noch einmal aufgenommen wird, zu­gleich aber die Form einer Rechtsforderung hat, zeigt sich darin das Gefälle des Dialogteils auf diese Bitte hin: «O daß es einen gäbe, der auf mich hörte!» Dieser Abschluß macht deutlich, daß noch etwas aussteht. Antwortet Gott oder nicht? Weist Gott die gegen ihn gerichtete An­klage ab oder nimmt er sie an?

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Sicher ist: Ijob erhält eine Antwort von Gott in der Gottesrede Kap. 38-41. Die von manchen Auslegern geäußerte Annahme, die Kap. 38-41 seien ein nachträglicher Zusatz, ist abzuweisen. Der Aufbau des Ijobdramas erfordert eine Ant­wort oder deren Verweigerung. Möglich ist aber, daß in den langen Tierbeschreibungen Erweite­rungen vorliegen.

Die Antwort beginnt in 38,1-3 als Zurecht­weisung Ijobs, zurechtweisend sind auch die an Ijob gerichteten Fragen in Kap. 38-39. In dieser Zurechtweisung weist Gott die zur Feindklage gewandelte Anklage ab, indem er Ijob an seinen Ort zurückweist: den Ort des Geschöpfes gegen­über seinem Schöpfer. Aber die Antwort Gottes hat noch eine andere Seite. Sie spricht auch davon, wie der Schöpfer sich um seine Geschöpfe kümmert und für sie sorgt. Darin ist die Zuwen­dung Gottes auch zu seinem Geschöpf Ijob von fern angedeutet.

Unverschlüsselt aber ist es in dem abschließen­den Wort Ijobs ausgesprochen (42,5): «Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, nun aber hat dich mein Auge gesehen.» Und im Wort Gottes an die Freunde im Epilog wird es bestä­tigt: «Ihr habt nicht recht von mir geredet wie mein Knecht Ijob.» Damit ist gesagt, daß Gott Ijobs Flehen um Gottes Zuwendung – die Ankla­gen eingeschlossen – angenommen hat.

Der Dichter des Ijobbuches hat das innerhalb des Dialogteils noch auf eine andere, tiefsinnige Weise gezeigt. Zu den Bauelementen der Ijob- dichtung gehört nicht nur der Klageteil, sondern gehören alle Teile des Klagepsalms, so auch das Bekenntnis der Zuversicht. Von diesem Motiv macht er nur sparsam Gebrauch; es begegnet nur an zwei Stellen, in 16,19-21 und 19,25-27, das heißt aber in den beiden Reden Ijobs, in denen die Anklage Gottes die Gestalt der Feindklage annimmt. In diesen beiden Reden Ijobs steht das Vertrauensbekenntnis neben der schärfsten An­klage Gottes! In 16,19-21 ist es mit einem Verzweiflungsschrei verbunden: «O Erde, be­decke mein Blut nicht!», dem Schrei eines Men­schen, der unschuldig einem gewaltsamen Tod ins Auge sieht. Das Blut soll von der Erde schreien, wie Gen 4 das Blut Abels. Gott allein kann diesen Schrei hören: 16,20f.: «Zu Gott empor tränt mein Auge, daß er entscheide für einen Menschen (im Streit) mit Gott und zwi­schen einem Menschen und seinen Mitmen­schen.» Diese flehende Bitte aber ruht auf einer Gewißheit: V. 19: Auch jetzt, «siehe: im Himmel ist mein Zeuge und mein Bürge hoch droben auch jetzt!». Es muß jemanden geben, der sich gegen das scheinbar endgültige Urteil Gottes für ihn einsetzt, und das kann wiederum nur Gott sein! Hier spricht eine Zuversicht auf Gott gegen Gott.

In 19,25-27 steht das Bekenntnis der Zuver­sicht im gleichen Zusammenhang. Der Wunsch Ijobs 19,23f. entspricht dem in 16,18, und die Gewißheit ist die gleiche wie in 16,19: 19,25: «Ich aber weiß, mein Anwalt lebt, und ein Vertreter ersteht (mir) über dem Staub,.., V. 27: ja, ich werde ihn schauen mir zum Heil, meine Augen werden ihn sehen – nicht als Feind». Wenn Ijob angesichts seines Todes, dem er ent­gegengeht, doch noch auf Gott vertraut, kann das nur bedeuten, daß er das Eintreten Gottes für ihn trotz seines Todes doch noch erwartet. Wie das möglich ist, wird hier nicht gesagt; Ijob hält sich daran, daß das Unmögliche geschieht. In diesem Vertrauen auf Gott gegen Gott ist etwas, worin das Ijobdrama über sich hinaus weist.

In dem abschließenden Urteil, daß Ijob recht von Gott geredet habe, ist dies gemeint, daß er auch noch an diesem Gott festgehalten hat, als er empfand, Gott sei sein Feind geworden. Dann schließt dieses Urteil ein: Auch die Sprache der Verzweiflung eines Leidenden, der an Gottes Gerechtigkeit zweifelt, nimmt Gott an, wenn sie in diesem Abgrund von Verzweiflung an ihm festhält.

Darin liegt die Antwort auf die Frage nach dem doppelten Gesicht Ijobs. Der fromme, demüti­ge, sich in Gottes Willen Fügende und der ver­zweifelt gegen Gott sich Auflehnende – das ist derselbe Mensch, für den es beide Möglichkeiten gibt, die eine davon am äußersten Rand. Es ist dabei zu bedenken: Im Dialogteil ist es nicht das Leiden als solches, gegen das sich Ijob auflehnt. Es ist vielmehr die Behauptung der Freunde, die in diesem Leiden und in der Sprache dieses Leidens den Beweis sieht, daß Ijob ein Frevler, ein Gottloser ist; auch die Behauptung, der Schwere des Leidens müsse die Schwere seines Vergehens entsprechen, für das Gott ihn be­straft. Und Gott scheint, wenn er Ijob seinem Leid und damit dem Weg in den Tod schweigend überläßt, auf der Seite der Freunde zu stehen. Aber dann antwortet Gott. Und in seiner Ant­wort tritt er auf Ijobs Seite, tritt er für ihn ein. Gott wendet sich Ijob, der ihn so schwer ange­klagt hatte, wieder zu.

Man muß diese Anklage aber noch auf einer anderen Ebene hören, der Ebene, auf der der Dichter des Ijobdramas zu den Menschen seiner Zeit spricht. Es war die Zeit eines Umbruchs, dadurch bedingt, daß Israel als Staat nicht mehr bestand, das Königtum und der Tempel nicht mehr bestanden. Damit hatte die Selbstverständ­lichkeit aufgehört, mit der bis dahin Gott alles gelenkt, alles getragen und gesichert hatte. Daß Gott alles bewirkt, was geschieht, war in einem kleinen, übersehbaren und nach allen Seiten gesi­cherten Lebensraum eher zu glauben möglich. Nachdem aber diese sichernden Mauern gefallen waren, wie sollte man da noch alles Furchtbare, Unbegreifliche, Schreckliche, was in den nun weiten, ungesicherten Räumen geschah, auf Gott zurückführen, als Gottes Walten begreifen können?

Es ist diese neue Situation, die der Ijobdichter in der Entfaltung des Motivs «Gott der Herr der Geschichte» in 12, 13-25 darstellt: «Siehe, er reißt ein, und es wird nicht aufgebaut, er schließt einen Menschen ein, und es wird nicht geöffnet.» Man kann diesen Umbruch in etwa vergleichen mit dem, der für die christlichen Kirchen des Abendlandes damit eintrat, daß mit der Indu­strialisierung und insbesondere durch Presse, Rundfunk und Fernsehen jeder Christ zum Teil­nehmer an den Katastrophen und Greueltaten der ganzen Welt wurde. In dieser so gewandelten Lage sah eine Gruppe in Israel die einzige Mög­lichkeit des Überlebens der Frommen darin, die alte Auffassung, daß Gott die Guten segnet und die Bösen straft, in einer rigoros geltenden, unfehlbaren Vergeltungslehre zu zementieren. Diese Lehre vertreten die Freunde Ijobs. Deswe­gen mußte Ijob ein Frevler sein, deswegen muß­ten sie ihn verurteilen. Aber von den Freunden sagt der Schluß des Ijobbuches, daß sie nicht recht von Gott geredet haben. Der Dichter des Ijobbuches ist überzeugt, daß diese Lehre der neuen Wirklichkeit nicht mehr entspricht, und tritt für einen Gott der Welt ein, wie sie wirklich ist. In Kap. 21, der einzigen Rede, in der sich Ijob auf die Argumente der Freunde einläßt, weist er auf die Erfahrung, die jeder machen kann (21,29): Die von den Freunden unermüdlich proklamierte Weisheit, daß es den Frommen gut, den Frevlern aber schlecht gehen muß, stimmt nicht. So hält Ijob seinen Freunden entgegen: «Für Gott wollt ihr Verkehrtes reden und ihn mit Trug verteidigen?»

In der Ijob-Gestalt stellt der Dichter die über­schwere Anfechtung dar, die ein Bejahen dieses Gottes der Wirklichkeit angesichts des unver­ständlichen und unerklärlichen Leidens bedeu­ten kann. Angesichts dieser Anfechtung, wie sie Ijob durchzustehen hat, wird eine Theologie, die von dem unbegreiflichen Leid in der Welt nicht angefochten ist, fragwürdig.

Quelle; Concilium 19 (1983), S. 679-686.

Hier der Text als pdf.

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