Bild des unsichtbaren Gottes – Christus. Der Kolosserhymnus (Kol 1,15-20)
Von Ulrich Luz
In einem der frühesten neutestamentlichen Texte haben die ersten Christen ihre Erfahrungen ausgedrückt in Christus Gott zu begegnen. Er ist die sichtbare Manifestation des unsichtbaren, unfassbaren Gottes. In diesem sehr verdichteten Hymnus bekennen die Gläubigen, dass sie in Christus Gott „von Angesicht zu Angesicht“ begegnen. Sie drücken das Unglaubliche aus: Christus ist „Bild Gottes“.
Am Anfang des Kolosserbriefs steht einer der gewaltigsten Texte im Neuen Testament. Es ist ein feierlich, in kurzen Sätzen formulierter Text über Christus, den man normalerweise als „Hymnus“ bezeichnet. Vielleicht war er ein von der Gemeinde im Gottesdienst gemeinsam gesprochener Christuslobpreis. Man ist sich einig darüber, dass er von Paulus – oder von einem seiner Mitarbeiter oder Schüler, wenn er den Brief nicht selbst geschrieben hat – zitiert wird – er ist also älter, als der Kolosserbrief und ist einer der allerältesten christlichen Texte. Er besteht aus zwei Strophen und einer Zwischenstrophe. Die erste handelt von Christus als „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15), die zweite von Christus, dem „Anfang, dem „Erstgeborenen aus den Toten“ (Kol 1,18). Wir wenden uns zunächst der ersten Strophe zu. Sie lautet:
Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes,
Erstgeborener vor aller Schöpfung,
denn in ihm wurde alles geschaffen
in den Himmeln und auf der Erde,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
seien es Throne, seien es Herrschaften,
seien es Mächte, seien es Gewalten;
alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.
(Kol 1,15f)
Wir setzen bei der Schlussaussage ein: „Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen“. Damaligen Menschen war eine solche Aussage vertraut. Optimistische Stoiker wie der große Kaiser Mark Aurel, welche den ganzen Kosmos als Harmonie betrachteten, sagten von der Natur, dass alles „aus ihr, in ihr und zu ihr hin“ sei (Selbstbetrachtungen 4,23,2). Gebildete Juden wie Philo konnten das aufnehmen, sagten das aber nicht von der Natur, sondern von Gott, der die Welt geschaffen hat (Philo, Über die Cheruben 125). Sogar Paulus kann das einmal – fast pantheistisch – von Gott sagen (Röm 11,36). „Alles“ ist dabei umfassend gemeint.
Der Dichter unseres Lobpreises umschreibt „alles“ zunächst in jüdischer Terminologie: „im Himmel und auf der Erde“, und er wiederholt es dann in griechischer Terminologie: „das Sichtbare und das Unsichtbare“. Er meint nicht, dass die Welt an sich heil und gut sei – darum fährt er weiter: „seien es Throne, seien es Herrschaften, seien es Mächte, seien es Gewalten“. Die Welt ist also nach ihm durch böse Mächte und Gewalten beherrscht. Aber sie sind nicht autonom, sondern sie unterstehen Gott, der sie geschaffen hat. Die Welt ist also nicht an sich heil, harmonisch und gut, sondern sie untersteht einem anderen, der sie geschaffen hat, nämlich Gott. Gott ist wirklich ein anderer, denn er ist der Schöpfer der Welt. Zugleich aber ist er nicht fern von der Welt, gleichsam im Abseits, sondern die Welt ist bleibend „auf ihn hin“ geschaffen. Darin sind sich Juden und Christen – gegen die ihnen eigentlich nahe stehenden Stoiker – einig.
Ein Gekreuzigter – Bild Gottes
Aber nun macht unser christlicher Psalmdichter seine Schöpfungsaussage nicht von Gott, sondern von Christus. Von ihm sagt er, er sei „Bild“ Gottes und „Erstgeborener vor aller Schöpfung“. Das ist eine erstaunliche, ja fast verrückte Aussage. Da ist, vielleicht zwanzig Jahre früher, im fernen Palästina ein jüdischer Wanderprediger aufgetreten, nach kurzer Zeit öffentlichen Wirkens kläglich gescheitert und, wie viele andere vor und nach ihm, von der Weltmacht Rom als ein möglicherweise aufrührerischer und politisch gefährlicher Provinzbewohner „vorsorglich“ ans Kreuz geschlagen worden. Und nur wenige Jahre nachher sagen Menschen in Kleinasien von diesem Wanderprediger: Er ist Bild Gottes! Er ist Erstgeborener der Schöpfung. Nur weil wir uns an solche Aussagen nach fast zweitausend Jahren christlicher Geschichte längst gewöhnt haben, merken wir nicht mehr, wie erstaunlich sie ist. Für damalige Zeitgenossen war das, was diese Christen behaupteten, eine ganz besonders merkwürdige Form von Menschenvergottung, nicht die Vergottung eines „würdigen“ Menschen, zum Beispiel eines großen Philosophen oder eines Kaisers, sondern die Vergottung irgend eines eine barbarische Sprache sprechenden Provinzialen, der von einem römischen Statthalter sicher nicht ohne Grund hingerichtet worden war. Ein weiter nicht erwähnenswerter „minderwertiger, maßloser Aberglaube“, wie der gewiss nicht unfaire jüngere Plinius dem Kaiser Trajan schreibt (Briefe 10,96,8)! Wir fragen: Was meinten die Christen, wenn sie Christus als „Bild Gottes“ bezeichneten?
Nicht wenig! Denn „Bild“ meint nicht bloßes „Abbild“, sondern ist eine Wesensaussage. Vielleicht könnte man das Wort am besten mit „Manifestation“ übersetzen: In Christus „manifestiert“, d.h. zeigt sich Gott, aber nicht unter anderen, sondern exklusiv. Christus ist die Manifestation Gottes. Natürlich knüpft unser Text an die biblische Aussage vom Menschen als „Ebenbild“ Gottes an (Gen 1,27), aber nur formal. Schon lange vor den Christen hatten griechisch-sprachige Juden die göttliche Weisheit (Sap 7,25f) oder das göttliche Schöpferwort, den Logos (Philo, Über die Einzelgesetze 1,81), als „Bild“ Gottes bezeichnet. Von der Weisheit sagt Philo, sie sei „Anfang und Bild und Schauen Gottes“ (Über die Einzelgesetze 1,43). An seiner Weisheit, und d.h. nicht zuletzt an der Schöpfung, die Gott mit Hilfe der Weisheit gemacht hat, lässt sich Gott „schauen“. Und genau dies behaupten nun die Christen von Jesus. Das wäre vielleicht noch nachvollziehbar, wenn es ethisch gemeint wäre: Am Leben und an der Lehre Jesu lässt sich „schauen“, was Gott will, denn Jesus hat exemplarisch und anschaulich den Willen Gottes vorgelebt. Aber unser Text sagt weit mehr als dies.
Jesus ist für ihn nicht einfach ein Mensch, der irgendwann gelebt hat. Nein, Jesus ist „Erstgeborener vor aller Schöpfung“. Ihn hat Gott vor aller Schöpfung geschaffen. Jedoch nicht so, dass er zwar das zuerst geschaffene, aber doch eines unter vielen Geschöpfen gewesen wäre. Nein – er ist selbst Schöpfer. „In ihm“, oder wie man auch übersetzen kann, „durch ihn“ wurde alles geschaffen. Jesus ist geschaffen – und doch Schöpfer. Oder ist er gar nicht geschaffen? „Erstgeborener vor aller Schöpfung“ lässt beide Möglichkeiten offen. Wir erinnern uns an das viel später von der Kirche formulierte nizänische Glaubensbekenntnis: Jesus Christus ist „eingeboren, aus dem Vater geboren vor allen Äonen, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott, geboren, nicht geschaffen, wesensgleich mit dem Vater …“. In diesem kirchlichen Bekenntnis bewegen wir uns auf ähnlichen Höhen wie in unserem Lobpreis, obwohl es teilweise in anderen Denkkategorien formuliert ist. Jesus wird in Kol 1,16f ganz offensichtlich als ein göttliches Wesen verstanden. Es ist erstaunlich, dass dies zwanzig Jahre nach dem Tod Jesu von Nazaret bereits der Fall war.
Wir sind versucht, Einwände zu machen: Wenn Jesus in dieser Weise vergöttlicht wird, wie kann er denn noch sichtbares „Bild Gottes“ sein. Was soll denn an ihm noch „anschaulich“ sein, wenn das Eigentliche an ihm der Anschaulichkeit entzogen und in göttliche Sphären gehoben wird? Halten wir unsere Fragen noch einen Moment zurück und fragen weiter, woran der Verfasser dachte, wenn er von Christus als „Bild Gottes“ sprach. Wir kommen zur Zwischenstrophe:
Und er ist vor allem,
und alles hat in ihm Bestand,
und er ist das Haupt des Leibes.
(Kol 1,17-18a)
Der Weltschöpfer, hier also Christus, ist, so sagten wir, zwar ein anderer als die Welt, aber nicht einfach von ihr getrennt. „Alles hat in ihm Bestand“; er ist die Klammer, welche die Welt zusammenhält. Der Verfasser weiß, dass die Welt nicht aus sich selbst heraus harmonisch ist: Vielmehr muss einer da sein, der die auseinander brechende Welt mit seiner Kraft zusammenhält. Und eben der ist Christus. Darum ist er „das Haupt des Leibes“. Offensichtlich ist mit dem „Leib“ die Welt gemeint, die auch viele Stoiker und Orphiker als „Leib“ der Gottheit, die oft „Zeus“ genannt wurde, ansahen. Oder man könnte „platonisch“ sagen: Christus ist die „Weltseele“ einer Welt, die ohne „Seele“ dazu neigt, in ihre Bestandteile auseinander zu brechen. Wir merken wieder, dass wir mit einer solchen Interpretation vielleicht die Grenze zum Pantheismus schon überschritten haben. Vielleicht, um diese Grenze zu markieren und um Christus nicht zum innersten Prinzip der Welt selbst werden zu lassen, sagt der Verfasser denn auch: „Er ist das Haupt des Leibes“. Das „Haupt“ ist für ihn nicht nur Teil des Leibes, der Welt, sondern ihm übergeordnet, obwohl es mit ihm innig verbunden ist und ihn, wie der Verfasser des Kolosserbriefs später bildlich sagt, „durch Sehnen und Bänder unterstützt, zusammenhält“ (Kol 2,19).
Der Briefverfasser fügt allerdings zu „des Leibes“ noch hinzu: „d.h. der Kirche“. Von den meisten Forschern ist anerkannt, dass wir es hier mit dem ersten von zwei interpretierenden Zusätzen zum traditionellen Lobpreis zu tun haben; und auch ich gehe von dieser Annahme aus. Durch ihn wird die Nähe zum Pantheismus definitiv unterbrochen, und die Welt wird ein Stück weit von ihrem Schöpfer, Christus, weggerückt. Nicht von der ganzen Welt kann man sagen, dass alles in Christus Bestand hat. In der Welt tummeln sich ja die gottlosen Mächte und Gewalten, von denen die erste Strophe sprach, noch ganz gewaltig und sehr spürbar. Das gilt nur für die Kirche, denn sie ist Christi Leib. Sie steht der Welt gegenüber. Nur die Kirche ist „heile Welt“, aber die Welt als ganze noch nicht.
Wieder melden sich Einwände! Ist das nicht eine zu optimistische, ja illusionäre Vision der Kirche, die Paulus hat? Erfahren wir heute nicht immer wieder, dass gerade in der Kirche „Throne, Herrschaften, Mächte und Gewalten“ noch eine sehr große Rolle spielen? Zur Verteidigung des Paulus möchte ich aber immerhin daran erinnern, dass er derjenigen Kirche, die er als „Leib Christi“ versteht, der mit dem Haupt Christus eng verbunden ist, in 3,5-17 sehr ernsthaft ins Gewissen redet.
Gott wohnt in ihm
Wir fragen weiter: Wieso kommt der Verfasser unseres Textes dazu, ausgerechnet Jesus, diesen vor kurzem von den Römern hingerichteten Juden aus Palästina, als die Manifestation Gottes, als Schöpfer und als Haupt der Welt zu erklären? Darauf gibt vielleicht die zweite Strophe Lobpreises eine Antwort:
Er ist der Anfang
Erstgeborener aus den Toten,
damit er in allem der Erste sei,
denn in ihm gefiel es der ganzen Fülle zu wohnen,
und durch ihn alles zu versöhnen auf ihn hin,
indem er durch ihn den Frieden schuf,
sei es für das auf der Erde,
sei es für das in den Himmeln.
(Kol 1,18b-20)
Diese zweite Strophe preist Christus als den Anfang, nämlich als den Ersten, der aus dem Tode zum Leben gekommen ist. Die Menschen, die diesen Christuspsalm sprechen, sind also nicht Menschen, die gleichsam von Natur aus die Welt „heil“ und harmonisch finden, vielleicht, weil sie von Natur aus Optimisten sind. Sondern es sind die Erlösten, die mit Christus vom Tod ins Leben schreiten werden. Sie wissen, dass Christus nur darum die Manifestation Gottes ist, weil es der göttlichen Fülle gefallen hat, in Christus zu wohnen. Von Gott selbst ging die Initiative aus. Ihm selbst gefiel es, nicht etwa in einem Tempel, die man oft als Wohnung von Gottheiten verstand, sondern in diesem Menschen Jesus zu wohnen. Darum ist durch Christus „alles“ versöhnt und Friede entstanden für die ganze Welt, die himmlische und die irdische.
Woran denkt hier der Verfasser des Lobpreises? Man hat vieles vorgeschlagen. Man hat z.B. an große politische Herrscher erinnert, die immer und zu jeder Zeit sich als Friedensstifter verstanden haben und die Welt – natürlich in ihrem Sinne – zu pazifizieren versprachen. Pax Romana, Pax Sovietica oder Pax Americana nannten oder nennen wir solche Arten von „Frieden“. Vielleicht war der Kaiser das Gegenmodell, das der Dichter der Christuslobpreises vor Augen hatte. Man hat auch daran erinnert, dass Gott selbst der oberste Schirmherr des Friedens ist, der die Kämpfe zwischen den Staaten beendigt und Frieden und Gedeihen für alle schafft. Die Trompete, die jedes Jahr zu Beginn des jüdischen Neujahrsfests geblasen wird, ist Gottes Friedenstrompete, ein Signal gegen jeden Krieg (Philo, Über die Einzelgesetze 2,192). Paulus selbst spricht in 2 Kor 5,19 davon, dass „Gott in Christus die Welt mit sich versöhnte“. Er denkt dabei an die Sündenvergebung, die durch den Tod Christi Wirklichkeit geworden ist. Für Paulus ist die Sünde des Menschen die letzte Ursache dafür, dass im ganzen Kosmos Kriegszustand herrscht und die gesamte Schöpfung leidet (Röm 8,20). Darum fügt er in V. 20b das merkwürdig überschießende „durch sein Kreuzblut“ein, seinen zweiten Zusatz, durch den der ganze Satz holprig und überladen wird. Vielleicht hat bereits der Verfasser des Christuslobpreises vor ihm den von Christus gestifteten Frieden so verstanden.
Christus ist die sichtbare Manifestation des unsichtbaren Gottes, sagt unser Verfasser. Durch ihn wird die ganze Welt zur Welt Gottes, und durch ihn ist alles, was in der Welt zerrissen oder gottfeindlich war, versöhnt.
Ob er nicht den Mund zu voll nimmt? Ob wir nicht zuerst einmal ehrlich zugeben sollten, dass die Versöhnung und der Friede, den Christus durch den Kreuzestod gestiftet hat, keineswegs der Anfang des großen Friedens in der Welt war, sondern vielleicht eher der Anfang von neuen Spaltungen und Kriegen? Und dass das von Paulus zugefügte Kreuzesblut Christi keineswegs zur Grundlage der Versöhnung für die ganze Menschheit geworden ist, sondern eher sie gespalten hat, in solche, die an Christus glauben, und in solche, die das nicht wollen oder können? Und wenn ich mir nochmals einen Hinweis auf die Kirche erlauben darf, die nach Paulus der „Leib“ des Hauptes Christus ist: Ist sie wirklich ein Instrument der Versöhnung der Welt, das sie nach Paulus sein muss und sein darf? Oder ist sie eher ein Instrument der Spaltung der Welt in christliche und nichtchristliche Segmente, die sich unversöhnlich gegenüber stehen? Und sind die Kirchen nicht selbst eine lebendige Verkörperung dieser Spaltung? Es gibt ja so viele Kirchen!
Gott mit uns
Ich möchte zum Schluss einen exegetischen Hinweis geben und zwei Vorschläge für heutige Leser/innen machen. Der exegetische Hinweis: Vergessen wir nicht, dass dieser Text ein Lobpreis ist, ein Gebet also, kein Lehrtext. Er sagt, für wen wir Gott zu loben und für was wir ihm zu danken haben. Er sagt, wie Gott durch Christus sich für uns manifestieren will: als Versöhner, als Friedensstifter, der die Menschen und die Welt zusammenführt. Er gibt uns damit auch eine inhaltliche Leitlinie, an die wir uns halten können, wenn Gott für uns unerkennbar geworden ist in der Zerstrittenheit der Religionen und ihrer Gottesbilder und in der Gespaltenheit des Christus und seiner Kirchen. Wenn man diesen Text aus göttlicher Perspektive lesen will, so ist er am ehesten ein Versprechen und eine Verheißung, und wenn man ihn aus menschlicher Perspektive liest, so ist er ein Lob und ein Dank dafür. Eine neutrale Beschreibung von Wirklichkeit ist er nicht, weder derjenigen Gottes oder Christi, noch derjenigen der Menschen oder der Kirche.
Und nun mein erster Vorschlag. Ich mache ihn vor allem für die Leser/innen, die an den Kirchen resigniert sind. Ich schlage vor, den Zusatz „d.h. der Kirche“, den Paulus in V. 18 dem Wort „Leib“ zugefügt hat, für einmal wegzulassen und den Christuspsalm so zu hören, wie er ursprünglich wohl gelautet hat. „Christus ist das Haupt des Leibes“ – d.h. nicht speziell der Kirche, sondern der ganzen Menschheit und der ganzen Welt. Das will Christus sein, und das will Gott durch Christi Versöhnungswerk erreichen: Frieden und Versöhnung in einer Welt, die auf Gott hin geschaffen ist und durch Christus ihren Bestand hat. Wir haben vielleicht Christus in unseren allzumenschlichen Kirchen zu sehr eingesperrt und ihn dadurch klein und zweideutig gemacht. Christus, die Manifestation des unsichtbaren Gottes, ist größer als seine Kirchen-Leiber und lässt sich in ihnen nicht einsperren. Er ist Schöpfer und Versöhner für die ganze Menschheit.
Mein zweiter Vorschlag ist für solche heutige Leser/innen, für die der vergottete Christus kein „Gottesbild“ mehr ist, das sie wirklich „schauen“ können, weil heute alles Göttliche – auch der Christus von Kol 1,15-20 – unanschaulich und unsichtbar geworden ist. Mein Vorschlag geht dahin, unseren Text „kanonisch“ zu lesen. Die Aussage, dass Christus „Bild“ Gottes ist, ist eine neutestamentliche Kernaussage und wird im Neuen Testament auf ganz verschiedene Weisen ausgedrückt. Eine Möglichkeit, dasselbe auszudrücken, stellt das Matthäusevangelium vor: Es sagt: Jesus ist „Immanuel“, „Gott mit uns“, d.h. die konkrete Art und Weise, wie Gott bei uns gegenwärtig ist (Mt 1,23; vgl. 28,20). Im Unterschied zum himmlischen Christus des Kolosserbriefs ist der matthäische Jesus, der Kranke heilt, die Ethik der Bergpredigt verkündet, die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel wirft und schließlich selbst in tiefer Gottverlassenheit stirbt, wirklich „anschaulich“ und heutigen Menschen nahe. Ihn können auch heutige Menschen „sehen“. Auch er ist „Bild Gottes“.
Bibel und Kirche 63 (2008), S. 13-17.