Rudolf Bohrens Predigt über 1. Mose 32,23-32 – Göttlicher Überfall: „Man erkennt den Angreifer nicht, wenn man angefochten ist wie Jakob. Erst hinterher wird’s dem Jakob gesagt, dass der Gott seiner Väter mit ihm gekämpft hat. Im Augenblick des Kampfes ist nichts Göttliches an Gott. Gott begegnet dem Jakob als Nichtgott, als Gestalt, die aus dem Dunkel kommt.“

Göttlicher Überfall. Predigt über 1. Mose 32,23-32

Von Rudolf Bohren

Wir sind in dieser Geschichte drin, oder wir werden noch in sie hineinkommen. Als Ge­meinde Christi sind wir in diese Geschichte verwickelt. Lasst uns sehen, lasst mich erzählen; denn es ist eine schöne Geschichte.

Jakob, wir wollen’s nicht beschönigen, ist ein Erbschleicher sondergleichen, ein regelrechter Schuft. Wäre er ein Dossenheimer, wir wollten nichts mit ihm zu tun haben. Und doch haben wir mit ihm zu tun. – Nein, ein Vorbild ist er gerade nicht, den seine Eltern den „Fersenhal­ter“ nennen. So heißt der Name „Jakob“ zu deutsch. Schon bei seiner Geburt hatte er nach der Ferse des Zwillingsbruders gegriffen.

Im Heranwachsen greift er nach mehr. Er nutzt die Müdigkeit des Bruders, er presst dem Hungrigen mit Linsen das Erstgeburtsrecht ab. Ohne Respekt vor der Erblindung des Vaters erluchst er von ihm den Segen, der dem Esau gelten sollte. Da wird es Zeit zu verduften – Der „Fersenhalter“ flieht zu Laban, dem Bruder der Mutter. An ihm findet Jakob seinen Meister; denn Laban ist seinerseits ein Gauner, lässt den hergelaufenen Neffen sieben Jahre dienen um Rahel, die Schöne. – Unser Held muss nicht mehr ganz nüchtern gewesen sein, als man dem Jakob die Braut ins Hochzeitszelt führte; denn am anderen Morgen erst sieht er sich nicht mit der Rahel verheiratet, sondern mit Lea, einer wohl recht unförmigen Person. „Lea hatte matte Augen, Rahel aber war schön von Gestalt und schön von Angesicht.“ Jakob dient weitere sie­ben Jahre. Dann will er gehen. Aber Laban hat gemerkt, was mit seinem Schwiegersohn los ist. Er will ihn halten.

Mit einem neuen Arbeitsvertrag wird der „Fersenhalter“ nun seinen Schwiegervater ganz schön rupfen. Trickreich manipuliert er die Schafzucht Labans, so dass er, Jakob, immer die stärkeren Tiere bekommt und über die Massen reich wird, „so dass er viel Vieh, Mägde und Knechte, Kamele und Esel hatte.“

In unserer Geschichte ist Jakob unterwegs, auf dem Rückweg in die Heimat. Vorsichtiger­weise erkundigt er sich nach dem geprellten Bruder. Der rückt ihm mit vier Hundertschaften entgegen. Pfiffig und ängstlich lässt er dem Esau Herden als Geschenk entgegenziehen und trennt seinen Viehbestand, seine Mägde und Knechte in zwei Lager, dann wird ihm auf alle Fälle etwas übrig bleiben. In der Angst betet sogar ein Jakob.

Und dann kommt die Nacht, da führt er die Frauen und Sklavinnen, die Kinder und die Herden über den Fluss. Er bleibt allein zurück. Warum allein? Soll ihn der Fluss Jabbok vor einem Überfall seines Bruders schützen? Ich weiß es nicht. – Der Chronist berichtet nur knapp: „Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach“. Wo Jakob allein ist, über­fällt ihn einer, und Jakob wehrt sich, kämpft mit dem, der aus Nacht und Wüste kommend ihm ans Leben will, kämpft, und der Kampf bleibt unentschieden, auch nach einem gewalti­gen Hieb auf Jakobs Hüfte. Jakob gibt nicht auf.

Wer ist der, mit dem er kämpft? Man könnte sagen: sein Schatten, seine Vergangenheit ist in dieser Stunde gegen ihn aufgestanden. Solche Jabbokstunden kennen wir vielleicht auch. Wir sind allein, da ist nichts um uns als Vergangenheit und fällt uns an. Wir sind allein mit unserem Schatten.

In der Tat: Der aus dem Dunkel will offenbar vor Tag verschwinden: „Lass mich los; die Morgenröte bricht an“. Das ist das erste Wort, das wir vom Unbekannten hören. Jakob greift auch diesmal zu: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. – Der aus dem Dunkel fragt: „Wie heißest du?“ Der Angefallene nennt seinen Namen: „Jakob“. – Und nun kommt’s, nun zeigt sich, wer Sieger bleibt. Er, der betrogen hatte und betrogen wurde und bei Sonnenauf­gang hinkend davongeht, bekommt einen neuen Namen. Er heißt jetzt nicht mehr Jakob, „Fer­senhalter“, er heißt Israel, „Gottesstreiter“: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Is­rael, denn du hast mit Gott und mit Menschen gestritten und hast obgesiegt“. (Auch Saulus wird einen neuen Namen bekommen!)

Nicht die Vergangenheit hat Jakob angefallen. Nicht ein anderes Ich, nicht sein Schatten, sondern der ganz Andere. Der Gott der Väter ist auf einmal handgreiflich nahe. In ihn ist der Jakob verkrallt. Ihn hält er fest. Ihm stellt er die Gegenfrage, der verweigert ihm seinen Na­men. Auch wenn Jakob siegt, soll er doch nicht über den verfügen, den er besiegt. Gott bleibt im Geheimnis. „Warum fragst du, wie ich heiße?“ Welch eine Abweisung und welch eine Zuwendung. Gott verweigert sich und schenkt: „Und er segnete ihn daselbst“. (In gewisser Weise hat die Geschichte von der Bekehrung des Saulus eine ähnliche Struktur wie unsere Geschichte. Saulus ist unterwegs, ein Licht, eine Stimme hält ihn auf, stürzt ihn zu Boden. Auch Saulus fragt: „Wer bist du, Herr?“ Ihm wird der Name genannt!) Jakob gibt Gott keinen Namen. Nur die Furt am Jabbok bekommt einen Namen, und ein namenloses Staunen klingt nach in diesem Flurnamen, das Staunen darüber, dass er – Jakob – noch da ist. „Und Jakob nannte die Stätte Pniel; denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht geschaut und bin am Leben geblieben“. –

Wie Jakob weiterwandert, geht über den Wüstenbergen von Transjordanien die Sonne auf: „er hinkte an der Hüfte“. Der den Segen trägt, geht als Geschlagener davon. Der als Geschla­gener davongeht, trägt den Segen.

Das ist die Geschichte Jakobs und unsere Geschichte. Denn der den Jakob überfiel, ist un­ser Gott; schon in der Zeit des Erzvaters erscheint er in menschlicher Gestalt. Nicht der Schatten eigener Vergangenheit hat Jakob überfallen, sondern der Kommende trat aus dem Dunkel. Der Mann, der den Jakob anfällt, ist der Gott, der an der Weihnacht Mensch wurde und jetzt auf uns zukommt: Im Neuen Testament geht die Rede, Christus werde wiederkom­men wie ein Dieb in der Nacht. Der am Jabbok erschien, ist uns angesagt, und so sind wir in der Geschichte drin.

Gott begegnet uns auf vielfältige Weise. Auch so, dass er einen Auserwählten überfällt, dass er die schlägt und beraubt, die er beschenken will. Später hat das Volk Israel seinen Gott in ähnlicher Weise erfahren. In den Klageliedern wird Gott als Bogenschütze, als Feind em­pfunden, als Raubtier auch: „Er lauert auf mich wie ein Bär, wie ein Löwe im Versteck“.

Paulus aber ist erst einmal drei Tage lang blind, wenn ihm der vom Jabbok aus dem Licht entgegentritt. Er schlägt den, der die Heiden erleuchten soll, zunächst mit Dunkel.

Ich meine, wir Christen stehen deshalb so hilflos der vielfältigen Schwermut heutzutage gegenüber, weil wir vergessen haben, dass es ein Erfahren Gottes gibt in der Wüste, in der Nacht, wo einer allein ist, ganz allein, und sich angegriffen fühlt.

Man erkennt den Angreifer nicht, wenn man angefochten ist wie Jakob. Erst hinterher wird’s dem Jakob gesagt, dass der Gott seiner Väter mit ihm gekämpft hat. Im Augenblick des Kampfes ist nichts Göttliches an Gott. Gott begegnet dem Jakob als Nichtgott, als Gestalt, die aus dem Dunkel kommt.

Vielleicht predige ich jetzt nur für einen Menschen, der allein ist und Angst hat und dem ich sagen darf: „Du lieber Mensch, der du verzweifelt bist, wisse, dass Gott dir nahe ist. Und wenn du einen Schlag auf die Hüfte bekommst und lahm durchs Leben schleichst, wisse, der dich schlägt, ist der gleiche, der dich segnet. – Und wenn du mir sagst, du hättest Gott nicht erfahren, sondern nur die Nacht, die Wüste, die Verzweiflung, so kannst du dich an den klammern, den du nicht siehst, der uns aber nahe ist, nahe auch da, wo wir das Gegenteil von seiner Liebe und Freundlichkeit spüren. Du kannst in deiner Nacht den im Dunkel nicht er­kennen, sowenig wie Jakob den erkennen konnte, der ihn angriff. Das macht nichts. Hab’ nur Geduld! Gib nicht auf, lieber Mensch! Der Gott unserer Väter ist im Kommen, und auch über deiner Nacht wird einmal die Sonne aufgehen.“

Ich sage: Vielleicht predige ich jetzt nur für einen Menschen hier. Aber ich denke, dass wir alle von Jakob zwei Dinge lernen können, zwei tröstliche Dinge.

Zum ersten: die Skandalchronik von Jakob, dem Erbschleicher und Gottesstreiter, zeigt uns: Gott handelt nicht mit uns, wie wir’s verdient haben. Gott macht aus einem Erzschelm einen Erzvater, damit kein armer Schelm auf dieser Erde ausgeschlossen sei von Gottes Güte. Der „Fersenhalter“ bekommt den Segen, wird zum „Segenshalter“, zum Segensträger. Das auserwählte Volk hat von ihm seinen Namen. Auch wir als Gemeinde haben von ihm den Namen. Die Gemeinde heißt „das neue Israel“. Als Gemeinde sind wir die neuen Gottesstrei­ter! Wir versammeln uns zu diesem Gottesdienst, weil wir an Gott festhalten. Wir wollen ihn nicht loslassen, und wir haben als Gemeinde die Aufgabe, um Gott zu kämpfen, bis die Nacht dieser Weltzeit vergeht und eine neue Zeit kommt. In einer Welt, in der die Gewalt immer brutalere Formen annimmt, in einer Welt, die sich hierzulande durch den Glauben an den ständigen wirtschaftlichen Fortschritt zugrunderichtet, in dieser Welt und Zeit, die dunkel ist und in der die Menschen allein sind, hat die Gemeinde für alle einen Gottesstreit zu führen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“.

Zum zweiten: Irgendwo und irgendwann begegnen wir Gott in seinem Gegenteil. Nicht als dem lieben, sondern als dem angreifenden Gott. Wir erfahren ihn nicht als den, der für uns, sondern als den, der gegen uns ist. Wir erfahren den, der die Liebe ist, als einen, der uns hasst. Luther sagt, Christus sei hier dem Jakob in einer Larve erschienen. – Unser Gott hat viele Masken, in denen er uns erscheint. Und wo er uns in der Maske des Widersachers erscheint, da bietet er uns die Chance, unseren Glauben zu bewähren. In der Erfahrung des Gegenteils lasst uns an dem Gott festhalten, der nicht gegen, sondern für uns Mensch geworden ist.

Einmal wird er wiederkommen wie ein Dieb in der Nacht, damit es Tag werde. Hier und anderswo.

Gehalten am 20. Februar 1977 in Dossenheim bei Heidelberg.

Quelle: Rudolf Bohren, Trost. Predigten, Neukirchen-Vluyn 1981, 76-82.

Hier der Text als pdf.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s