Von Fridolin Stier
Welche Bedenken auch immer seinem Gang zu Pilatus widerraten mochten – er setzte sich darüber hinweg, überwand alle Menschenfurcht in der Kraft einer Entschlossenheit, sich mit der Ehrung des Toten zum Lebenden zu bekennen. Ob es Liebe war, die ihn so mutigte, angesichts des Todes ihrer selbst bewußt gewordene und erstarkte Liebe? Oder ob ihn angesichts des Kreuzes das um Jesus waltende Geheimnis Gottes überwältigt hatte? Oder war es der kleine, aber so herrliche Mut schlichter menschlicher Anständigkeit! Im Markus-Evangelium, das so starke antijüdische Akzente setzt, mag kein besonderer Ton auf dem Umstand liegen, daß gerade ein Mitglied des Hohen Rats – nicht die Jünger! – dem Herrn die letzte Ehre erweist. Uns aber ist es unbenommen, das Fak¬tum als solches zu besinnen und aus ihm die Warnung vor ungeschlachten Kollektivurteilen zu hören – vor jener historisch unwahren, juristisch unsinnigen und theologisch schlechthin instinktlosen Rede vor allem, die das jüdische Volk global des „Gottesmordes“ bezichtigt. Und selbst auf den Hohen Rat fällt ein Licht, wenn in ihm einer saß, und dieser vielleicht nicht als einziger, der Jesus wohlwollte und sich ihm auf die Mächtigkeit Gottes zu geöffnet hielt. Denn er wartete des Reiches Gottes, und er nahm, nachdem er die Felsengruft geschlossen, seine Hoffnung in jene tiefe Nacht hinaus, in der Gott tatenlos zu schweigen schien.
Quelle: Gestalten der Passion, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, 1966, S. 54f.