Das Dreitagewerk Karfreitag, Ostersamstag, Ostersonntag 1962 (Drei Aussprachen)
Von Eugen Rosenstock-Huessy
Karfreitag
Ein Laie soll zu Ihnen an den drei höchsten Feiertagen der Christenheit: Karfreitag, Karsamstag und Ostersonntag sprechen. Da muß ich mich auf die Stelle, die der Laie in der Kirche einnimmt, wohl zurückbesinnen, um es richtig zu machen.
Im Längsschnitt der Zeit erinnert der Klerus der Amtspriester an jedem Feiertage und in jedem Gottesdienst an das Herkommen, an die Überlieferung, an die Perikopen der Bibel, die er zu erläutern berufen ist. Der Zeitgenosse, d.h. ja doch der Laie, nämlich der Genosse der eigenen Zeit, der irdischen Zeit, muß wohl von der Peripherie ausgehen, von dem Querschnitt durch den Zeitraum, in dem er steht, und muß Erfahrungen zur Sprache bringen und zusehen, ob er diese eigenen Erfahrungen seiner Zeit verknüpfen kann mit der langen weiten Linie, die von Christi Geburt und Christi Tod zu uns hier heute hinführt.
Das will ich auch heute versuchen und will von drei Erfahrungen ausgehen, die mir dieses Jahr widerfahren sind und die mir den Glauben an Ostern schwer erschüttert haben. Der Sieg in der Osternacht ist durch sie in Frage gestellt in meinem persönlichen Umkreis. Es ist wie eine Fastenzeit, ähnlich wie der Herr in vierzig Tagen in der Wüste versucht wurde, den Glauben an den lebendigen Gott einzutauschen gegen einen Götzendienst. So ist es mir gegangen in den letzten Wochen. In einer Unterrichtsgemeinschaft, einem Seminar, kamen wir zu reden auf den Tod des Sokrates und dann auch auf den Tod Jesu. Und siehe da, von 25 Mitgliedern dieses Seminars, Katholiken so gut wie Protestanten, wußte nicht einer anzugeben, weshalb Sokrates gestorben sei. Und als wir weiterfragten, stellte sich heraus, daß auch niemand anzugeben wußte, weshalb denn Christus ans Kreuz hatte gehen müssen. Wofür denn? Eine überraschende Tatsache und eine beklemmende. Das geistigste, was einer dann zu sagen wußte – statt des bloßen Verstummens – war: oh, er hat wohl den Juden bloß zeigen wollen, wie böse sie sind. Das war noch schlimmer als nichts. Und so schwiegen wir alle beklommen. Der Tod Christi ist also in der Gegenwart unverständlich geworden. Ein Tod unter anderen. Alle Menschen müssen sterben. Sokrates hatte sterben müssen, Jesus hat sterben müssen. Ich dachte erst, es seien vielleicht nur die letzten vierhundert Jahre abgelaufen. Es sind nämlich vierhundertfünfzig Jahre, daß Erasmus von Rotterdam den Tod des Sokrates und den Tod Jesu nebeneinandergestellt hat in seiner berühmten Baseler Ansprache »Sancte Sokrates ora pro nobis«. Aber nein, nicht nur daß durch den Humanismus Christus und sein Kreuz überschattet worden sind; er war auch mit dem Humanismus jetzt verschwunden. Niemand wüßte mehr zu sagen, als daß sie beide gestorben sind; alle Menschen müssen sterben, weshalb nicht Sokrates? Weshalb nicht Jesus? Sie waren also zu Einzelpunkten geworden in dem langen Strom der Toten, der alles verschlingt.
An einem anderen Seminarabend kam eine andere Seite dieses selben Sterbeprozesses und Vernichtungsprozesses zutage. Wir erörterten Krieg und Frieden, und ich fragte, ob sie nicht einsähen, daß im christlichen Zeitalter nur der ein Staatsmann sei, der wisse, daß er mit seinem Feinde auch wieder Frieden schließen müsse, der dies also auch während des Krieges wisse und bedenke, und daß eben alle die ausgemerzt werden müßten aus der Geschichte als Heiden, als Vorchristen, die zwar Krieg führen könnten, aber nicht Frieden schließen, weil sie den Frieden während des Krieges total vergäßen, und das sei eigentlich der Sinn des Wortes »totaler Krieg«, daß man nicht Frieden schließen könne. Großer Protest. Meine Freunde, weiblich und männlich, meinten, das sei doch zu allen Zeiten so gewesen, die Wilden, die Stämme, die Städte – schon im Trojanischen Kriege, meinten sie – hätten doch trotz totaler Kriege auch Frieden schließen können. Und so fragte ich sie: meint Ihr also wirklich, zwischen der christlichen Zeitrechnung und den heidnischen Ären der Pharaonen oder der Könige von Assur sei gar kein Unterschied? Nein, sagten sie, wir sehen keinen Unterschied. Krieg ist Krieg, das war von Anbeginn der Schöpfung so und wird wohl bis zum Ende der letzten Atombombe so weitergehen. So hatte also auch hier die nationale Umwelt, die vor 1914 ja das Christentum als eine grundlegende Veränderung anerkannt hatte, sich nunmehr isoliert, und wir waren zurückgesunken in die Reihenfolge Leben – Tod – Leben – Tod, politischer Krieg, politische Zerstörung, Friede, der Krieg bricht aus und richtet alles zugrunde, ob es nun der Trojanische Krieg ist oder der Weltkrieg. Ich war schon etwas beklommen über diese beiden äußeren Fehlschläge; aber dann habe ich mich selbst bei einer dritten solchen Sünde wider den Heiligen Geist ertappt.
Ich diskutierte mit holländischen Freunden die einfache Frage, ob wir die Gebete, die uns überliefert werden im Herzen der Kirche wie das Vaterunser trotz der Bultmannschen These von der Entmythologisierung denn noch weiterbeten könnten? Ich habe immer diesen Entmythologisierungsplan der heutigen Theologen für abwegig gehalten, weil ja die Bibel gegen den Mythos in die Welt gekommen ist. Wenn Sie das 10. Kapitel der Genesis lesen, so ist da eine Völkertafel gegeben, in der die Juden nicht vorkommen, das Volk Israel. So grandios ist also der Glaube der Juden an die wahre Geschichte, daß sie sich in keiner Weise in einem Mythos vom Anbeginn der Zeiten selbst untergebracht haben. Die Größe der Bibel ist wohl in diesem Kapitel am deutlichsten, wo die Träger der neuen Offenbarung darauf verzichten, in der mythischen Zeit überhaupt schon existiert zu haben. Aus dem Nichts hat Gott sie geschaffen, und deshalb wissen die Juden, daß Gott auch die Welt aus dem Nichts geschaffen hat und aus keinem anderen Grunde. Ja, sagte ich; dann aber wurde ich in die Enge getrieben in der Unterhaltung: vielleicht müssen wir das Wort »Himmel« doch mal revidieren, »unser Vater im Himmel«, einem Kinde gesagt, macht heute keinen Eindruck, wenn der Herr Glenn nun dreimal um die Erde herumfliegt in 89 Minuten jeweils. Das Wort Himmel ist technisiert. Es ist der Schauplatz unserer eigenen Menschenkünste. Es ist eher möglich, einem Kinde sogar zu sagen, daß Gott in seiner eigenen kleinen Brust schläft und sich bewegt, als ihm deutlich zu machen, daß da draußen in dem kahlen Weltraum Gott mehr zu finden sei oder zu finden ist als bei uns. In dem Augenblick, wo ich das gesagt hatte, hätte ich’s gerne in meinem Busen bewahrt, denn ich sah, daß in mir nun auch der Himmel selber eingestürzt sei. Hatte ich Christi Frieden nicht verdeutlichen können in dem Umsturz der heutigen Zeit und hatte ich für Krieg und Frieden nicht mehr eindeutig unterscheiden können, hier die christliche Ära und vorher die heidnische Zeit, so sagte ich nun einer Überlieferung ab, ohne die tatsächlich nichts mehr erkennbar, wieder erkennbar ist; wer das Vaterunser aufgibt, der gibt ja wohl die einfache und schlichte Überlieferung im Herzen des Christentums auf. Und so schwieg ich bekümmert.
Mit diesen drei Versagern war aber mehr getan als eh^ Austreten aus der christlichen Überlieferung. Wir waren alle zurückgeworfen zu dem Schattendasein der zum Tode verurteilten Menschheit, da alles Gewachsene endet im Nichts.
Wenn da so die Hauptsache fehlt, dann war eines klar, auch unter meinen Freunden und bei mir selber: jeder Tod war dann genauso schrecklich wie jeder andere. Und ein Christ konnte sich nicht verschanzen hinter der Schrecklichkeit des Kreuzestodes, um zu sagen, daß er über die heutigen Hinrichtungen, Tode, Zerstörungen sich hinwegsetzen könne. Jeder verdient beweint zu werden. Jeder vom Weibe geborene Mensch hat ein Recht auf unsere Tränen. Der einzelne von uns wird versagen, und er wird nicht alle beweinen können, die auf die nichtswürdigste Weise gefoltert und umgekommen sind; und doch, hervorheben darf der Christ nicht den Kreuzestod seines Herrn, als seien die anderen Menschen weniger beklagens- und bemitleidenswert. Und das war also die seltsame Folge dieser Abschaffung des Kreuzes als eines besonderen Sinnes; daß wir hier aufgefordert wurden, alles oder nichts in die Trauer um die sterbliche Menschheit hineinzulegen. Und wir lasen zusammen aus den »Lettere di condannati a morte della resistenza italiana« – aus den Briefen der zum Tode Verurteilten, die zwei Männer bei Einaudi in Turin 1952 veröffentlicht haben – den über den Stacheldraht geworfenen, aber in ihm hängengebliebenen Brief eines vierzehnjährigen Bauernjungen aus Galizien, der es wohl mit dem heiligen Aloisius aufnehmen kann, an seine Eltern: »Meine lieben Eltern, wenn der Himmel Papier und alle Meere der Welt Tinte wären, könnte ich Euch mein Leid und alles, was ich rings um mich sehe, nicht beschreiben.« Und nun beschreibt er die Greuelszenen, denen er in dem Nazilager ausgesetzt ist, wie sie ihn mit Stöcken bearbeiten, wie sie ihm die Schuhe wegnehmen, damit seine Füße bei der Arbeit ganz wund werden, und so schließt er: »Ich sage allen Lebewohl, liebe Mama, lieber Papa, liebe Geschwister, und ich weine.« Und so sind also diese Tränenfluten das letzte Wort. Ist der Tod unbekannt, unerfahrbar? Sind die Tränen das Letzte am Grabe? Das ist wohl so am Karfreitag. Es ist wohl ganz recht, daß wir Heutigen unseren eigenen Karfreitag nacherleben und nachvollziehen müssen. Am Karfreitag verdunkelt sich die Welt, und wir wissen es auch nicht besser, als daß alle Menschen sterben müssen, daß alle vergebens gelebt haben, daß nichts übrigbleibt als Schutt und Asche.
Diese Überzeugung von der Unausweichlichkeit der Vernichtung führt ja heute um uns herum zu den seltsamsten Äußerungen. Ich hörte neulich eine Dame sagen: »Die Hitlergrausamkeiten werden außerordentlich übertrieben. Es sind nicht sechs Millionen umgebracht worden, sondern nur zwei.« Wenn man vom Tode in Zahlen spricht, so wird er uninteressant. Die Tatsache, daß ein Mensch stirbt, ist offenbar genau so wichtig, wie daß sechs Millionen gestorben sind. Die Bemerkung jener »Dame«, jenes verworfenen Frauenzimmers, zeugt von einer ungeheuren Herzensroheit. So etwas kann man nicht diskutieren. Angesichts des Todes versagt die Zahl. Ein Tod ist so schrecklich wie alle Tode. Daß wir sterben müssen, das reißt uns aus dem liebevollen Zusammenhang unserer eigenen Existenz. Die Menschen, die uns lieben, können uns vor dem Tode nicht retten, und wir können die, die wir lieben, nicht davor bewahren, von uns zu scheiden. Entreißen tut der Tod alles allem, d. h. er zersägt den Zusammenhang des Lebens, auf den wir das Sakrament zu nehmen bereit waren, ob es das Ehesakrament ist oder das nicht offiziell eingesetzte, aber doch so lebhafte Sakrament der Liebe zwischen Eltern und Kindern.
Wenn wir diese heutige Geschmacklosigkeit der Menschen, die mit Zahlen operieren, wenn vom lebendigen Leben und seinem Sterben die Rede ist, aber weiter verfolgen, so müssen wir zu einer grauenhaften Feststellung kommen. Ich habe selbst einen jungen Menschen schon sagen hören, daß Jesus Selbstmord begangen hat, d.h. das, was von Jesu Tod ja wohl noch übrig ist, daß er einen Sinn für uns gehabt habe, wird in diesem Worte verneint. Das war kein Deutscher, der mir das gesagt hat, es war ein junger Amerikaner. Ich rückte ihn ein wenig zurecht. Es war das vor zehn Jahren, also nicht in der Fastenzeit meines eigenen Versagens dieses Jahres und dieser Fasten. Es gelang mir wohl, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß Selbstmord ein teuflischer Ausdruck für Karfreitag sei. Aber derselbe Junge, zwanzig Jahre alt, sehr vergnügt, sehr lebenslustig, sagte dann nach kurzer Zeit: ja, eins müssen wir natürlich begreifen: »Hitler hat sich für sein Volk geopfert.« In dem Augenblicke, wo wir dem Tod seine sinnvolle Stellung im Leben absprechen, wir können es auch so ausdrücken, wo wir den Tod an das Ende des Lebens setzen, in dem Augenblick steht alles auf dem Kopf oder wird jede Äußerung gleich gut möglich wie die entgegengesetzte. Der Sinn des Todes soll nämlich unsere Urteile ordnen. Wenn aber Jesus Selbstmord begangen und Hitler sich für sein Volk geopfert hat, dann haben Leben und Tod in willkürlicher Weise ihre Plätze vertauscht, – auf Vernichtung kommt’s hinaus, denn der Kopf weiß nun nicht den Sinn des Geschehenden. Das sagten meine Seminaristen ja schließlich, als sie sagten: wir wissen nicht, weshalb Christus ans Kreuz gegangen ist, so wenig wie wir wissen, weshalb Sokrates im Gefängnis blieb und nicht doch weggelaufen ist und lieber woanders weitergelebt hat. Wenn Krieg und Frieden sich durch Christi Mission nicht geändert haben, dann wissen wir nicht, daß sich die Erde in unserer Zeitrechnung bestimmt und zu ihrer Bestimmung hin verändert. Und wenn ich nicht mehr vom Himmelreich und Gott im Himmel sprechen kann, dann hat die Seele ihren Himmel verloren; sie ist abgestumpft wie mein Geist und wie mein Leib. Die drei Fastenereignisse, von denen wir ausgegangen sind, bedeuten, daß der Geist, der Leib und die Seele der heutigen Menschheit nicht nur abgestumpft sind, sondern mit ihrer Abgestumpftheit sich abfinden. Der Odem des Lebens, Gott, besiegt den Tod, so haben wir’s gehört. Und er besiegt den geistigen Tod, auch wenn Jesus seinen Geist aufgibt, so gibt es den Heiligen Geist. Was aber wissen wir heute am Karfreitag noch davon? Gott, der Odem des Lebens, verändert die Schöpfung, indem er sie weiterschafft, indem er Neues, das es nie gegeben hat, heute und morgen in die Welt setzt. So ist Schöpfung unerschöpflich. Aber gerade dies ist eine fromme Sage nun geworden; denn auch das heutige Neugeschaffene würde ja von seinem Tode hoffnungslos ereilt werden. Und meine Seele? Sie findet sich nirgends in einem unsterblichen oder in einem sterbelosen Raum, wie man wohl besser sagen müßte, um das in der Sprache der Bibel zu sprechen; denn die Bibel hat niemals geleugnet, daß wir sterben müssen. »Unsterblichkeit« ist kein Wort der biblischen Schriftsteller, aber dafür kennen sie den sinnvollen Tod, d. h. die Auferstehung. Und daß dem Tode eine Bedeutung nach vorwärts inne wohnt, das war bisher jedem sicher, der Karfreitag beging. Wir müssen aber heute wohl tiefer in den Karfreitag mit unserem Herrn hinunter, in die Haltung des Unwissens, des Aussetzens des Lebensatems bis hinein in unsere eigenen Gehirnzellen. Einen Augenblick muß in uns selber das Alte verderben. Alles müssen wir preisgeben, bevor dieser Dämon geheilt werden kann.
Goethe hat in der Iphigenie im letzten Akt das Ereignis des Karfreitags in weltlicher Form zwischen Iphigenie und Orestes sogar noch einmal auf die Bühne gebracht, denn die geistlichen Dichter müssen ja weltlich sein, wie Hölderlin sagt, auch wenn sie im Innern geistlich geblieben sind. Und Goethe hat das christliche Erlebnis des Wahnsinnigwerdens über den Tod den Orestes noch einmal durchleben lassen, und er spricht es dann selber aus, daß die Schwester ihn zwang, noch einmal die Schlange über ihn mit ihren Klauen Herr werden zu lassen, ehe sie in die Höhle verschwinden dürfe für immer. Ist da also unsere eigene Fastenzeiterkrankung vielleicht nicht Vorbedingung für Karsamstag und Ostern?
Wir wollen morgen weitersehen.
Karsamstag
Wie hatte Orestes gesagt, als er zu Iphigenie sich wandte, seine Heilung zu verkündigen? »In deinen Armen faßte das Übel mich mit allen seinen Klauen zum letzten Mal und schüttelte das Mark entsetzlich mir zusammen. Dann entfloh’s wie eine Schlange zu der Höhle.«
Ist vielleicht der Tod des Karfreitags der letzte unbrüderliche, ungeschwisterliche Tod, der gestorben worden ist? Ist alles Schutt und Asche? Wir waren zurückgetreten an den Anfang der Schöpfung, wo der Tod anfing zu regieren. Einige jüdische Ausleger der Genesis haben gesagt, daß bei der Schöpfung des Menschen es ja nicht heiße: Und Gott sah, daß es gut war, sondern Gott sah, daß es sehr gut war. »Und was bedeutet ›sehr gut‹? Sehr gut, das ist der Tod.«[1] So ist ein Geheimnis um den Tod vom ersten Tage des Schöpfungsberichtes. Was hat Gott mit dem Tode gemeint? Wie bleibt von dem Sterbenden etwas übrig? Nun, die einfachste Feststellung ist: der Segen bleibt übrig. Der Tote noch auf dem Totenbett haucht seinen letzten Atem auf die kommenden Geschlechter; ob es nun der Jacobssegen ist oder der Segen im entferntesten heidnischen Stamm: der Sterbende verschenkt seinen Atem an die Fortlebenden. Nicht nur an die Fortlebenden. Das Geheimnis des Alten Testaments ist in den Psalmen am deutlichsten ausgesprochen, wo dasselbe Wort Segen von Gott auf den Menschen ergeht und von dem Menschen, dem Ebenbilde des Schöpfers, auf Gott. Geheimnisvoll und ungeheuerlich, mögen Sie sagen, ist dieser Versuch, den Menschen zu vergöttlichen, aber es steht wirklich in den Psalmen, auch in der genauesten Übersetzung von Martin Buber, daß das Volk und der Beter Gott segnen, so wie er sie segnet.
Hören Sie den 145.Psalm: »Aller Augen warten auf Dich, ihre Nahrung gibst Du ihnen zu ihrer Frist, der Du Deine Hand öffnest und alles Lebende sättigst mit Gefallen, wahrhaftig ist Er in allen seinen Wegen, huldreich in allen seinen Werken, nahe ist Er den ihn Rufenden allen, allen, die ihn rufen in Treuen. Das Gefallen der ihn Fürchtenden wirkt Er, ihr Stöhnen hört Er, und Er befreit sie, Er hütet alle, die Ihn lieben, aber alle Frevler vertilgt Er. Seine Preisung redet mein Mund, daß alles Fleisch den Namen seiner Heiligung segne in Weltzeit und Ewigkeit.«
Hier steht es also: Wir Menschen segnen Gott. Das Benediktus geht nicht nur von Gott auf uns zu, sondern in der Kraft unseres Wortes geben wir ihm den Segen zurück. Die ganze Vorbereitung der Menschheit auf den Ostertag, sie wird hier am Karsamstag noch einmal zurückgelegt. Noch einmal faßt das Übel uns mit allen seinen Klauen und schüttelt uns das Mark entsetzlich. Aber wir müssen uns zusammenraffen und sehen, ob es nicht längst schon vorbereitet ist zu seinem Zusammenbruch, zu seiner Ermattung, zu seiner Nichtswürdigkeit. Wenn Hiob nicht gelitten hätte, und wenn Ruth, die junge Moabiterin, nicht den Juden Boas geheiratet hätte, so hätte Christus nicht erscheinen können im Fleisch. Die Vorleiden der Frommen, was sind sie, als ihr Segen über ein Übel, über den Tod, über die Gefahr, beide ausgesprochen und damit anerkannt als Gottes Wege und deshalb gesegnet! Das Geheimnis der Vorgeschichte des Christentums ist das Vorleiden. Hätte David nicht unter König Saul gelitten, so hätte Jesus nicht, der Sprosse Davids, sein Leiden dem Saulus von Tarsus vorhalten können. »Saul, Saul, warum verfolgst du mich?« Und so ist es mit den großen zwölf Prophetien, welche die alte Kirche am Karsamstag betet. Sie beginnt mit der Weltschöpfung, und sie endet mit dem Gesang der drei Männer im Feuerofen. Ich kann diese zwölf Prophetien hier Ihnen nicht vorlesen, und Sie würden sie wahrscheinlich auch gar nicht auffassen als die notwendigen Stufen für die Überwindung des Todes, als das Sinnvollwerden des Leidens und des Schmerzes, das über uns Menschen in jedem Todesfälle kommt. Ich will nur an eine Stelle rühren, die letzte der Prophezeiungen, wie sie die Alte Kirche am Karsamstag betet. In der evangelischen Überlieferung ist der Gesang der drei Männer im Feuerofen aus den Büchern Daniel verschollen. Und doch ist damit eine Geschichte verknüpft, auch wieder aus unserer Moderne, an der Sie vielleicht sehen können, wie der Tod in die Geschichte hineingeschaffen und erlöst worden ist in den Vorahnungen der Frommen bis auf Christi eigenes Kommen. Dieser Gesang der drei Männer im Feuerofen hat nämlich bei einem modernen Dichter Anklang gefunden. Er hat ihm ein Stück über Franzosen und Deutsche im letzten Weltkriege nachgedichtet. Zuckmayer ist der Dichter. Und er läßt da die Männer, die in dem Feuerofen umkommen, verglühen, anzünden, wie’s in der Bibel steht. Nur an einer Stelle weicht er davon ab, scheinbar zwangsläufig, und Sie werden gleich sehen, daß es die entscheidende Stelle ist, die Glaube und Unglaube scheidet, Tod und Leben. Und bitte erlauben Sie mir, daß ich jetzt diesen Gesang der drei Männer im Feuerofen vorlese, und ich bitte Sie, nur auf eines zu achten, auf die Reihenfolge, in der die drei, Hananja, Asarja und Misael, alle auffordern, den Herrn zu loben. Das Geheimnis nämlich unseres Verhältnisses zur Weltschöpfung und zum Weltuntergang steht nicht in den einzelnen Worten, mit denen sie den Herrn preisen, sondern in der Reihenfolge, in der sie die gesamte Schöpfung auffordern, den Herrn zu preisen. Ich muß es Ihnen lesen. Behalten Sie im Ohr, daß es auf die Reihenfolge ankommt und nicht auf den einzelnen Satz. So sprechen die drei Männer im feurigen Ofen:
»Gelobet seist Du, der Du sitzest auf den Cherubinen und siehest in die Tiefen. Gelobet seist Du auf Deinem herrlichen königlichen Stuhl.« Hören Sie, wie fern der Blick dieser drei Männer schweift. Dort, wo Gott unermeßlich fern und hoch sich befindet, dorthin erklingt die Stimme zuerst. »Gelobet seist Du in der Feste des Himmels. Es loben den Herrn alle seine Werke. Ihr Himmel lobet den Herrn! Ihr Engel des Herrn preiset und rühmet Ihn ewiglich! Alle Wasser droben am Himmel, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich! Alle Heerscharen des Herrn, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich! Sonne und Mond, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich! Alle Sterne am Himmel, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich! Regen und Tau, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich! Alle Winde, lobet den Herrn. Feuer und Hitze, lobet den Herrn! Schloßen und Hagel, lobet den Herrn! Tag und Nacht, lobet den Herrn! Licht und Finsternis, lobet den Herrn! Preiset und rühmet ihn ewiglich! Eis und Frost, Reif und Schnee, Blitze und Wolken, die Erde lobet den Herrn! Berge und Hügel, lobet den Herrn! Und alles, was auf der Erde wächst, lobet den Herrn! Ihr Brunnen, Meer und Wasserströme, lobet den Herrn! Walfische und alles, was sich regt im Wasser, lobet den Herrn! Alle Vögel unter dem Himmel, alle wilden Tiere und Vieh, lobet den Herrn! Ihr Menschenkinder, lobet den Herrn! Israel, lobe den Herrn, preise und rühme Ihn ewiglich! Ihr Priester des Herrn, lobet den Herrn! Ihr Geister und Seelen der Gerechten, lobet den Herrn! Ihr Heiligen, so betrübt und elend Ihr seid, lobet den Herrn, rühmet Ihn ewiglich! Hananja, Asarja und Misael, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich! Denn Er hat uns erlöst aus der Hölle und hat uns geholfen vom Tode und hat uns errettet aus dem glühenden Ofen und hat uns mitten im Feuer erhalten. Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.«
Als Zuckmayer diesen Gesang aufnahm in sein Stück aus der Gegenwart, als weltliches Benediktus, da hat er den ganzen Gesang abgeschrieben bis auf den Vers: Ihr Beter selber, Hananja, Asarja und Misael, lobet den Herrn. Denn das Geheimnis Gottes mit unserer Menschenseele, das konnte er nicht verstehen. Daß Gott nämlich in unserem Herzen zuerst auftritt, aber uns die weite Welt sehen macht, daß die Genesis geschrieben ist, die Schöpfungsgeschichte des Menschen, und zuerst von dem Himmel und der Erde spricht, die geschaffen sind, weil der Mensch erfahren hat, daß Gott ihn liebt und sein Herz neu geschaffen hat. Sie müssen also an diesen Umweg denken, um die Geschichte des Heils unter den Menschen und die Offenbarung des Todes ein wenig zu begreifen. Der weltliche Dichter läßt den Ausgangspunkt des Gebets einfach weg: Das kleine Herz von Hananja, von Asarja und von Misael, aus dem die Lobpreisung des Stromes und der Himmel und der Meere und der Vögel kommt. Erst zuletzt wenden sich die Preisenden auf die Quelle des Wortes in ihrem eigenen Herzen. Der Mensch sieht sich selber zuletzt. Er darf anfangs auf sich keine Rücksicht nehmen. Die Menschheit hat deshalb ihre Bestimmung erst in einem langen Wanderwege erkannt. Längst wußte sie, daß Gott Himmel und Erde geschaffen hat, und längst wußte Israel, daß es als Volk von Gott geschaffen worden ist. Aber es blieb noch 1500 Jahre das unerlöste Geheimnis, daß Gott in uns leidende und sterbliche Menschen hinein die wahre Offenbarung seines Wesens hineingeheimnist hat. Der Mensch sieht sich selbst zuletzt. Das Nächste in unserem Herzen ist immer das Letzte in unserer Erkenntnis. Und das ist die ungeheure Geschichte des Karsamstags von der Erschaffung von Himmel und Erde bis zu dem, der seinen Geist aufgab am Kreuz, damit nun auch der Tod, den wir alle sterben müssen, sinnbegabt sei und erschaffen sei.
Clemens Brentano hat ja von der Jungfrau Maria diesen berühmten Vers gedichtet: »Die Sehnsucht, die so lange Tage nach Gott hier auf der Erde ging, als Träne, Lied, Gebet und Klage, sie ward Maria und empfing.« Bis zur Maria, die Jesus als seine Mutter ansprach und anrief, geht die Vorgeschichte der Erschaffung des Todes als Sinn der Existenz eines Menschengeschlechts als des Einen Einzigen Sohnes Gottes. Das ganze Menschengeschlecht ist ein einziges Menschenpaar.
Ostersonntag
Am Ostertage ist die Vorbereitung zu Ende. Gottes Sohn weiß nun, daß ihm die Sprache geworden ist, die Schöpfung Gottes nachzuerkennen und nachzuvollziehen. Wo Hananja, Asarja und Misael langsam stammeln und erst am Ende zu sich selber hinfinden, da beginnt der Menschensohn seinen Weg. Sein erstes Wort ist, daß Er das Wort ist. Daß Gott ihm die Möglichkeit gegeben hat, Himmel und Erde und Blitze und Wolken und Vögel und wilde Tiere anzureden, anzusprechen. Wir müssen auf den Ostersonntag warten, um zu sehen, wie aus dem Sohne Mariens Der geworden ist, von dem her Maria nun heißen kann: Mutter dieses Sohnes.
In der Ostkirche erschallt am Ostersonntag der Ruf aller Gläubigen, Priester wie Laien: Christus ist erstanden, Er ist wahrhaftig auferstanden. In der dritten Person wird hier von Gott gesprochen. Die Gläubigen versichern ihm, daß er in ihren Herzen auferstanden ist. Wie geschieht das? Am Kreuze ändert sich der Name Jesu von Nazareth. Bis zum Kreuz heißt Er im Volke der Sohn Mariens. Aber als Er am Kreuz dem Jünger, dem Lieblingsjünger Johannes, seine Mutter übergibt, da geschieht etwas Ihm selber. Von da an ist Maria die Mutter Christi. Sie ist nämlich nun dieses Sohnes Mutter. Vordem war sie bekannt, er unbekannt. Nun ist es umgekehrt! Alle sentimentale Marienverehrung und aller echte Glaube an die Kraft Christi unterscheiden sich an diesem Punkte. Wird Maria letzthin als die Mutter auch eines Sohnes verehrt, oder wird sie verehrt als die Mutter dieses Sohnes, deren eigene Würdigkeit erst in dem Augenblick klar ist, wo Er seinen Namen aus Jesus in Christus ändert? Die Antwort auf diese Frage hängt damit zusammen, daß ich hier einen Fehler begangen habe. Ich habe gesagt: wo Er seinen Namen ändert. Das ist nicht wahr. Nämlich so wie die Gläubigen der Ostkirche rufen: resurrexit – Er ist wahrhaftig auferstanden – so ist an seiner Namensänderung die ganze Menschheit beteiligt. Christ ist nicht Christ, es sei denn in unserem Herzen und in unserem Munde. Mit der größten Demut hat dieser Offenbarer des Todes darauf verzichtet, sich selbst auszurufen. Wir müssen ihn ausrufen. Sonst wird er nicht der Name über allen Namen.
In der Geschichte vom barmherzigen Samariter ist uns das Rezept verraten, wie dieser Tod besiegt wird, wie die einzelne, isolierte, traurig« abgeschnittene Lebenssphäre des Einzelnen zu einem Gefüge des ganzen Menschengeschlechts wird, wie wir alle zusammenwachsen trotz des Todes und jenseits des Todes. Ich meine, die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist der erste Anhaltspunkt dafür. Sie wird ja immer so falsch erzählt, als sei der Mann, der unter die Räuber gefallen, als sei er der Nächste des barmherzigen Samariters, und deswegen habe der barmherzige Samariter sich eben erbarmt und für den Kranken, den Verwundeten, den Geschändeten gesorgt. Und so wird heute in der Samariterklasse des Roten Kreuzes gedacht und gehandelt. Aber es ist längst von den Theologen eingesehen und hervorgehoben, daß die Sache anders vor sich gegangen ist. Der Mann, der unter die Räuber gefallen war, der spricht das Wort: »Der Samariter, der Verachtete, der Gehaßte, Gegner des Judentums, der ist mein Nächster.« Der Samariter empfängt seinen Namen aus fremdem Munde. Nächster –. Ich muß zum Nächsten ernannt werden! Die Selbstbestellung der wohltätigen Frauen zur Wohltätigkeit macht sie noch keineswegs zu wohltätigen Frauen.
Ich habe einen Freund, der hat fünf Jahre in einem Zementwerk gearbeitet, und die Leute haben ihn deswegen dort alle mit »Kollege« angeredet. Er war aber außerdem Pfarrer, und langsam zog er sich in seinen Missionsdienst und seinen Pfarrdienst wieder zurück, und wie die Arbeitskollegen das merkten, da haben sie ihm den Namen »Kollege« verschämt nicht mehr erteilt. Sie wußten nicht, wie sie ihn anreden sollten. Er war doch nunmehr nicht nur Kollege, und sie wollten ihn doch achten, und sie wollten ihn nicht ohne weiteres fallen lassen, und so haben sie seine Anrede umgangen. Aber eines Tages, als er wieder mit ihnen so recht zusammen war und ein gemeinsames Leid über sie gekommen war, da hat einer von den Arbeitern angefangen, ihn Bruder zu nennen. Und dabei ist es geblieben. Und unter den Kollegen gab es also plötzlich einen, der angeredet wurde mit Bruder. Diese Ernennung kann man sich nicht selbst nehmen. Er konnte nicht sagen: ich bin doch euer Bruder. Es mußte ihm entgegenkommen. Und dies Geheimnis der Ernennung Christi durch unsere Namengebung, das ist die Geschichte des Christentums. In dem Augenblicke, als sogar Maria die Mutter dieses Sohnes wurde, da geschah das Wunder der Auflösung des Todes, der vorher alles verschlungen hatte. Denn sein Tod trug nun Frucht, und in der wunderlichen Äußerung des Jakobus, eines alten östlichen Patriarchen, begann »dieser geheimnisvolle Prozeß, daß die Toten in seiner Auferstehung an | den Leib Christi angeschlossen werden, und indem sie ihn einatmen, heil werden«. Die ganze Vorwelt ist aufgeschlossen in Christi Tod als noch veränderlich. Wenn es heißt, daß er in die Vorhölle hinabgestiegen ist und die Patriarchen besucht hat und da heraufgeholt hat, so ist das einfach wahr. Von Christi Tod her sieht die ganze Vorgeschichte neu aus. Alles ist umgekehrt. Alles ist Sinn, wo vorher Unsinn war und namenlose Vernichtung. Denn Jesus ist der erste Mensch, der vom Ende her gelebt hat. Nicht umsonst erschallt im Weihnachtsoratorium von Bach das »O Haupt voll Blut und Wunden« bei Weihnachten. In der Wiege das Kind vernimmt die Todesbestimmtheit und nimmt sie auf sich. Daher der Bethlehemitische Kindermord, daher die Flucht nach Ägypten. Der Tod im Leben ist die Erfahrung des ganzen Lebens Jesu. Der Tod am Kreuz ist nur verständlich, wenn das ganze Leben als Kreuz gelebt wird.
Sehen Sie auf das Verhältnis von Mutter und Sohn noch einmal. Jesus ist die Jungfrau, die die Apostel aus sich geboren hat. Die Jungfrauengeburt der Maria, ihres eigenen Sohnes, ist eine Projektion dieser Leistung des Herrn als Mutter seiner Apostel. Er hat verzichtet, genau wie der Samariter und genau wie mein Freund, der Kollege, der zum Bruder wurde, sich selbst zu ernennen. Er hat sich auf die Apostel verlassen. Sie haben ihn ernannt. Sie sind sein Leib, als er selbst leiblich von ihnen ging. In ihnen ist er auferstanden, und nichts würden wir je von der Jungfrauengeburt zwischen ihm und seiner Mutter hören oder wissen, wenn die Apostel nicht sich von ihm hätten in die Welt hineingebären lassen als die Träger seines Geistes und die Träger seines Amtes und die Träger seiner Berufung. Die Biologen sagen uns heute, daß der Mensch ein Nesthocker sei. Er werde neun Monate im Mutterleib ausgetragen, aber weitere dreizehn Monate in dem Sozialleib, in dem er sprechen lernt. Adolf Portmann meint, als Tiere würden wir 22 Monate lang im Mutterleib zu verharren haben. Sogar die Sprachnerven entwickeln sich erst im Säugling, wenn mit ihm gesprochen wird. Und so wird der Mensch auch leiblich erst fertiggebildet in seinen Kiefern, in seiner Gesichtshaltung, in dem, was das schöne menschliche Antlitz ausmacht, daß er uns ansehen kann und lächeln kann, nachdem er in der Gesellschaft lebt. Nur durch den Sozialleib, in den er heruntertritt, wenn die Mütter ihn ausgeboren hat, wird er Mensch statt Tier. Das Geheimnis dieses Sozialleibes aber, das ihn auszeichnet vor dem Leib, in dem die Tiere nur Tiere austragen, ist, daß er veränderlich und geschichtlich ist. In der Geschichte muß dieser selbe Nesthocker im Jahre 1900 von anderer Sprache empfangen und begrüßt und getauft und ansprechfähig gemacht werden als im Jahre 900 und wieder anders als im Jahre 900 vor Christi. Keinem Tier widerfährt das. Es ist seltsam, daß die Biologen, die doch auf alles achten, auf diese Kleinigkeit nicht viel achtgeben, daß der Sprachleib, der Sprachentod, der Muttertod der Muttersprache zum Unterschiede von dem Schoße seiner Mutter in jeder Generation anders ist, veränderlich. Daß andere Worte, andere Sprachen, andere Gedanken durch diese neugeformten Sprachwerkzeuge in ihn eintreten und sein Antlitz bestimmen. Dieser wechselnde Glaube verlangt nämlich den Tod jedes Sozialleibes, ob durch Krieg, ob durch Revolution, ob durch Untergang, durch gewalttätige oder friedliche Beisetzung von toten Geistern; begraben muß nicht nur der Mensch werden, der leiblich stirbt, begraben muß auch genauso der Leib werden, der ihn von seinem zehnten Monat bis zu seinem dreiundzwanzigsten umfängt. Das ist die heut, wo der Mensch als Tier gilt, verkannte Leistung der Alten: Die Alten im Volk müssen den toten Sozialleib erneuern. Denn ihre eigenen Namen müssen zu Häupten des Säuglings treten, Namen, von denen weder der Mutter noch des Vaters Sprache je gehört hatten! Dadurch wird Gottes Geschichte weiter geschaffen.
Jesus hat offenbar gemacht, wie dieser Leib erneuert wird. Das Geheimnis der Kirche, das Geheimnis der Auferstehung ist das Hinübergetragenwerden jeder Generation in einen neuen Leib! Denn damit ist zu dem leiblichen Tod ein anderer Tod hinzugesetzt, nämlich der Tod dieser, der vorübergehenden Umwelt, der Geisteswelt! Genauso wie der Nesthocker leben muß, glauben muß und hoffen muß auf die Worte, die ihm da eingeflößt werden, die Namen, die wie Sternbilder seinen Weg zunächst orientieren, genauso muß er auch das Sinken dieser Sterne schon in der Morgendämmerung der eigenen selbstbewußten Seele aufgetragen bekommen, durchleiden, ausführen. Hinterlassen muß er einen neuen, den nächsten Sternenhimmel! Die Sterne seiner Jugend dürfen nicht über seinen eigenen Kindern einfach leuchten. Er muß sie sieben, er muß sie verändern, er muß über sie entscheiden. Die Kraft Christi, so zu leben, daß genug von unserem Geist stirbt, das ist das Geheimnis des Todes Christi, und deswegen ist Er heute bei jedem Tode von uns mit anwesend.
Wir sterben nicht allein. Jesus ist der letzte Mensch, der alleine hat sterben müssen. Orestes hat noch einmal das Ungeheuer des einsamen Todes auf sich genommen, und seitdem – bei Goethe ist es die Iphigenie, bei uns ist es die Mutter Kirche – stirbt niemand allein. Jedem wird deutlich, daß sein Tod Frucht trägt, wenn er das mit hat sterben lassen, was sterblich war an der Muttersprache, dem Mutterleib, der Vatersaat der Umwelt, in die er zuerst vertrauensselig hineingebildet worden ist, und die er nun so durchbeißen muß, wie das Junge die Eierschalen. Es ist an uns also nicht nur der Leib sterblich. Das ist der seltsame und geheimste Trost des Christentums; sondern der Geist selbst ist sterblich, der uns irdisch umgibt. Und Jesus hat seinen Geist in die Hände des Vaters zurückgegeben. Das ist seine Auferstehung, oder vielmehr dies Opfer hat seine Auferstehung erzwungen. Seine Täuflinge wurden nicht mehr als Juden erzogen wie er selber. Der leibliche Tod, erinnert Euch, wir hatten das gleiche am Karfreitag gesehen: keiner entgeht ihm, niemand ist da privilegiert. Aber kein leiblicher Tod ist an sich besser als eines anderen leiblicher Tod, oder sagen wir, weniger leidvoll oder leidvoller: Da ist kein Unterschied. Vor dem Tode wird alles gleich. Aber vor Christus wird der Tod ungleich. Wir mögen im Tode alle gleich sein, aber Jesus hat den Tod ausgezeichnet für einen besonderen Tod. Er hat den Tod zum Samen gemacht. Er hat nämlich den Aposteln und den Nachfahren es überlassen, Jesus als den Gekreuzigten auszurufen, seinem Tode Sinn zu verleihen. Dieser unendliche Glaube an die Einheit des Menschengeschlechts trägt bis heute Frucht; deswegen ist der Krieg in der heutigen Zeitrechnung etwas anderes als der Krieg vorher. Es wird Friede geschlossen, weil sich zwei Staaten, zwei Stämme, zwei Familien, zwei Feinde in seinem Namen einigen können. Wenn der eine Chinesisch spricht und der andere Russisch, so ist doch Friede möglich unter Christen, denn sie gehören alle einem größeren Leibe an als dem Leibe des Sprachleibes ihrer Nation. Die Sprachen sind nicht heilig. Der Geist ist heilig, der diese Sprachen erneuert und in sie hineinspricht und uns aus ihnen herausholt und herausspricht. Den Weibern und den Päpsten hat er es zuerst angetan! Es ist erst tausend Jahre her, daß eine Jungfrau, wenn sie heiratete, den Namen ihres Mannes annahm. Noch Tassilos Frau, die Tochter des Langobardenkönigs, heißt auf dem Tassilo-Becher virgo regalis; das heißt, sie kann es nicht loswerden, daß sie die Tochter eines Königs ist. Im elften Jahrhundert ändert sich das mit den Kreuzzügen. Es ist die Reform der Gregorianer, die dazu führt, daß die Frau den Namen ihres Mannes annimmt, daß man nichts von ihr mehr weiß, als daß sie nun ein Leib geworden ist mit dem Ehemann. Wie wäre es denn, wenn heute die Nationalisten und Nationalen in der Mitte ihres Lebens auch ein solches Traugelöbnis aussprechen müßten, daß nun der Sprachleib und Geistleib, in den sie hineingeboren sind und dem sie ihre erste Ordnung und Sprache verdanken, nicht der einzige sein darf, bleiben darf, in den sie hineingehören? Ich glaube, die Zeit ist gekommen, wo die Männer weiblich werden müssen in ihrer Seele und nicht bloß geistig herumstöbern mit abgewetzten Schlagworten, mit denen sie die Welt objektivieren. Die Welt, die ist Objekt, die mag verbraucht werden; aber das geistige Leben des Mannes ist genauso reichhaltig wie das Liebesleben der Frau. Wenn sie dem Manne ihren Namen gerne in der Mitte des Lebens neu verdankt, dann handelt es sich auch beim Manne heute nicht einfach um eine sogenannte Jugendweihe oder Initiation, sondern dann handelt es sich genau wie bei Jesus in der zweiten Hälfte des Lebens um den Eintritt in einen noch unbefriedeten Bereich, in dem sein eigenes Volk mit anderen Völkern zusammenfließt. In welchem Grade immer diese neue sakramentale Auf Schließung des ersten Sprachleibes geschehen soll, das bleibe dahingestellt. Vielleicht muß jeder diesen Weg selber finden. Aber daß der Mann, der heute zur Schule geht und Deutsch lernt, noch nicht geistlich geboren ist als Christ, das steht fest. Da liegen heute die Aufgaben des dritten Jahrtausends, genau wie die Mädchen vor uns wie selbstverständlich neunhundert Jahre lang den Namen ihres Mannes angenommen haben. Wie Sie wissen, weicht das heute von uns. Es gibt Frauen, die glauben nicht mehr, daß der Mann sie verwandelt. Sie heiraten glücklich, aber vertragsmäßig, auf Liebesabrede und nicht auf Liebe als Schaffensakt hinein in einen neuen Sprachleib. Aber die Krise der weiblichen Umnennung deutet gerade darauf hin, daß diesmal die Umnennung noch weiter greifen muß, nämlich sie wird uns Männer mit umfassen. Vielleicht ist da ein Unterschied in dieser Entnationalisierung von Weibern und Männern. Und vielleicht ist das der Grund, weswegen heute die Einzelehe in ihren Grundsätzen, nämlich der Umnennung der Frau, bebt, so daß die berufstätige Frau ja sehr oft ihren alten Namen weiterzuführen trachtet. Für die Kirchenchristen liegt ein Fingerzeig darin, daß erst seit der Papstrevolution von 1059 die Päpste ihren Christennamen ändern, wenn sie Papst werden.
Lächelnd kann ich jetzt zurückblicken auf meine eigene Verzagtheit am Karfreitag. Der Tod, der Himmel und der Friede, die schienen unverändert zu bleiben trotz Christus und trotz des Christentums. Wie anders das jetzt aussieht! Derselbe Name Christi, der die Sprachen umschafft zu Teilbereichen seines eigenen Namens und seines von diesem Namen beherrschten GeistLeibes, derselbe Himmel öffnet sich nun. Ich habe keine Schwierigkeit einzusehen, daß älter als der sinnliche Himmel die Metapher Himmel ist, älter als meine Hand und mein Auge das Auge Gottes und die Hand Gottes. Wer ist denn im Himmel? Alle die sind im Himmel, die mir noch etwas zu sagen haben. Der Himmel ist die Zukunft, die auf mich selber wartet. Wäre niemand im Himmel, ich hätte keine Bestimmung. So aber lebe ich fröhlich dieser Zukunft entgegen. Das Himmelreich ist älter als die Astronomie. Denn im Himmel wird gesprochen und Auferstehung geschieht, wo jenseits des Todes der Gestorbene einen neuen Namen empfängt. Ob wir nun ganz sterben oder nur Teile unserer Sünde, es gibt tot, toter und am totesten in unserer Existenz. Wir sterben nicht nur auf dem Sterbebett. Wir sterben viele Male. So wie die Jungfrau am Hochzeitstage ihren Eltern abstirbt, und wie der Mann ja Mutter und Vater verlassen muß und dem Weibe anhangen, um sein Leben zu erfüllen. Aber seit Jesus dürfen wir doch eines sagen: Er ist wahrhaftig auf erstanden, denn er hat uns diese unendliche Veränderlichkeit unserer geistigen Existenz deutlich gemacht. Er hat sie uns eingekerbt, indem sie von jedem Menschen erwartet, vollzogen zu werden. Er hat uns erlaubt, ihm etwas zu verleihen. Er hat verzichtet, aus eigener Kraft zu leben. Er hängt von uns ab. Er wartet darauf, daß wir, jeder von uns, an unserem Ostersonntag sagen: Er ist wahrhaftig auferstanden!
Quelle: Eugen Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Zweiter Band, Heidelberg: Lambert Schneider, 1964, S. 428-448.
[1] Ich entnehme das Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung«, 3. Aufl. 1934.