Karl Barth, Rechtfertigung und Recht (1938): „Anders steht es mit der Frage, ob der Staat das Recht hat, zur Verstärkung seiner Macht seine Untertanen und Bürger in irgend einer Form innerlich für sich in Anspruch zu nehmen und also eine von ihm her bestimmte Weltanschauung oder doch weltanschauungsmäßige Sentiments und Ressentiments von ihnen zu fordern. Diese Frage ist vom Neuen Testament her rundweg zu verneinen.“

Rechtfertigung und Recht (1938)

Von Karl Barth

Die Überschrift „Rechtfertigung und Recht” hat die Bedeutung eines Stich- und Merkwortes für die in diesen zwei Worten nur angedeutete Frage, mit der ich mich in dieser Arbeit beschäftigen möchte.

Die Frage lautet zunächst: Gibt es eine Beziehung zwischen der Wirklichkeit der von Gott in Jesus Christus ein für allemal vollzogenen Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und dem Problem des menschlichen Rechtes: eine innere, eine notwendige, eine solche Beziehung, durch die mit der göttlichen Rechtfertigung auch das menschliche Recht in irgend einem Sinn zum Gegenstand des christlichen Glaubens und der christlichen Verantwortung und damit auch des christlichen Bekenntnisses wird? Aber wir können offenbar dasselbe sofort auch unter Einsetzung anderer Begriffe fragen: Gehört das Problem der Ordnung, die nicht mehr oder noch nicht die des Reiches Gottes, das Problem des Friedens, der nicht mehr oder noch nicht der ewige Gottesfriede, das Problem der Freiheit, die nicht mehr oder noch nicht die Freiheit der Kinder Gottes ist — gehört das Alles mit hinein in den Bereich der Wirklichkeit der neuen Zeugung der Menschen durch Gottes Wort, in die Wirklichkeit seiner Heiligung durch den Geist? Gibt es bei aller Verschiedenheit in irgend einer inneren und notwendigen Zugehörigkeit neben dem etwa Jak. 1, 27 bezeichneten Gottesdienst der christlichen Existenz und außer und neben dem, was wir als den „Gottesdienst” der Gemeinde als solchen zu bezeichnen pflegen, auch so etwas wie einen politischen Gottesdienst, d. h. nun eben einen Dienst Gottes, der, allgemein gesagt, in der Auseinandersetzung mit allen jenen Problemen oder, in Wiederaufnahme unseres Stichwortes gesagt, in irgend einer Anerkennung, Förderung, Verteidigung, Verbreitung menschlichen Rechtes nicht trotz, sondern gerade wegen der göttlichen Rechtfertigung bestehen würde? In welchem Sinn kann und darf und muß man mit Zwingli unterscheidend, [14] aber doch auch verbindend in einem Atemzug „von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit” reden?

Man bemerke: das Interesse dieser Frage fängt dort an, wo das Interesse der reformatorischen Bekenntnisschriften und überhaupt der reformatorischen Theologie aufhörte oder doch erlahmte[1]. Daß es Beides gebe: die göttliche Rechtfertigung und das menschliche Recht, die Verkündigung Jesu Christi, den Glauben an ihn und das Amt und die Autorität der Obrigkeit, den Auftrag der Kirche und den Auftrag des Staates, das verborgene Leben des Christen in Gott und nun doch auch seine Bürgerpflicht — das haben uns die Reformatoren allerdings sehr kräftig eingeschärft. Und sie haben sich auch große Mühe gegeben, klar zu machen, daß Beides einander nicht widerspreche, wie Beides vielmehr sehr wohl nebeneinander bestehen und gelten könne. Es ist aber mit Händen zu greifen, daß sie uns hier — Luther in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit” von 1523 und Calvin in dem magistralen Schlußkapitel seiner Institutio nicht ausgeschlossen — etwas schuldig geblieben sind. Wir sollten doch offenbar nicht nur wissen, daß und inwiefern Beides einander nicht widerspricht, sondern zuerst und vor Allem: daß und inwiefern denn Beides zusammengehört. Auf diese Frage, auf die Frage nach dem Zusammenhang dessen, was sie hier — und gerade hier mit höchstem polemischen Nachdruck — bekannten, mit der sonst streng genug als solche geltend gemachten Mitte ihrer christlichen Botschaft bekommt man bei den Reformatoren keine oder in Form dürftigster Andeutung nur sehr unbefriedigende Antwort. Wie man sich auch zu dem Inhalt jenes letzten Institutio-Kapitels De politica administratione stellen möge (und wir haben Anlaß, uns auch zu ihm an sich sehr positiv zu stellen), das ist sicher, daß man bei seiner Lektüre an die früheren Teile des Werkes, insbesondere an das zweite und dritte Buch und deren Kardinalaussagen über Jesus Christus, den Heiligen Geist, die Sünde und die Gnade, den Glauben und die Buße nur wie an ein dem Reisenden auf einmal in merkwürdige Ferne gerücktes anderes Land zurückdenken kann. Denn darüber, inwiefern nun wirklich auch die politica administratio nach dem Titel [15] des vierten Buches zu den externis mediis vel adminiculis gehört, quibus Deus in Christi societatem nos invitat et in ea retinet, darüber wird man in diesem Kapitel bei allem Reichtum, den es sonst enthält, nur bescheidenste Belehrung finden. So steht es aber auch mit den entsprechenden Darlegungen Luthers und Zwinglis und so mit denen der lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften. Daß Obrigkeit und Gesetz auf einer besonderen ordinatio der göttlichen Vorsehung beruhe, nötig um der noch nicht überwundenen Sünde willen, dienlich dazu, die Menschheit vor deren greifbarsten Äußerungen und Folgen einigermaßen zu schützen und darum von ihr in Dankbarkeit und Ehrfurcht anzunehmen — das sind gewiß richtige und biblische Gedanken, das genügt aber nicht, um die Beziehung sichtbar zu machen, in der diese Sache mit der anderen steht, die die Reformation im übrigen als die entscheidende und letztlich alleinige Sache des Glaubens und des Bekenntnisses geltend gemacht hat. Was meint Calvin, wenn er einerseits versichert, spirituale Christi regnum et civilem ordinationem res esse plurimum sepositas[2], um dann andererseits doch zweimal[3] die Stelle Ps. 2, 10 f. auf die Unterordnung aller irdischen Machthaber unter Christus zu deuten und um das ideale Ergebnis jener göttlichen ordinatio dann doch als die politia christiana zu bezeichnen[4]? Inwiefern christiana? Was hat Christus mit dieser Sache zu tun? fragen wir und werden mit dieser Frage wirklich ohne Antwort stehen gelassen, als ob ein besonderes Walten einer allgemeinen, gewissermaßen anonymen Vorsehung hier doch das letzte Wort wäre. Und wenn wir bei Zwingli[5] den starken Satz lesen, die weltliche Gewalt habe „Kraft und Befestigung aus der Lehre und Tat Christi”, so lautet die Erklärung dieses Satzes enttäuschenderweise doch nur dahin, daß Christus nach Matth. 22, 21 geboten habe, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers, Gott, was Gottes ist, und daß er das durch die Leistung des Didrachmon (Matth. 17, 24 f.) selber bestätigt habe. Das ist wieder an sich ganz richtig[6]; aber, so beziehungslos gesagt, ist das trotz der Anrufung der Evangelientexte keine evangelische, sondern eine gesetzliche Begründung. [16]

Man wird diese Lücke in der Unterweisung, die wir von den Vätern unserer Kirche empfangen haben, den Mangel an einer evangelischen und das heißt im strengen Sinn: christologischen Begründung dieses Teils ihres Bekenntnisses weder übersehen noch leicht nehmen können. Daß sie auch hier nur biblisches Gut zur Darstellung bringen wollten, kann natürlich keine Frage sein. Wohl aber besteht die Frage: ob und inwiefern sie bei der Einführung dieses biblischen Gutes in ihr Bekenntnis der Richtschnur folgten, an die sie sich sonst für gebunden hielten, ob sie nämlich auch das Recht auf die Rechtfertigung, auch die politische Gewalt auf die Gewalt Christi begründet oder ob sie hier nicht heimlich auf einem anderen Grund gebaut und damit dann trotz alles scheinbaren Biblizismus jenes biblische Gut doch nicht wirklich zur Darstellung gebracht haben? Man bedenke, was geschehen mußte, wenn dem so war: war der Gedanke des menschlichen Rechtes der Erkenntnis der göttlichen Rechtfertigung bloß angeklebt, statt sachlich mit ihr verbunden, dann mußte es einerseits möglich sein, die Erkenntnis der göttlichen Rechtfertigung von dem fremden Zusatz gewissermaßen zu reinigen und auf sie eine sehr spirituale Botschaft und Kirche zu begründen, die in großer Innerlichkeit Alles von Gott und von Gott Alles zu erwarten vorgab, und die dieses „Alles” nun doch faktisch bestritt, indem sie zu det ganzen Welt des menschlichen Fragens nach Recht und Unrecht vor lauter Reich Gottes, Sündenvergebung und Heiligung keinen Zugang mehr suchte und fand. Und es mußte dann andererseits möglich sein, die Frage nach dem menschlichen Recht mit festem Griff, vielleicht immer noch unter Berufung auf die allgemeine göttliche Vorsehung, aber nun gelöst aus dem reformatorischen Nebeneinander von Recht und Rechtfertigung selbständig in die Hand zu nehmen und eine säkulare Botschaft und Kirche des Menschenrechts zu bauen, bei dessen emphatischer Zurückführung auf „Gott” es doch nicht verborgen bleiben konnte, daß damit der, der der Vater Jesu Christi ist, daß also seine Gerechtigkeit mit dem proklamierten Menschenrecht auf keinen Fall gemeint sein könne. Diese beiden Möglichkeiten und damit die pietistische Unfruchtbarkeit auf der einen, die aufklärerische auf der andern Seite sind bekanntlich seit der Reformation in vielen Spielarten Wirklichkeit geworden. Man wird aber nicht gut leugnen können, [17] daß zwischen dieser Tatsache und jener Lücke in der reformatorischen Unterweisung ein Zusammenhang besteht. Und nun stehen wir heute in einer Zeit, in der einerseits auf dem Boden der Kirche die Frage nach der göttlichen Rechtfertigung und andererseits im politischen Leben die Frage nach dem menschlichen Recht in je ganz neuer Eigenart und Schärfe erwacht sind und hier wie dort auf heute noch unübersehbare Entwicklungen hinzudrängen scheinen. Es liegt nahe, sich heute dessen wieder zu erinnern, daß beide, Rechtfertigung und Recht, oder: das Reich Christi und die anderen Reiche, oder: die Kirche und der Staat im reformatorischen Bekenntnis einst nebeneinander gestanden, daß die Reformatoren unter einem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit ein Leben in diesem und in jenem Bereich verstanden haben. Aber wenn es heute nicht alsbald aufs Neue zu jenen unfruchtbaren und gefährlichen Scheidungen kommen soll, dann genügt es heute nicht, sich der Reformation zu erinnern, die Formeln, in denen sie die beiden Bereiche nebeneinandergestellt hat, zu wiederholen, „die reformierte Staatsauffassung” und dergleichen noch und noch einmal mit mehr oder weniger historischer Treue und nachempfindendem Pathos zu rezitieren, als wäre jene Lücke nicht vorhanden, als trüge die reformatorische Lehre mit jener Lücke die Versuchung zu jenen Scheidungen nicht in sich. Wenn die eigentümliche Dynamik unserer Zeit uns zum Heil und nicht zum Unheil werden soll, dann muß die eingangs formulierte Frage gestellt werden: die Frage nach dem sachlichen und also inneren und notwendigen Zusammenhang der beiden Bereiche.

Was hier vorgelegt wird, ist eine Studie und zwar eine biblische, genauer neutestamentliche Studie zur Beantwortung dieser Frage. Die Problematik der reformatorischen Lösung ist ja entscheidend die Problematik des damals in dieser Sache maßgebenden Schriftbeweises. Sollen wir heute weiterkommen, so müssen wir auf alle Fälle zunächst auf die Schrift zurückgehen. Dazu soll hier ein Teilversuch gemacht werden[7]. [18]

Ich beginne, indem ich als, soweit ich sehe, letzte wichtigere Kundgebung der in dieser Sache zuständigen theologischen Fachwissenschaft in einigen Sätzen das wiedergebe, was K. L. Schmidt in seiner Basler Antrittsvorlesung vom 2. Dezember 1936 unter dem Titel „Das Gegenüber von Kirche und Staat in der Gemeinde des Neuen Testamentes”[8] zu unserem Thema herausgearbeitet hat: Die grundlegende Belehrung der Kirche über ihr Verhältnis zum Staat ist „das grelle Bild der Hinrichtung Jesu Christi durch seine Behörde”. Was ist dieser Staat? Er ist eine von jenen jederzeit von der Dämonisierung, d. h. von der Selbstverabsolutierung bedrohten Engelmächten (ἐξουσίαι) dieses Äons. Was ist ihm gegenüber die Kirche? Sie ist das eigentliche πολίτευμα des neuen Himmels und der neuen Erde, als solches jetzt und hier allerdings noch verborgen und also im Raume des Staates eine Fremdengemeinschaft (παροικία). Aber die Solidarität der Not und des Todes verbindet die Christen wie mit allen Menschen so auch mit den Trägern der Staatsgewalt. Indem die Kirche lieber die Verfolgung durch die zum „Tier aus dem Abgrund” gewordene Staatsgewalt erduldet, als die Vergötterung des Cäsars mitmacht, weiß sie sich doch auch für ihn verantwortlich und betätigt sie diese ihre Verantwortlichkeit, ihren „prophetischen Wächterdienst”, zuhöchst und entscheidend, darin, daß sie für ihn und seine Beamten unter allen Umständen betet. — Schmidt’s Darstellung beschäftigt sich ausdrücklich nur mit einem Ausschnitt des Problems „Kirche und Staat im Neuen Testament” und zwar mit der [19] unserer Frage scheinbar gerade entgegengesetzten Frage nach dem „Gegenüber” der beiden Bereiche. Es scheint mir wichtig, festzustellen, daß auch bei dieser anderen Problemstellung bei Befragung des Neuen Testamentes eine ganze Reihe von Gesichtspunkten unvermeidlich sichtbar wurde, die nun doch auch zur Beantwortung unserer Frage nach dem positiven Zusammenhang der beiden Bereiche von höchster Bedeutsamkeit sind, so sichtbar, daß ich mich im Folgenden einfach an diese Reihe halten kann. [20]

1. Das Gegenüber von Kirche und Staat als solches

Auch ich halte es für richtig und wichtig, zunächst auf das „Gegenüber” von Jesus und Pilatus hinzuweisen. Die Reformation hat in ihrer Lehre von Kirche und Staat, soweit ich sehe, in den ganzen doch ziemlich inhaltsreichen evangelischen Texten, die sich mit dieser Begegnung beschäftigen, nur an dem Wort Joh. 18, 36: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt” Interesse genommen. Sie hätte es offenbar als eine Störung ihrer Gedanken über den Kurfürsten von Sachsen oder den Rat von Zürich und Genf empfunden, hätte sie sich dabei allzu intensiv gerade an Pilatus erinnern lassen müssen. Aber wäre hier nur Störung zu erwarten gewesen und nicht vielleicht gerade eine bessere Begründung dessen, was sie in dieser Sache sagen wollte? Hier ist jedenfalls Einiges nachzuholen[9].

In der Tat: Der Staat in seiner Dämonisierung und damit sein Charakter als Macht dieses Äons auf der einen, die Heimatlosigkeit der Kirche in diesem Äon auf der anderen Seite — das wird in dieser Begegnung „grell” genug sichtbar: Hätten die Archonten dieses Äons[10] die Weisheit Gottes, die „wir”, die Apostel, reden zu den Vollkommenen, erkannt, „so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt”. Sie zeigten dort, daß sie sie nicht erkannt haben (1. Kor. 2, 6 f.). — Aber die Belehrung über die Diastase zwischen Kirche und Staat war und ist nicht die einzige Belehrung, die die Gemeinde aus den mit der Begegnung von Jesus und Pilatus beschäftigten Texten zu gewinnen hat.

Ich verweise zunächst auf Joh. 19, 11: Hier bestätigt Jesus dem Pilatus ausdrücklich, daß er ἐξουσία über ihn habe und zwar nicht eine zufällige, oder angemaßte, sondern eine ihm „von oben” gegebene[11]. Und diese ἐξουσία ist gar nicht etwa an sich und als solche eine Macht des Bösen, der Feindschaft gegen Jesus und seinen Anspruch. Pilatus selbst hat die Sache in dem vorangehenden v 10 dahin formuliert: „Ich habe Macht, dich frei zu sprechen und ich habe Macht, dich zu kreuzigen”. Sie konnte als von Gott gegebene Macht und ohne diesen Charakter zu verlieren, Jesus gegenüber so und so gebraucht werden. Wäre Jesus von Pilatus frei gesprochen worden, dann hätte das zwar gewiß nicht bedeutet: die Legitimierung [21] Jesu als des Königs, der dazu geboren und in die Welt gekommen ist, daß er für die Wahrheit zeuge (Joh. 18, 37). Diese Legitimierung konnte und kann keines Pilatus Sache sein. Der Staat ist in der Wahrheitsfrage neutral: „Was ist Wahrheit?” (Joh. 18, 38). Wohl aber hätte dies und also die der Archonten dieses Äons als solchen mögliche Erkenntnis der Weisheit Gottes (1. Kor. 2, 8) bedeutet: Jesu Legitimierung, den Anspruch, dieser König zu sein, mit lauter Stimme unter den Menschen erheben zu dürfen: die rechtliche Freigabe der Verkündigung der Rechtfertigung! Pilatus hat Jesus nicht freigesprochen. Er hat seine Macht dazu gebraucht, Jesus zu kreuzigen. Jesus hat aber ausdrücklich anerkannt, daß sie auch so die ihm von Gott gegebene Macht sei. Unterwarf er sich damit nach der Meinung des Evangelisten dem Willen und Spruch einer allgemeinen göttlichen Vorsehung? Oder war dem Evangelisten etwa das wichtig an diesem anderen Gebrauch, den Pilatus von seiner ἐξουσία machte, daß er statt Recht zu sprechen dem Unrecht im Gewande des Rechtes seinen Lauf ließ? War hier nur das oder doch vorzugsweise das zu sehen und zu würdigen, daß der Staat sich mit dieser Entscheidung gegen die Kirche wendete? Nein, was jetzt, in diesem Gebrauch der ἐξουσία des Staatsmannes geschah, eben das war ja das einzig Mögliche, was in Vollstreckung des gnädigen Willens des Vaters Jesu Christi geschehen konnte! Eben indem er (immerhin im Gewande des Rechtes! in Ausübung der ihm von Gott gegebenen ἐξουσία) dem Unrecht seinen Lauf ließ, war er ja das menschlich geschöpfliche Werkzeug der durch diese Kreuzigung ein für allemal zu vollziehenden Rechtfertigung des sündigen Menschen. Man bedenke die geradezu unübersehbare Bedeutsamkeit des Vorganges im Lichte der paulinischen Botschaft: Indem Pilatus Jesus aus den Händen der Juden entgegennimmt, um ihn geißeln und kreuzigen zu lassen, ist er sozusagen der Mittelsmann, der ihn übernimmt im Namen der Heidenschaft, die eben damit ihre Solidarität mit der Sünde Israels offenbart, eben damit aber auch eintritt in die Gemeinschaft von Israels Verheißung. Was wäre aller Rechtsschutz, den der Staat dort der Kirche gewähren konnte und sollte, gewesen neben diesem Tun, in welchem er ja, menschlich gesehen, geradezu zum Begründer der Kirche wurde? Als welcher er sich denn auch [22] z. B. in dem Zeugnis des Centurio unter dem Kreuz (Mk. 15, 39) allen anderen Bekenntnissen vorangehend, ausdrücklich bestätigt hat. Das ist eine Belehrung, die die Kirche aus dem Gegenüber von Jesus und Pilatus jedenfalls auch zu gewinnen hat: Gerade der dämonisierte Staat kann wohl das Böse wollen, um dann doch in eminenter Weise das Gute tun zu müssen. Er kann seinem Dienst nicht entlaufen. Er entläuft ihm hier so wenig, wie er ihm nach Luk. 13, 1-5 entlaufen kann, wo derselbe Pilatus, zum Mörder an jenen Galiläern geworden, in der gleichen Weise zum Instrument des Bußrufes werden muß wie der ebenso mörderisch einstürzende Turm von Siloah. Eben darum kann dem Staat seine Ehre nicht verloren gehen. Eben darum muß seinen Vertretern nach dem Neuen Testament unter allen Umständen Ehre erwiesen werden (Röm. 13, 8; 1. Petr. 2, 17).

In dieselbe Richtung weist bei den Synoptikern die Barabbas-Episode. Was tut denn Pilatus, indem er den „berüchtigten” (Matth. 27, 16), den „wegen Aufruhrs und Totschlags ins Gefängnis gesetzten” (Luk. 23, 25) Barabbas frei gibt, den von ihm selbst als unschuldig erkannten Jesus aber preisgibt zur Geißelung und Kreuzigung? Man wird doch bei aller Wunderlichkeit dieser Justiz nicht übersehen dürfen: eben in diesem Tun des Staatsmannes konnte bestimmt keiner unter den ersten Lesern der Evangelien an etwas Anderes denken als an das Tun Gottes, in welchem er „den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde machte, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden” (2. Kor. 5, 21). Was tut hier der höchst ungerechte menschliche Richter? Er vollstreckt gerade als solcher in eminenter, in direkter Weise den Spruch des höchst gerechten göttlichen Richters. Wo wäre die Kirche, wenn dieser an der Stelle des unschuldigen Jesus frei gegebene Barabbas, wenn also dieser dämonisierte Staat nicht wäre?

Man sollte aber endlich in den Pilatustexten auch dies nicht übersehen: Jesus wurde nicht verurteilt als staatsgefährlicher „König der Juden”, obwohl er nach Matth. 27, 11; Mark. 15, 2 dieser zu sein selber bekannte[12]. Jesus wurde genau genommen überhaupt nicht verurteilt. Alle vier Evangelien überbieten sich vielmehr in der Feststellung: Pilatus erklärte ihn für unschuldig, [23] für einen Gerechten! (Matth. 27, 19, 24; Mk. 15, 14; Luk. 23, 14, 15, 22; Joh. 18, 38; 19, 4, 6)[13] Der dämonisierte Staat ist offenbar gerade in diesem Gegenüber nicht etwa der Staat, der zu viel, sondern der zu wenig Staat ist, der im entscheidenden Augenblick sich selber treu zu sein unterläßt. Selbstverabsolutierung des Staates? Hätte sich doch Pilatus als Staatsmann absolut ernst genommen! Er mußte ja seine ἐξουσία anders gebrauchen, als er es getan hat. Daß er sie dennoch so brauchte, wie er es tat, das konnte nicht hindern, daß sie sich als von oben ihm gegebene nun erst recht erwies. Er konnte sie aber nicht brauchen, wie er es getan hat, ohne sich damit in Widerspruch zu seinem Amt zu setzen, ohne, im Gewande des Rechts handelnd, das Recht, das er hochhalten sollte, niederzutreten, eben damit aber zu bezeugen, daß er, seinem Auftrag entsprechend, anders hätte entscheiden müssen. Wird er, indem er das Recht beugt, zum unfreiwilligen Vollstrecker und Verkündiger der göttlichen Rechtfertigung, so macht er doch zugleich sichtbar, daß eine wirkliche menschliche Rechtsprechung, ein wirkliches Zeigen des wahren Gesichts des Staates unfehlbar die Legitimierung der freien und bewußten Verkündigung derselben göttlichen Rechtfertigung, des Reiches Christi, das nicht von dieser Welt ist, hätte bedeuten müssen.

Wir werden diese doppelte positive Bestimmung des Gegenübers der beiden Bereiche, wie sie gerade in diesem kritischsten Falle sichtbar wird, nicht wieder aus den Augen verlieren dürfen. Man kann gerade im Blick auf diesen kritischsten Fall nicht wohl sagen, daß die Rechts­ordnung des Staates „mit der der Erlösungsordnungen nichts zu tun” habe, daß wir uns hier im Bereich des ersten und nicht des zweiten Glaubensartikels befänden[14]. Nein, gerade Pontius Pilatus gehört nun einmal nicht nur ins Credo, sondern wirklich in dessen zweiten Artikel! [24/25]

2. Das Wesen des Staates

Es darf wohl als rätselhaft bezeichnet werden, daß in der Exegese der doch wahrhaftig zu allen Zeiten viel beachteten Stelle, Röm. 13, 1-7, nachdem eine von Irenaeus[15] erwähnte alte Auslegung sich offenbar nicht durchgesetzt hatte, erst in den letzten Jahren wieder mit Nachdruck[16] auf den doch von jeher offenkundigen Sachverhalt aufmerksam gemacht worden ist, daß das Wort ἐξουσίαι, das Paulus dort in v 1 und ebenso in Tit. 3, 1, das aber gelegentlich (12, 11) auch Lukas zur Bezeichnung der politischen Obrigkeit verwendet, überall da, wo es im Neuen Testament sonst im Pluralis (oder im Singularis mit πᾶσα) auftritt (1. Kor. 15, 24; Kol. 1, 16; 2, 10, 15; Eph. 1, 21; 3, 10; 6, 12; 1. Petr. 3, 22) zweifellos eine Gruppe von den für das biblische Welt- und Menschenbild so bezeichnenden Engelmächten meint. ἐξουσίαι sind wie ἀρχαί oder ἄρχοντες, δυνάμεις, θρόνοι, κυριότητες, ἄγγελοι usf. und von diesen allen begrifflich wohl schwer zu unterscheiden (wahrscheinlich mit ihnen unter dem Gattungsbegriff ἄγγελοι zusammenzufassen): geschöpfliche, aber unsichtbar-geistig-himmlische Mächte, die in und über der sonstigen Schöpfung eine gewisse Selbständigkeit und in dieser Selbständigkeit auch eine gewisse überlegene Würde, Aufgabe und Funktion haben, einen gewissen realen Einfluß ausüben. Die von G. Dehn gebotenen Nachweisungen verstärken die zunächst aus dem Sprachgebrauch sich ergebende hohe Wahrscheinlichkeit, daß die neutestamentliche Gemeinde, wenn sie über den Staat, den Καῖσαρ oder βασιλεύς und seine Vertreter und deren Tätigkeit nachdachte, das Bild einer solchen in ihm repräsentierten und wirksamen Engelmacht vor Augen hatte. Der Begriff ἐξουσία im Singularis ist uns ja bereits begegnet als Bezeichnung der dem Pilatus gegebenen Möglichkeit, Jesus frei zu sprechen oder zu kreuzigen. Ebenso der Begriff ἄρχοντες, bei dem man 1. Kor. 2, 8 sicher an den Staat und — eben an eine Engelmacht zu denken hat[17]. Was bedeutet das? Man hat mit Recht hervorgehoben[18], daß damit erklärt ist, wieso der Staat aus dem durch Gottes Willen und Anordnung eingesetzten Schützer des Rechtes von Röm. 13 zu dem vom Drachen ermächtigten, den Cäsarenkult fordernden, [26] die Heiligen bekriegenden, Gott lästernden, die ganze Welt erobernden Tier aus dem Abgrund von Apc. 13[19] werden kann. Eine Engelmacht kann eben verwildern, entarten, sich verkehren und so zur Dämonenmacht werden. Der Jesus kreuzigende Pilatus-Staat ist das offenbar geworden. Die Warnung vor der bei solcher Dämonisierung der Engelmächte möglich werdenden Täuschung der Christen, vor einer θρησκεία τῶν ἀγγέλων (Kol. 2, 18), der Aufruf zu den nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit den Mächten, den Gewalten, den κοσμοκράτορες der Finsternis auszufechtenden Ringkampf (Eph. 6, 12), aber auch der Trost, daß sie uns von der Liebe Christi nicht trennen können (Röm. 8, 38 f.)[20] und der Ausblick auf ihre endliche „Aufhebung” durch Christus in seiner Parusie (1. Kor. 15, 24), das Alles kann sich mehr oder weniger direkt auch auf die politischen Dämonen und Dämonien beziehen.

Aber gerade die zuletzt genannte Stelle mahnt zur Vorsicht. Mit der Feststellung der Diastase zwischen Christus und dem Staat dürfte nicht einmal im Blick auf das „Tier aus dem Abgrund” das letzte Wort gesagt sein. Ich halte es für bedenklich, das καταργεῖν1. Kor. 15, 24 mit „vernichten” zu übersetzen, so gewiß es diesen Sinn an andern Stellen tatsächlich hat. Denn unmittelbar nachher, v 25, heißt es: „Er muß herrschen, bis daß er alle Feinde unter seine Füße lege”, das heißt aber: souverän über sie verfüge. Das ist auch das Bild von Phil. 2, 9 f.: „Darum hat Gott ihn erhöht und ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, damit in dem Namen Jesu sich beugen solle jedes Knie derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind” — von Eph. 1, 21: „Er hat ihn zu seiner Rechten gesetzt im Himmel über alle Herrschaft und Macht und Kraft …” — von 1. Petr. 3, 22: „Der zur Rechten Gottes ist, nachdem er in den Himmel gefahren und ihm die Engel und Mächte und Kräfte unterworfen sind.” Das ist auch das Bild der besonders drastischen Stelle Kol. 2, 15: „Nachdem Gott die Herrschaften und Gewalten entwaffnet, führte er sie öffentlich zur Schau und machte sie zu einem Triumph in Christus.” Nicht vernichtet, sondern zum Dienst und zur Verherrlichung [27] Christi und durch ihn Gottes gezwungen zu werden, ist danach die in Christi Auferstehung und Parusie sichtbar werdende Bestimmung der störrischen Engelmächte. Dem entspricht aber auch der Anfang und die Mitte ihrer Geschichte. Ich sehe nicht recht ein, wie man von ihnen[21] ohne weiteres sagen kann, sie seien „die Welt, die von sich selbst als von einem anderen gelebt, lebendig ist” und als solche „die Antipoden der Schöpfung und ihre Verkehrung”: „In ihnen steht die einsame Welt auf”. Nach Kol. 1, 15 f. steht es doch vielmehr so, daß sie im Sohne Gottes als dem Ebenbild des unsichtbaren Gottes durch ihn und auf ihn hin erschaffen worden sind, und nach Kol. 2, 10 so, daß sie in ihm ihr Haupt haben. Sie gehören also von Haus aus gerade nicht sich selber. Sie stehen von Haus aus zu Jesu Christi Verfügung. Sein Werk gilt auch ihnen: Er ist „erschienen den Engeln” (1. Tim. 3, 16). Die Heidenpredigt des Paulus hat zur Folge, daß ihnen διὰ τῆν ἐκκλησίαν, durch die Existenz der Kirche „die mannigfaltige Weisheit Gottes” kundgegeben wird” (Eph. 3, 10)[22]. Mit der Gemeinde gelüstet es auch sie, hineinzuschauen in das künftig zu offenbarende Geheimnis der σωτηρία (1. Petr. 1, 12). Und sie assistieren nicht nur als Zuschauer: auch für sie steht in Kraft die in der Kreuzigung Christi vollzogene Friedensstiftung (Kol. 1, 20) und ἀνακεφαλαίωσιν (Eph. 1, 10), die ja an beiden Stellen auf die Erde und auf den Himmel bezogen wird. Man bemerke wohl: von einer Rechtfertigung der Dämonen und Dämonien ist nicht die Rede, wie denn die ganze Funktion Christi den Engelmächten gegenüber mit der Rechtfertigung direkt nichts zu tun hat. Wohl aber scheint sie Einiges mit dem Recht zu tun zu haben. Denn davon ist allerdings die Rede, daß in Christus auch die Engelmächte, soweit sie dessen bedürfen, zur Ordnung gerufen, in ihre ursprüngliche Ordnung gebracht sind, so daß alle weitere Rebellion in diesem Bereich grundsätzlich nur noch ihrer Schöpfung in Christus entsprechend, innerhalb dieser Ordnung, nur noch in Form eines widerwilligen Dienstes am Reiche Christi, geschehen kann, bis auch diese Rebellion innerhalb der Grenzen des Reiches Christi in dessen Auferstehung und Parusie gebrochen ist. Ein Herausbrechen, ein Entrinnen der Engelmächte [28] aus dieser ihrer ursprünglichen und endlichen Ordnung gibt es schon jetzt, in der von seiner Auferstehung und Parusie umklammerten Zeit, nicht mehr.

Was folgt daraus, wenn das Alles auch auf die politische Engelsmacht anzuwenden ist? Offenbar dies: daß diese Macht, daß der Staat als solcher ursprünglich und endlich zu Jesus Christus gehört, daß er in seiner relativ selbständigen Substanz, Würde, Funktion und Zielsetzung der Person und dem Werk Jesu Christi und also der in ihm geschehenen Rechtfertigung des Sünders zu dienen hat. Dämonisieren kann er sich wohl und das Neue Testament macht kein Hehl daraus, daß die Gemeinde es jederzeit mit dem dämonisierten Staat zu tun haben kann und tatsächlich zu tun hat. Die Dämonisierung des Staates wird freilich auch unter diesem Gesichtspunkt weniger, wie man gewöhnlich betont, in einer illegitimen Verselbständigung als gerade in dem Verlust seiner legitimen, relativen Selbständigkeit, in einem Verzicht auf seine eigentliche Substanz, Würde, Funktion und Zielsetzung bestehen, neben dem dann der Cäsaren-Kult, der Staats-Mythus und dergleichen mehr Folgeerscheinungen sind. Es kann aber aus dem, was dieser dämonisierte Staat will und versucht, unter allen Umständen nichts werden, er wird zähneknirschend dennoch und gerade da dienen, wo er herrschen, da bauen, wo er zerstören, da Gottes Gerechtigkeit bezeugen, wo er menschliche Ungerechtigkeit offenbaren möchte. Und wohlverstanden: die Dämonisierung des Staates kann auch unterbleiben[23]. Es ist im Neuen Testament nicht an dem, daß der Staat sich sozusagen naturnotwendig früher oder später, so oder so, als das Tier aus dem Abgrund gebärden müßte. Wie sollte er das müssen, da doch auch er in Christus durch ihn und zu ihm geschaffen, da auch ihm durch die Kirche die mannigfaltige Weisheit Gottes kundgetan ist? Von seinem eigenen Ursprung her und in seiner konkreten Begegnung [29] mit Christus und seiner Kirche könnte er ja auch — nicht etwa selber Kirche sein, wohl aber (seiner Substanz, Würde, Funktion und Zielsetzung entsprechend und also sich selber treu, statt sich selber preisgebend!) Recht sprechen und das Recht schützen und damit dann sicher — gewollt oder ungewollt, sehr indirekt aber tatsächlich — der Botschaft von der Rechtfertigung freie, gesicherte Bahn geben. Man kann es gerade im Lichte der neutestamentlichen Engellehre unmöglich von sich weisen, auch damit zu rechnen, daß der Staat seine der Wahrheit gegenüber neutrale Existenz faktisch auch darin betätigen kann, daß er der Kirche gerade als echter und rechter Staat den Dienst leistet, den er ihr leisten kann: daß er ihr echte und rechte Freiheit gibt, „daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit” (1. Tim. 2, 2). Kann er der realen Unterordnung, in der er existiert, nicht entrinnen, wenn er zum Unrechtsstaat und zum Verfolger der Kirche wird, so kann er doch in derselben realen Unterordnung auch als Rechtsstaat sein wahres Gesicht — in praxi wird das wohl bedeuten: wenigstens einen Teil seines wahren Gesichtes — zeigen, wie er es etwa dem Paulus der Apostelgeschichte gegenüber weithin getan zu haben scheint[24]. Es würde also von der Kirche her wirklich keinen Sinn haben, zu tun, als befände sie sich dem Staat und den Staaten gegenüber in einer Nacht, in der alle Katzen grau sind. Es geht vielmehr auch in den der Kirche gegenüberstehenden Staaten dauernd um Entscheidungen und darum auch um Unterschiede zwischen Staat und Staat, zwischen dem Staat gestern und dem Staat heute, die als solche zu beachten sind. Daß es in der Gemeinde nach 1. Kor. 12, 10 unter anderen Gaben auch die zur διακρίσιν πνευμάτων gibt, das würde, wenn unter diesen πνεύματα wieder die Engelmächte zu verstehen sein sollten, von da aus auch eine in Predigt, Unterweisung und Seelsorge wohl zu beachtende politische Relevanz bekommen können. [30]

Ein entscheidender exegetischer Gewinn dieser ganzen Überlegung dürfte schließlich der sein, daß es in Röm. 13 von da aus nicht mehr zweifelhaft sein kann: Der Gott, von dem her die Obrigkeit ist, von dem jede faktisch bestehende Obrigkeit eingesetzt ist (v 1), dessen Anordnung sich der widersetzen würde, der jener widerstünde (v 2), dessen διάκονος sie heißt (v 4) und dessen λειτουργοί ihre Vertreter sind (v 6) — dieser Gott kann nicht losgelöst von der Person und dem Werk Christi, er kann gerade nicht im Allgemeinen als Schöpfer- und Regierergott verstanden werden, wie es mit der üblichen Auslegung die Reformatoren, aber auch die neueren Ausleger bis und mit Schlier und Dehn getan haben. Wir befinden uns, wenn das Neue Testament vom Staate redet, auch von dieser Seite gesehen grundsätzlich im christologischen Bereich: auf einer anderen Ebene, als wenn es von der Kirche redet, aber in eigentümlicher Parallele und Beziehung zu den Aussagen über die Kirche in einem und demselben, dem christologischen Bereich. Es genügt darum nicht[25] festzustellen, daß mit dem ὑπὸ Θεοῦ die Vorstellung eines Ursprungs des Staates aus der Natur, dem Schicksal, der Geschichte, aus einem Vertrag, aus dem Wesen der Gesellschaft und dergleichen abgelehnt und daß mit dieser seiner Begründung der Staat zugleich an seine Grenze erinnert werde. Daß Beides mit dem ὑπὸ Θεοῦ geschieht, ist wohl richtig; es muß aber hinzugefügt werden, daß Paulus bei dieser Begründung und Begrenzung des Staates bestimmt nicht in die Leere eines allgemeinen Gottesbegriffs, sondern dorthin geblickt und gewiesen hat, wo alle Engelmächte ihren Grund und ihre Grenze haben und also auf „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes”, der als solcher auch „der Erstgeborene aller Kreatur” ist (Kol. 1, 15). Man braucht bloß zu sehen, daß es für Paulus im Umkreis dieses Zentrums und also innerhalb des christologischen Bereichs — wenn auch außerhalb der Sphäre, für die das Wort Rechtfertigung bezeichnend sein mag — verkörpert in der Engelwelt noch eine andere sozusagen sekundär-christologische, die Kirche mit dem Kosmos verbindende Sphäre gegeben hat, in der ihm die Notwendigkeit und Wirklichkeit der menschlichen Rechtsetzung und Rechtspflege offenbar [31] vor anderem wichtig gewesen ist — um einzusehen, daß wir es auch in Röm. 13 nicht mit einem unbestimmten, sondern mit einem bestimmten Gebrauch des Namens Gottes zu tun haben. Die Einsetzung und Funktion des Staates und vor allem das von den Christen ihm gegenüber geforderte Verhalten verliert dann die gewisse Zufälligkeit, die dem allem nach der bisher üblichen Auslegung eigen ist. Man wird dann auch nicht genötigt sein, die 1. Petr. 2, 13 ausdrücklich gegebene Begründung des geforderten Verhaltens: διὰ τὸν κύριον[26] auf Gott im Unterschied zu Jesus Christus zu beziehen, wo doch bei der Verwendung ähnlicher Formeln in den Haustafeln des Kolosser- und Epheserbriefes nach dem ausdrücklichen Zeugnis von Kol. 3, 24; Eph. 5, 20; 6, 6 kein anderer Kyrios als eben Jesus Christus gemeint ist. ποτασσόμενοι ἀλλήλοις ἐν φόβῳ Χριστοῦ (Eph. 5, 21). Die Furcht vor Christus, d. h. die schuldige Rücksicht auf ihn als den, der nach Kol. 4, 1; Eph. 6, 9 der Herr aller kreatürlichen Herren ist und der als solcher durch ein entgegengesetztes Verhalten verunehrt und erzürnt würde — sie ist es offenbar, die nach 1. Petr. 2, 13 f. nun auch den Imperativ: ὑποταγητε … βασιλεῖ begründen soll. Und in dieselbe Richtung wird man zu denken haben, wenn Röm. 13, 5 von dem gleichen ὑποτάσσεσθαι gefordert wird, daß es nicht nur aus Angst vor dem Zorn der Obrigkeit, sondern διὰ τὴν συνείδησιν stattfinden solle. Συνείδησις heißt Mit-Wissen. Mit wem der Mensch was „mit-weiß”, das kann im Neuen Testament keine offene Frage sein. Schlatter hat συνείδησις Θεοῦ1. Petr. 2, 19 geradezu mit „Gottesgewißheit” übersetzt. Sicher ist, daß die Röm. 13, 5 gebrauchte Formel 1. Kor. 10, 25, 27, wo sie auch vorkommt, nicht auf eine dem Menschen im Allgemeinen, sondern auf eine dem Christen als solchen übergeordnete Norm hinweist, aus deren Erkenntnis das bestimmte, geforderte Verhalten zu folgen hätte. Das christliche Wissen, Gewißsein und Gewissen bezw. die in ihm erkannte Norm verlangt nach 1. Kor. 10 nicht, daß die Christen auf dem Fleischmarkt oder beim Gastmahl nach der Herkunft des ihnen vorgesetzten Fleisches fragen. Das christliche Gewissen verlangt aber nach Röm. 13, daß sie sich der Obrigkeit unterordnen. Offenbar darum, weil wir es in ihrer Herrschaft indirekt, aber real mit der Herrschaft Jesu Christi zu tun haben. [32/33]

3. Die Bedeutung des Staates für die Kirche

Man hat zur Beleuchtung des Gegenübers von Kirche und Staat mit Recht Gewicht darauf gelegt, daß das πολίτευμα oder die πόλις der Christen nicht in der Gegenwart, sondern im neuen Äon, nicht hier auf Erden, sondern dort im Himmel, zu suchen und zu finden ist. Phil. 3, 20; Hebr. 11, 10, 13-16; 12, 22; 13, 14 ist davon in eindrucksvoller Weise die Rede. Und Apc. 21 wird diese πόλις der Christen, mit ihren Mauern, Toren, Straßen und Grundsteinen ausgemessen und dargestellt: „die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommend, gerüstet wie eine Braut, die für ihren Mann geschmückt ist” (v 2). In dieser Stadt wird bezeichnenderweise der Tempel fehlen: „Denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel und das Lamm” (v 22). Dafür heißt es von ihr: „Die Völker werden in ihrem Licht wandeln und die Könige der Erde bringen ihre Herrlichkeit in sie. Und ihre Tore werden nicht geschlossen werden am Tage — denn dort wird es keine Nacht geben — und man wird die Herrlichkeit und die Pracht der Völker in sie bringen. Und nicht wird irgend etwas Unreines in sie eingehen, noch wer Greuel übt”, sondern nur die, „welche im Lebensbuch des Lammes geschrieben stehen” (v 24-27). Man wird hier vor allem betonen müssen, daß es sich bei dieser künftigen πόλις, in der die Christen doch jetzt und hier schon, ohne sie schon bewohnen zu können, ihr Bürgerrecht haben, nicht um einen idealen, sondern um einen realen, ja sogar um den allein realen, nicht um einen gedachten, sondern um den allein wahrhaft seienden Staat handelt. Und eben dies, daß sie in diesem, dem realen Staat Bürgerecht haben, macht die Christen im Staat oder in den Staaten dieser Zeit und Erde zu jenen Gästen und Beisaßen. Eben dies und also ihr Glaube und ihre Hoffnung — nicht etwa der Blick auf die Unvollkommenheit oder auch Verkehrtheit der Staaten dieser Zeit und Erde! Es ist kein Ressentiment, sondern ein positives Pathos, von dem erfüllt sie im Unterschied zu den Nicht-Christen wissen, daß sie hier keine „bleibende Stadt” haben (Hebr. 13, 14). Weil er sich „bewacht” weiß durch den Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft (Phil. 4, 7), darum — und nicht wegen irgendwelcher direkter Bedenken — kann die Pax Romana einem Paulus „nicht als ein Allerletztes” imponieren[27]. Weil die Heiligen die Welt richten werden, darum — und nicht wegen einer besonderen Schlechtigkeit der korinthischen Gerichte — sollen die Christen nach 1. Kor. 6, 1-6 fähig dazu sein, in bestimmten Grenzen auf die Anrufung der staatlichen Gesetze und Gerichtsbehörden verzichten zu können. Es ist der gewaltig hereinbrechende neue Äon, dessen Hoffnung die Kirche vom Staate, nämlich vom Staate dieser Zeit und Erde trennt. Es fragt sich nur, ob nicht gerade diese Hoffnung sie auch in eigentümlicher Weise mit jenem verbindet. Nach H. Schlier[28], der diese Frage mit Recht bejaht, wäre diese Verbindung nun freilich die folgende: „Wer das menschliche Leben im Glauben eingeordnet und eingebaut sieht in die von Gott bereitete Welt … der wird in dem Anspruch der faktischen irdischen Bindungen, in denen der Mensch vorkommt, und in dem Anspruch auch der übergreifendsten Bindung, des Staates, den Willen Gottes hören und in ihm von Gott geschaffene Bindungen sehen … In dem eschatologischen Wissen um das faktische Ende der Welt meldet sich die gegenwärtige Welt in ihrem eigentlichen und wahren. Charakter als Schöpfung Gottes zu Wort”. Dazu möchte ich fragen: Ob sich das Neue Testament etwa irgendwo für „die gegenwärtige Welt in ihrem eigentlichen und wahren Charakter als Schöpfung Gottes” anders als in der Weise interessiert, daß es sie als in Christus begründet, zusammengefaßt und wiederhergestellt findet? Sollte dann aber bei dem Aufweis jener Verbindung nicht besser entscheidend von vorne, von dem kommenden Äon, von Christus, statt von hinten, d. h. in abstracto von der Schöpfung und ihren angeblich göttlichen Bindungen her gedacht werden müssen?

Eines geschieht ja im Neuen Testament ganz unzweifelhaft, und das ist die Bezeichnung der Ordnung gerade des neuen Äons als einer politischen Ordnung. Wir gedenken der für seine neutestamentliche Charakterisierung so wichtigen Benennung als βασιλεία τοῦ Θεοῦ oder τῶν οὐρανῶν und der wahrlich ebenfalls politischen Würdetitel des Königs dieses Reiches: Messias und Kyrios. Und wir entnehmen aus Apc. 21: nicht etwa die reale ἐκκλησία sondern gerade die reale πόλις ist [34] die Verfassung des neuen Äon. Oder anders ausgedrückt: nicht in einem himmlischen Spiegelbild ihrer eigenen Existenz, sondern gerade in dem realen himmlischen Staat sieht die reale irdische Kirche ihre Zukunft und Hoffnung. Indem sie jetzt und hier die Rechtfertigung der Sünder durch das Blut des Lammes glaubt und verkündigt, sieht sie vor sich „von Gott her aus dem Himmel herabkommend” die Stadt des ewigen Rechtes, in der es keine Übertreter gibt und deren Tore nicht verschlossen zu werden brauchen, die aber auch keines Tempels bedarf, weil dasselbe Lamm ihr Tempel sein wird. Und diese Stadt wird ja nicht einfach auf den Trümmern der vernichteten Herrlichkeit der Völker und Könige dieser Erde ihren Bestand haben, sondern es wird diese ganze irdische Herrlichkeit nachträglich gleichsam als Tribut in sie eingeliefert werden. Könnte die Kirche der Rechtfertigung dem Staate des Rechts eigentlich eine höhere Schätzung zuteil werden lassen, als indem sie gerade in ihm, nämlich in seiner himmlischen Realität, in deren Licht dann nachträglich doch auch sein irdisches Wesen zu stehen kommt, das entscheidende Prädikat ihres eigenen Hoffnungsgutes sieht? Eine Vergötterung des Staates ist von da aus offenbar unmöglich: nicht darum, weil es eine Göttlichkeit des Staates nicht gäbe, wohl aber weil sie die Göttlichkeit des himmlischen Jerusalem ist und als solche dem irdischen Staat nicht zukommen kann. Unmöglich ist aber von da aus auch das Gegenstück solcher Vergötterung, das gewissermaßen in einer Verteufelung des Staates bestehen würde. Es geht nicht einmal an, die civitas terrena, wie Augustin es gerne tat, so ohne weiteres als die civitas Cain zu verstehen. Nicht weil ihre Vertreter, Träger und Bürger sie davor schützen könnten, zum Staate Kains oder auch des Teufels tatsächlich zu werden, wohl aber weil auch das himmlische Jerusalem ein Staat ist und jeder, auch der schlechteste und verkehrteste irdische Staat darin seine unverlierbare Bestimmung hat, dereinst zu der Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem beizutragen, so oder so seinen Tribut dorthin zu bringen.

Man versteht von hier aus zunächst zwei Stellen aus dem Epheserbrief, in welchen der Verfasser — obwohl ihm doch das Wort von dem Reich Christi, das nicht von dieser Welt ist, wenn nicht im Wortlaut, so doch der Sache nach bekannt sein [35] mußte — kein Bedenken trägt, die Kirche (in einem Zusammenhang, in welchem er jedenfalls auch auf ihre irdisch-zeitliche Wirklichkeit blickt) selber als die πολιτεία τοῦ Ισραήλ (Eph. 2, 12) und nachher ihre Glieder (in ausdrücklichem Gegensatz zu ihrem vergangenen Sein als ξένοι καὶ πάροικοι) als συμ­πολῖται τῶν ἁγίων (Eph. 2, 19) zu bezeichnen. Es braucht kein Wort darüber verloren zu werden, daß diese „Politisierung” nun auch der irdischen Kirche als eine Politisierung von oben, vom Eschaton her, ihre Fremdlingschaft in diesem Äon und also auch dem irdischen Staat gegenüber weder aufhebt noch auch nur berührt. Merkwürdig und wichtig bleibt es darum doch, daß sich alles auf einmal auch in der Weise umkehren kann, daß die sonst für die Christen so bezeichnenden Begriffe „Fremdlinge und Beisassen” auch zur Bezeichnung gerade der noch nicht zur Kirche Gehörigen und daß gerade der für den antiken Staat so bezeichnenden Begriff der πολιτεία auch zum Prädikat der Kirche auf Erden werden kann. Man wird auch von hier aus die Frage unterstreichen müssen: ob der Einwand der Christen gegen den irdischen Staat und ob das Bewußtsein ihrer eigenen Fremdlingschaft in diesem Staat nicht entscheidend dies bedeutete, daß er ihnen, die um den eigentlichen Staat im Himmel wußten, viel zu wenig (und nicht etwa allzusehr!) Staat gewesen ist? Oder positiv: ob sie in der Botschaft von der göttlichen Rechtfertigung (auf dem Umweg über die himmlische Hoffnung der Gerechtfertigten) nicht etwa den Gründen und Ursprüngen des irdischen Staates gegenüber die unendlich viel bessere, die eigentliche und allein wirkliche Quelle und Norm gerade alles menschlichen Rechtes auch in diesem Äon gesehen haben? Der Wunsch oder Ratschlag des Paulus 1. Kor. 6, 1-6, der ja deutlich auf so etwas wie eine eigene Gerichtsbarkeit in der Gemeinde hinzielt und in welchem jene Umkehrung offenbar sichtbar wird, wäre ohne diese Sicht der Dinge nicht verständlich.

Es ist wesentlich, daß es zu dieser Andeutung — man möchte fast sagen: zu dieser Prophetie — kommen muß: daß die Predigt der Rechtfertigung als Predigt vom Reiche Gottes schon jetzt und hier das wahre Recht, den wahren Staat, begründet. Es ist aber ebenso wesentlich, daß es bei dieser Andeutung oder Prophetie als solcher bleibt, daß die Kirche auf [36] Erden nicht etwa dazu übergeht, sich selbst als solche mit den Prädikaten des himmlischen Staates auszustatten und sich so dem irdischen Staat konkret als der wahre Staat gegenüberzustellen bezw. überzuordnen. Daß sie das tun könne und solle, kann die Meinung auch von Eph. 2 und 1. Kor. 6 darum nicht sein, weil der himmlische Staat für das Neue Testament streng und exklusiv der himmlische, der nicht von Menschen, sondern von Gott aufgerichtete Staat ist und bleibt, der als solcher keiner Verwirklichung innerhalb dieses Äons, auch nicht in der Kirche, fähig ist. Es war die Anschauung einer späteren Zeit, aus der heraus Clemens Alexandrinus[29] die vom Logos gelenkte Kirche als uneroberte, von keiner Willkür unterjochte, ja mit dem „Willen Gottes auf Erden wie im Himmel” identische irdische Stadt feiern und aus der heraus Augustin[30] den stolzen Satz schreiben konnte: Vera iustitia non est nisi in ea republica, cuius conditor rectorque Christus est. Es dürfte dem gegenüber kein Zufall sein, daß etwa der Verfasser des Hebräerbriefs oder der des 1. Petrusbriefs es unterlassen haben, die in dieser Zeit und Welt heimatlosen Christen damit zu trösten, daß sie immerhin in der Kirche eine Heimat jetzt und hier schon hätten. Es bleibt vielmehr dabei, daß sie hier keine bleibende Stadt haben und daß die irdische Kirche dem irdischen Staat als παροικία und nicht als ein Staat im Staate oder gar als Staat über dem Staat gegenübersteht, wie es später der Anspruch der römischen Papstkirche, aber auch der aller grober und feiner Schwärmereien geworden ist.

Aber — und das haben wir zunächst aus Eph. 2 und 1. Kor. 6 zu lernen — eben diese παροι­κία als solche wartet offenbar nicht beziehungslos, nicht umsonst auf die künftige Polis, denn was geschieht in dieser παροικία? Wir dürfen (ein wenig vereinfachend, aber sicher nicht fälschend) antworten: hier geschieht die Predigt von der Rechtfertigung und in ihr bestätigt diese παροικία ihre Hoffnung auf die künftige Polis. In ihr — d. h. in der Verkündigung, daß Gott sich des sündigen Menschen in der Person des Messias Jesus aus lauter Gnade ein für allemal angenommen, seine Sünde und seinen Tod zu seiner eigenen [37] Sache gemacht und damit diesen Menschen nicht nur freigesprochen, sondern für das ihm verlorene Leben freigemacht hat für Zeit und Ewigkeit. Was die παροικία glaubt, ist schlechterdings nur die Wirklichkeit dieses Sachverhaltes. Und was sie hofft, ist schlechterdings nur die Enthüllung dieses wirklichen, aber jetzt und hier noch verborgenen Sachverhaltes. Man bemerke: nicht etwa der Mensch oder die Menschheit, sondern das Lamm, der Messias Jesus ist der Mann, für den jene Braut, die himmlische Polis, gerüstet und geschmückt ist. Er, seine Gegenwart, und zwar eben seine Gegenwart als die des erwürgten Lammes, macht sie zu dem, was sie ist: zu der Stadt des ewigen Rechtes. Sein Recht — wir befinden uns hier ganz anderswo als in jener „eigentlichen” (κυρίων) Polis der Stoiker, auf die sich Clem. Alex. an jener Stelle bezieht — das in seinem Tod erworbene und in seiner Auferstehung proklamierte Recht Jesu Christi ist dieses ewige Recht. Und dieses ewige Recht Jesu Christi ist der Inhalt der Rechtfertigungsbotschaft, die jetzt und hier die Aufgabe der Kirche ist. Die Kirche kann die Enthüllung dieses ewigen Rechtes nicht vollziehen, weder an ihren eigenen Gliedern, noch an der Welt. Sie kann die „Hochzeit des Lammes” (Apc. 19, 7) nicht vorwegnehmen, nicht in diesem Äon feiern wollen. Sie kann und soll sie aber ankündigen.

Und sie kann und soll sie — damit kommen wir weiter, wirklich auch der Welt verkündigen. Es lohnt sich, darauf zu achten, daß gerade in allen direkt mit unserem Problem beschäftigten Epistelstellen ein ganz eigentümliches und auf den ersten Blick auch immer etwas befremdliches Fensteraufreißen nach dieser Seite stattfindet, sofern das in ihnen von den Christen geforderte Verhalten zum Staat überall in den Zusammenhang ihres Verhaltens zu allen Menschen gerückt wird. „Leistet Allen, was ihr ihnen schuldig seid! … Bleibt niemandem etwas schuldig — außer (dem, was ihr wesensmäßig nur in der Gemeinde selbst erfüllen könnt) der gegenseitigen Liebe!” (Röm. 13, 7-8). Sie sollen „Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen darbringen für alle Menschen” lesen wir 1. Tim. 2, 1 vor — und: „Erweiset Sanftmut gegen alle Menschen” lesen wir Tit. 3, 2 hinter dem Wort über die Obrigkeit. Endlich ist 1. Petr. 2, 13 wiederum zunächst von der πᾶσα ἀνθρωπίνη κτίσις die Rede und nachher v 17, wieder in [38] die Weite gehend (auch hier von dem ἀγαπᾶτε ἀδελφότητα deutlich unterschieden): πάντας τιμήσατε. Was bedeutet das? Das bedeutet nach dem, wie mir scheint, unzweideutigen Zusammenhang 1. Tim. 2, 1-7 folgendes: Wir haben darum wie für alle Menschen, so insbesondere für die Könige und alle in obrigkeitlicher Stellung Befindlichen zu beten, weil wir nur unter der Voraussetzung, daß es solche gibt, „ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit”. Warum ist es nötig, daß wir ein solches Leben führen können? Ist es richtig[31], an dieser Stelle das Wort „bürgerlich” einzuschalten und also die Christen letztlich um die Erhaltung irgend eines Weide-Glücks beten zu lassen? Die Fortsetzung lautet doch ganz klar: „denn dies — offenbar die Möglichkeit dieses „unseres ruhigen und stillen Lebens” — ist gut und angenehm vor Gott, unserem Erretter, der will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott, es ist auch ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst als Lösegeld für Alle gegeben hat und das Zeugnis für bestimmte Zeiten, für die ich als Herold und Apostel bestimmt bin”. Also: das „ruhige und stille Leben” unter dem Regiment des Staates, um deswillen nach dieser Stelle für die Staatsmänner gebetet werden soll, ist gerade kein Selbstzweck, wie die Existenz der Gemeinde in ihrer Unterscheidung von allen anderen Menschen überhaupt kein Selbstzweck sein kann. Es ist der Herold und Apostel, der jenes „ruhigen und stillen Lebens” bedarf, und nicht im Dienst eines allgemeinen Schöpferund Erhaltergottes steht dieser Apostel und stehen mit ihm die, mit denen er sich hier zusammenschließt, sondern er wie sie im Dienst des Θεὸς σωτήρ, der will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, der der eine Gott ist in dem einen Mittler, der sich für Alle dahingegeben. Wozu bedarf die Gemeinde eines „ruhigen und stillen Leben”? Sie bedarf seiner, weil sie in ihrer Weise und an ihrem Ort ebenfalls κῆρυξ καὶ ἀπό­στολος für Alle und weil sie zur Ausübung dieser ihrer wesensmäßig alle Menschen angehenden Funktion des Raumes, der Freiheit im Bereich aller Menschen [39] bedarf. Diese Freiheit kann ihr aber nur garantiert werden durch die Existenz der das Zusammenleben aller Menschen ordnenden irdischen Polis. Wird die Unterwerfung unter die bürgerliche Rechtsordnung nicht auch 1. Petr. 2, 15 f. damit begründet: es sei der Wille Gottes, daß die Christen als die von Rechts wegen als ἀγαθοποιοῦντες Anerkannten die Unwissenheit der törichten Menschen zum Schweigen zu bringen hätten: — als Freie, die doch aus dieser ihnen durch die Polis garantierten Freiheit nicht einen Vorwand zur κακία, d. h. zum Rückfall in die Linien dieses Äons machen werden, sondern in dieser Freiheit als Diener Gottes? Weil dem so ist, daß diese Freiheit der ἐκκλησία nur durch die Polis garantiert werden kann, darum kann es nun wieder nicht anders sein, als daß die Gemeinde ihrerseits durch ihr Gebet die Existenz der irdischen Polis garantieren muß. Daß diese gegenseitige Garantie grundsätzlich nur eine vorläufige sein, d. h. daß sie sich ihrem Wesen gemäß nur auf diese Zeit und Welt erstrecken, daß der Staat der Kirche die von ihr geforderte Garantie nur mangelhaft leisten oder auch überhaupt verweigern, daß endlich die Kirche irgend eine Garantie hinsichtlich der Geltung und Wirkung ihrer Botschaft vom Staate nicht verlangen kann noch darf, das Alles ändert nichts daran, daß die Kirche diese beschränkte Garantie vom Staate allen Ernstes erwartet und nichts daran, daß die dem Staate von der Kirche gebotene Garantie eine schlechterdings ernsthafte ist und darum auch ihren Gliedern nicht ernst genug ans Herz gelegt werden kann. Das Gebet für die Träger der Staatsgewalt gehört zum eisernen Bestand ihrer eigenen Existenz. Sie wäre nicht Kirche, wenn sie an dieser apostolischen Mahnung vorüberginge. Sie müßte dann vergessen haben, daß sie die allen Menschen verheißene Rechtfertigung zu verkündigen hat.

In der 1. Tim. 2 gewiesenen Richtung, d. h. in der Richtung auf diese gegenseitige Garantie, ist aber bestimmt auch die Loyalitätsforderung der anderen hierher gehörigen Epistelstellen zu verstehen. Tit. 3, 1-8 wird sie, erstaunlich genug, mit der Wiedergeburt durch die Taufe und den Heiligen Geist in Zusammenhang gebracht. Das ist dann nicht erstaunlich, wenn die nach v 2 durch die Gnade Jesu Christi Gerechtgesprochenen und künftigen Erben des ewigen Lebens das Alles nicht für sich, [40] sondern in der Kirche und als Glieder der Kirche für alle Menschen haben, und also nicht für sich, wohl aber für das Wort der Kirche Freiheit und also menschliches Recht nötig und also dessen Träger und Vertreter zu respektieren haben. Und lesen wir Röm. 13, 3-4 und 1. Petr. 2, 14, es sei der Obrigkeit darum Gehorsam zu leisten, weil es ihr Amt sei, die Guten zu belohnen, die Bösen zu bestrafen, so scheint es mir eine im Context beider Briefe ganz unmögliche Auslegung, die Verfasser allgemein und neutral von einem unter die staatliche Justiz fallenden allgemeinen und neutralen Guten und Bösen reden zu lassen. Warum sollten nicht beide Verfasser nach dem Gebrauch, den sie sonst von diesen Begriffen machen, die Christen aufgefordert haben, das gute Werk ihres Glaubens zu tun, in dessen Verrichtung sie im Unterschied zu den κακὀν ποιοῦντες die Staatsgewalt auf keinen Fall zu fürchten haben, in dessen Verrichtung sie vielmehr von diesem Ehre empfangen werden? Warum sollen nicht beide Verfasser zunächst an jene dem Pilatus so klar zugesprochene ἐξουσία, Jesus freizulassen oder zu kreuzigen gedacht, warum sollen sie die Christen nicht hinsichtlich des Staates zunächst auf dessen bessere, d. h. eigentliche Möglichkeit, auf die Möglichkeit des von ihm den „Guten”, d. h. der Kirche gewährten Rechtsschutzes (auf die Möglichkeit eines „Konkordates”!) hingewiesen und sie im Blick auf diese Möglichkeit zu jener Unterordnung aufgefordert haben? Daß der Staat faktisch von der anderen Möglichkeit Gebrauch machen, daß er faktisch die Bösen ehren, die Guten strafen könnte, das mag sein, das kann aber an seiner Sendung und damit an der Begründung des christlichen Verhaltens ihm gegenüber und damit an diesem selbst nichts ändern. Wenn überhaupt, so wird er eben durch das trotzdem bewährte christliche Verhalten zu seiner Sendung und damit zu seiner eigenen echten Möglichkeit zurückgerufen werden. Und er wird, auch wenn es dazu nicht oder noch nicht kommt, auch im Gebrauch jener anderen Möglichkeit seiner göttlichen Einsetzung dennoch Genüge leisten, die Kirche erst recht, wenn auch ganz anders, garantieren müssen! Die ihr vom Staat erwiesene Ehre wird dann in dem im 1. Petrusbrief geschilderten Leiden in der Nachfolge Christi — und die Strafe der κακοί wird dann darin bestehen, daß ihnen [41] die Herrlichkeit dieses Leidens vorenthalten wird. Der Staat wird also so oder so der göttlichen Rechtfertigung dienen müssen.

Es ist ohne weiteres deutlich, daß die Kirche in und mit dieser starken Beziehung ihrer Existenz zu der des Staates nicht selber Staat und daß umgekehrt der Staat nicht selber Kirche werden kann. Auch die Kirche wendet sich zwar höchst grundsätzlich an alle Menschen; sie tut es aber mit dem Wort ihrer Verkündigung und sie ruft zum Glauben; sie sammelt sie also in Form von freien Entscheidungen, hinter denen Gott es noch ganz anders freies Erwählen steht und sie wird in diesem Äon niemals damit rechnen, alle Menschen in sich versammelt zu haben. Sie muß es vertrauensvoll ihrem Gott überlassen, so oder so dennoch der eine Gott aller Menschen zu sein. Der Staat aber hat immer schon alle in seinem Bereich lebenden Menschen in sich versammelt und hält sie als solche zusammen durch seine mit Gewalt aufgerichtete und aufrecht erhaltene Ordnung. Der Staat als Staat weiß nichts von Geist, nichts von Liebe, nichts von Vergebung. Der Staat trägt das Schwert und er trägt es gerade in jenem Röm. 13 vorgesehenen besten Fall nicht umsonst. Auch er muß es wohl Gott überlassen, wie den Menschen auch noch anders als eben durch das durch die Gewalt bestätigte Recht geholfen werden könnte. Er müßte sich selbst aufgeben, wenn er Kirche werden wollte und die Kirche kann es um ihrer selbst, nein, um ihres Auftrages willen, nicht wünschen, daß er aufhörte, der Staat zu sein. Er kann ja gar nicht wahre Kirche werden. Er könnte, wenn er das Wahnsinnige wagte, nur eine Götzenkirche werden. Und erst recht müßte die Kirche sich selbst aufgeben, wollte sie Staat werden und also durch Gewalt Recht setzen, wo es ihre Aufgabe ist, die Rechtfertigung zu verkündigen. Sie könnte nicht wahrer Staat, sie könnte nur Pfaffenstaat werden, mit bösem Gewissen wegen ihrer vernachlässigten Aufgabe, untüchtig dazu, auf dem ihr fremden Boden Allen gerecht zu werden, wie es des Staates Sache sein muß.

Dieses Verhältnis schließt nun aber nicht aus, sondern ein, daß das Problem der Polis, nämlich das Problem des Rechtes sich auch auf dem Boden der irdischen ἐκκλησία stellt und beantwortet sein will. Jene Wendungen in Eph. 2 sind keine leeren Floskeln, sondern beziehen sich konkret darauf, daß es in [42] der Kirche selbst — jene starke Beziehung, in der sie zum irdischen Staate steht, macht sich jetzt geltend — auch so etwas (ich wähle absichtlich einen unbestimmten Ausdruck, weil es der Sache entspricht) wie eine πολιτεία gibt und geben muß: Ämter und Ordnungen, Arbeitsteilungen und Gemeinschaftsformen. Kirchenrecht nennt man diese Sache und es war bekanntlich Rud. Sohm, der in dem Entstehen von Kirchenrecht, das nach ihm erst im 2. Jahrhundert stattgefunden hätte, den großen Sündenfall der alten Kirche gesehen hat. Aber die vom freien Geist heute so und morgen so, hier so und dort so bewegte christliche Gemeinde des 1. Jahrhunderts, wie Sohm sie sich vorstellte, hat wirklich nie existiert. Einen kirchlichen Grundsatz würde man jedenfalls nur zugleich mit der Auferstehung Christi und damit mit der Mitte des ganzen Neuen Testamentes in Abrede stellen können: die Autorität des Apostolates, und aus diesem einen ergaben sich von Anfang an viele, in Freiheit gewiß, aber in der Freiheit des Wortes Gottes und nicht in irgend einer anderen Freiheit. Das Wort des Paulus (1. Kor. 14, 33) von dem Gott, der kein Gott der Unordnung, sondern des Friedens ist und überhaupt der Zusammenhang 1. Kor. 12-14 dürfte hier bezeichnend sein. Wie könnte die Kirche vom Staate Recht erwarten und sich zugleich dem Rechte selber verschließen? Wie sollte und wie soll sie der ihr aufgetragenen Lehre leben und sich der Sorge für die die Lehre schützende Ordnung in ihrem eigenen Raume etwa entschlagen können? Mehr als „auch so etwas” wie eine πολιτεία, nämlich eine mit der für den Staat bezeichnenden Zwangsmitteln arbeitende Rechtsgemeinschaft, ist die Kirche der ersten Zeit freilich nicht gewesen und hat sie später nur zu ihrem Unheil werden können. Kirchliche Autorität ist geistliche, d. h. mit dem Zeugnis des Heiligen Geistes rechnende Autorität. Ist sie darum weniger strenge, ist sie nicht gerade so die strengste Autorität? Gab es jemals eine zwingendere Rechtsordnung als die, die wir in den Briefen der Apostel vorausgesetzt und gehandhabt sehen?

Aber die andere Seite der Sache ist in unserem Zusammenhang noch bemerkenswerter: Das so gegensätzliche Verhältnis von Kirche und Staat schließt nun doch auch das nicht aus sondern ein, daß das Neue Testament, wenn man genau zusieht, die Ordnung des Staates und ihre Respektierung keineswegs als [43] eine das Leben der christlichen Gemeinde nur von außen berührende Frage, sondern irgendwie (ich wähle wieder absichtlich den unbestimmten Ausdruck) als die Frage einer Art da draußen in der Welt aufgerichteten Annexes und Außenpostens des christlichen Gemeindelebens selbst behandelt und insofern gewissermaßen in die Ordnung der Gemeinde als solcher einbezogen hat. Der gewissen notwendigen Politisierung der Kirche selbst entspricht ebenso notwendig eine gewisse Verkirchlichung, in der von der Kirche aus der Staat gesehen, gewürdigt und angeredet wird. Es gab wohl zu allen Zeiten Formen gerade eines Staatskirchentums, die wenigstens in dieser Hinsicht von dem neutestamentlichen Bild der Dinge viel weniger weit entfernt waren als es auf den ersten Blick erscheinen möchte. Man beachte, wie die Mahnung bezüglich des Staates Röm. 13 wirklich schon im Zusammenhang gesehen unmöglich eine naturrechtliche Sonderbelehrung sein kann, weil sie förmlich eingebettet ist in eine Reihe von Zusprüchen, die alle die christliche Existenz als solche zur Voraussetzung und zum Ziel haben. Sie steht im 1. Timotheusbrief an der Spitze einer Reihe von Mahnungen, die sich auf das Verhalten von Mann und Frau im Gottesdienst, auf das Bischofsamt, auf das Diakonenamt beziehen. Sie steht im Titusbrief am Ende und im 1. Petrusbrief wieder am Anfang einer ähnlichen Reihe. Das für den Imperativ dieser Mahnung so bezeichnende Verbum ὑποτάσσεσθαι (Röm. 13, 1; Tit. 3, 1; 1. Petr. 2, 13) ist nicht nur dasselbe, das Tit. 2, 9; 1. Petr. 2, 18 auf das Verhalten der christlichen Sklaven gegenüber ihren Herren, sondern das Kol. 3, 18; Eph. 5, 22; Tit. 2, 5; 1. Petr. 3, 1, 5 auch auf das der Frauen gegen die Männer, das 1.Petr. 5, 5 auf das der Jüngeren gegen die Ältesten in der Gemeinde, das Eph. 5, 21, 1. Petr.5, 5 (?) auf das der Christen untereinander im allgemeinen angewendet wird. Wie kommen die ἐξουσίαι ὑπερεχούσαι, die ἄρχοντες, wie kommen der βασιλεύς und seine ἡγεμόνες in diese Gesellschaft? Folgt daraus, daß sie sich in dieser Gesellschaft befinden, nicht deutlich, daß wir uns im Zug einer spezifisch christlichen Mahnung befinden, daß die Obrigkeit und die Stellung zu ihr auf einmal gewissermaßen hereingenommen ist in den Zug der Ordnungen, in denen die Christen ihre ὑποταγή Gott und zwar dem in Jesus Christus offenbaren Gott gegenüber zu betätigen haben? Und was soll man eigentlich [44] dazu sagen, daß die staatliche ἐξουσία Röm. 13, 4 als Θεοῦ διάκονος und Röm. 13, 6 die Staatsbeamten mit ihren verschiedenen Forderungen an das Publikum als λειτουργοὶ Θεοῦ[32] bezeichnet werden? Wie kommen sie zu diesen sakralen Namen? Daß sie „irgendwie” tatsächlich in der sakralen Ordnung stehen, nicht als membra praecipua, wie man später viel zu servil sagte, wohl aber als ministri extraordinarii ecclesiae, das scheint mir deutlich zu sein.

Das von der himmlischen Polis auf die irdische Ecclesia herab fallende reflektiert sich in einem von der irdischen Ecclesia auf die irdische Polis hinüberfallenden Licht in der beschriebenen, zwischen beiden stattfindenden Wechselbeziehung. Wenn die Frage, wie diese Wechselbeziehung zu erklären ist, durch 1. Tim. 2 im Zusammenhang mit Apc. 21 nicht tatsächlich erklärt sein sollte, dann müßte eben eine bessere Erklärung gesucht werden. Das Phänomen als solches kann nicht gut in Abrede gestellt werden. [45]

4. Die Leistung der Kirche für den Staat

Überblickt man die im Neuen Testament an die Christen gerichteten Mahnungen hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Staate, so ist es gewiß berechtigt, die 1. Tim. 2, 1 ausgesprochene Mahnung zur Fürbitte als die intimste und als die alle anderen zugleich umfassende und radikalisierende in den Mittelpunkt zu stellen. Man muß dabei nur beachten, wie umfassend diese besondere Mahnung schon als solche ist. Dazu werden ja die Christen aufgefordert, „Bitten, Anbetungen, Fürbitten und Danksagungen” darzubringen für alle Menschen und im besonderen für die Könige und alle, die in behördlicher Stellung sind. Sagt die Stelle eigentlich weniger als dies: daß die Kirche nicht nur beiläufig, nicht nur in einer ihrer Funktionen neben anderen, sondern in dem ganzen Tun, in welchem sie als Kirche existiert, wie für alle Menschen, so im besonderen für die Träger des Staates vor Gott einzustehen hat? Einzustehen, das heißt aber — denn das besagt doch das ὑπέρ — an ihrer Stelle die Anrufung Gottes zu vollziehen, die sie nicht selber vollziehen können, wohl auch nicht vollziehen wollen und die doch vollzogen werden muß, weil sie ihre der Kirche so heilsame und um der Predigt der Rechtfertigung willen für alle Menschen so unentbehrliche ἐξουσία nur von Gott her haben und erhalten kann. Weit entfernt davon, daß der Staat Gegenstand der Anbetung werden könnte, ist er, sind seine Vertreter und Träger vielmehr dessen bedürftig, daß für sie gebetet wird. Daß dies geschieht, das ist, grundsätzlich und umfassend gesagt, die Leistung der Kirche für den Staat. Könnte sie ihn deutlicher an seine Schranken und könnte sie sich selber deutlicher an ihre Freiheit ihm gegenüber erinnern, als indem sie so für ihn einsteht? Dieses Einstehen der Kirche für den Staat soll aber offenbar geschehen ohne danach zu fragen, ob der vom Staat der Kirche zu leistende Gegendienst tatsächlich geleistet wird. Und erst recht ohne danach su fragen, ob die Träger des Staates dessen im Einzelnen würdig sind. Wie könnte schon danach gefragt werden, wenn es sich um diese Leistung handelt? Gerade sie würde offenbar umso nötiger, je negativer jene Frage beantwortet werden müßte. Wie ja überhaupt, was Rechtfertigung ist, umso deutlicher wird, je mehr der ihrer teilhaftige Mensch als ein ernstlicher, wirklicher Sünder vor Gott und den Menschen sichtbar wird. Also: der den Christen aufgetragene Priesterdienst kann auch durch die fatalste Beantwortung jener Frage nicht aufgehalten sondern nur beschleunigt, es kann die Verantwortlichkeit der Kirche für den Staat auch dadurch, daß dieser vielleicht der brutalste Unrechtsstaat ist, nicht vermindert, sondern nur vermehrt werden.

Es hätte dem Verständnis des „Seid untertan …!” Röm. 13, 1 und Par. gewiß gedient, wenn man nicht so oft wie gebannt in abstracto gerade auf diese Mahnung gestarrt, sondern beachtet hätte, in welchen Zusammenhang sie durch jene wesensgemäß übergeordnete erste Mahnung gerückt ist. Kann dieses „Untertansein” grundsätzlich etwas Anderes bezeichnen als die jener priesterlichen Stellung der Gemeinde als solcher entsprechende praktische Haltung ihrer Glieder? Ὑποτάσσεσθαί τινι heißt ja auch gar nicht direkt und absolut „jemandem untertan sein” sondern: jemanden in seiner ihm zukommenden Stellung respektieren. [46]

Es handelt sich um ein Untertansein, das durch den Rahmen, in dem es stattfindet, nämlich durch eine bestimmte τάξις zugleich bestimmt und begrenzt ist. Die τάξις ist aber in diesem Fall wie in den anderen, in denen das Verbum vorkommt, nicht etwa durch die betreffenden Respektspersonen selbst aufgerichtet, sondern beruht nach v 2 auf der διαταγὴ τοῦ Θεοῦ, der ordinatio Dei. Auf Grund und im Sinn dieser göttlichen Anordnung also sind jene zu respektieren. In was Anderem kann aber der anordnungsmäßige Respekt vor den staatlichen Respektspersonen bestehen als darin, daß die Christen sich ihnen gegenüber in die Stellung von solchen begeben, die unter allen Umständen das Beste, nämlich das Recht und das heißt den Schutz der Predigt von der Rechtfertigung von ihnen erwarten, die aber u. U. auch bereit sind, diese Predigt ihrerseits damit zu vollstrecken, daß sie von jenen statt Recht zu empfangen Unrecht leiden, die also so oder so ihre ihnen von Gott gegebene, bezw. sie selbst als von Gott eingesetzte ἐξουσία anerkennen werden? Würden sie das nicht tun, würden sie sich dieser διαταγή widersetzen und also der Staatsgewalt jenen durch die göttliche Anordnung bestimmten und begrenzten Respekt verweigern, dann würden sie sich eben damit nach v 2 Gott selbst widersetzen und es müßte ihnen dann ihre Existenz im Bereich der Staatsgewalt zum Gericht werden. Nicht rechnend mit jenem positiven göttlichen Auftrag des Staates und nicht bereit, wenn es sein muß, auch Unrecht von ihm zu erleiden, würden sie eo ipso zu jenen κακοί gehören, die seine Gewalt fürchten müssen, denen er mit seinem Schwert mit der ihm verliehenen Zwangsgewalt offen oder heimlich — „die Macht als solche ist böse” — nur Vollstrecker des göttlichen Zorngerichts, nur der fürchterliche Exponent der Verlorenheit dieses Äons sein könnte (v 4-5).

Aber eben: diese Röm. 13 gebotene Respektierung der Staatsgewalt wird sich ja von jener priesterlichen Funktion der Kirche ihm gegenüber theoretisch und praktisch gar nicht lösen lassen. In einer abstrakten und absoluten Fügsamkeit gegenüber den Absichten und Unternehmungen der Staatsgewalt kann sie unmöglich bestehen. Nur schon darum nicht, weil nicht nur nach der Apokalypse sondern auch nach Paulus damit zu rechnen ist, daß die Staatsgewalt ihrerseits sich der Widersetzlichkeit gegen [47] den Herrn aller Herren, gegen die göttliche Anordnung, der sie ihre Gewalt verdankt, schuldig machen könnte. Bleibt es auch dann bei dem Respekt ihr gegenüber, so wird die Fügsamkeit in diesem Fall nur noch eine passive und auch als solche doch nur eine beschränkte sein können. Das ὑποτάσσεσθαι kann auf keinen Fall bedeuten, daß die Kirche und ihre Glieder die Absichten und Unternehmungen der Staatsgewalt auch dann von sich aus bejahen und freiwillig fördern werden, wenn diese statt auf den Schutz auf die Unterdrückung der Predigt von der Rechtfertigung gerichtet sein sollte. Die Christen werden ihr auch dann nichts schuldig bleiben von dem, was ihr als der Verwalterin des öffentlichen Rechtes, als Ordnungsmacht unentbehrlich ist und zukommt: „Steuer, dem die Steuer, Zoll, dem der Zoll, Furcht, dem die Furcht, Ehre dem, dem (als Repräsentant und Träger der ἐξουσία) Ehre gebührt!” — auch dann, wenn er mit dieser ἐξουσία Mißbrauch treibt, bezw. wenn diese ἐξουσία in seinem Verhalten ihre dämonische Widersetzlichkeit gegen den Herrn aller Herren offenbar macht. Die Christen werden nach Matth. 22, 21 auch dann dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, d. h. dasjenige, was ihm — nicht als dem guten oder schlechten Kaiser, sondern schlechthin als dem Kaiser — nun einmal zukommt: dasjenige Recht, das er auch dann hat, wenn er das Recht ins Unrecht verkehrt. Von Gott eingesetzte ἐξουσία ist und bleibt er ja, wie früher gezeigt, auch dann und so kann ihm dasjenige, was ihm daraufhin gebührt, auch dann nicht vorenthalten werden. Eben so unerbittlich muß es aber auch dabei bleiben, daß Christen Gott zu geben haben, was Gottes ist: ebenso unerbittlich dabei, daß die Kirche Kirche sein und bleiben muß. Das kann also das von den Christen verlangte ὑποτάσσεσ­θαι nicht bedeuten, daß sie sich auch die direkt oder indirekt gegen die Freiheit ihrer Verkündigung gerichteten Absichten und Unternehmungen der Staatsgewalt zu eigen machen, daß sie die Verantwortlichkeit dafür auch auf sich selbst nehmen könnten. Wohlverstanden: das ὑποτάσσεσθαι wird auch dann nicht aufhören. Aber eben als ὑποτασσόμενοι, eben im Respekt vor der Staatsgewalt werden sie dann, indem sie nicht aufhören, ihr gegenüber ihre Schuldigkeit zu erfüllen, nur ihre Opfer sein, in ihrem konkreten Wollen und Vollbringen aber sich nicht verantwortlich, gerade nicht „von Herzen” beteiligen [48] können und gerade als ὑπο­τασσόμενοι werden sie das nicht verbergen können, sondern — entscheidend damit, daß die Predigt von der Rechtfertigung unter allen Umständen weitergeht — öffentlich zum Ausdruck bringen müssen. Nicht gegen den Staat, sondern als Leistung der Kirche für den Staat wird auch das geschehen! Ist doch ihr Respekt vor der Staatsgewalt ein Annex der priesterlichen Funktion, in der sie ihm gegenüberstehen. Würden sie doch gerade das Entscheidende, das sie für den Staat tun können und müssen, unterlassen, wenn es unter ihnen zu einer aktiven Fügsamkeit, zu einer Bejahung gegenüber dem direkt oder indirekt auf die Unterdrückung der Freiheit des Wortes Gottes gerichteten Wollen und Tun der Staatsgewalt kommen würde. Denn mit der Freiheit des Wortes Gottes steht und fällt auch die Möglichkeit der Fürbitte für die Staatsgewalt. Dann würden sie objektiv und faktisch zu Staatsfeinden, wenn sie sich einer jene Freiheit bedrohenden Staatsgewalt gegenüber etwa nicht in jenen Abstand begeben oder wenn sie ihr diesen ihren Abstand — einen höchst gelassenen, höchst überlegenen, höchst warnenden Abstand! — verbergen würden. Dann wäre Jesus objektiv und faktisch ein Staatsfeind gewesen, wenn er es etwa nicht gewagt hätte, seinen Landesherrn Herodes gelegentlich in aller Ruhe einen „Fuchs” zu nennen (Luk. 13, 32). Gerade der auf verkehrten Weg geratenen Staatsgewalt gegenüber kann die Anordnung Gottes, der sie ihre Existenz verdankt und damit sie selber nicht besser geehrt werden als durch diese, die kritische Form des ihr unter allen Umständen zu leistenden Respektes. Was kann denn für eine solche Staatsgewalt überhaupt geleistet werden, als die Fürbitte? Und wer kann Fürbitte für sie leisten als die Christen? Und wie können die Christen sie leisten, wenn sie etwa die Verkehrtheit der Staatsgewalt bejahend, zu Verrätern an ihrer eigenen Sache geworden sein sollten? Was für ein Respekt dem Staat gegenüber sollte das sein, was solchen Verrat bedeuten würde?

Wir haben nach dieser Erörterung des ὑποτάσσεσθαι von Röm. 13, 1 in seinem Zusammenhang mit 1. Tim. 2, 1 freie Bahn zu grundsätzlicher Einsicht in das Wesen der Leistung, die die Kirche als Organ der göttlichen Rechtfertigung dem Staate als dem Organ des menschlichen Rechtes schuldig ist, die der [49] Staat von ihr erwarten darf, und mit der sie dem Staate, wenn sie im Gehorsam steht, tatsächlich dienen wird. Wir hörten: es gibt eine wechselseitige Garantie zwischen diesen beiden Bereichen. Wir fragen jetzt: Welches ist die Garantie, die die Kirche dem Staate zu bieten hat?

Nach allem, was uns als konstitutiv für das Verhältnis der beiden Bereiche entgegengetreten ist, ist zunächst die Antwort zu geben: daß es außer der Kirche keine Stelle in der Welt gibt, in der ein grundsätzliches Wissen um die Berechtigung und Notwendigkeit des Staates vorhanden ist und zur Aussprache kommt. Von allen anderen Stellen aus kann der Staat und kann jeder einzelne Staat mit seiner Bemühung um menschliches Recht grundsätzlich problematisiert werden. Von der die göttliche Rechtfertigung allen Menschen verkündigenden Kirche her kann das nicht geschehen. Denn für die Kirche ist die Autorität des Staates eingeschlossen in die Autorität ihres Herrn Jesus Christus. Die Kirche lebt in der Erwartung des ewigen Staates und in dieser Erwartung ehrt sie auch den irdischen, erwartet sie immer wieder das Beste von ihm: daß er in seiner Weise, im Raum „aller Menschen” eben dem Herrn diene, den die Glaubenden jetzt schon als ihren Heiland lieben. Die Kirche erwartet vom Staate um der freien Predigt der Rechtfertigung willen, daß er Staat sei und also Recht schaffe und spreche. Die Kirche ehrt den Staat aber auch dann, wenn er diese Erwartung nicht erfüllt. Sie verteidigt dann den Staat gegen den Staat, sie repräsentiert dann, indem sie Gott gibt, was Gottes ist, indem sie Gott mehr gehorcht als den Menschen, mit ihrer Fürbitte die einzige Möglichkeit, den Staat wieder herzustellen und vor dem Untergang zu retten. Die Staaten mögen entstehen und vergehen, die politischen Konzeptionen mögen sich wandeln, die Politik als solche mag die Menschen interessieren oder nicht interessieren — ein Faktor aber muß immer wieder staatserhaltender, ja staatsbegründender Faktor sein, und das ist quer durch alle Entwicklungen und Wandlungen hindurch die christliche Kirche. Was wissen denn die Staatsmänner und Politiker selber von einer letzten Berechtigung und Notwendigkeit ihres Tuns? Wer oder was gibt ihnen die Gewißheit, daß dieses ihr Tun nicht als solches Eitelkeit ist, auch wenn sie es noch so ernst nehmen? Um nicht zu [50] reden von den Anderen, deren Verantwortung für die Polis und ihr Recht die Staatsmänner ja nur repräsentieren können und auf deren Mitarbeit sie doch so entscheidend angewiesen sind! Wie die göttliche Rechtfertigung das rechtliche Kontinuum ist, so ist die Kirche das politische Kontinuum. Und daß sie das ist, das ist ihre erste und grundlegende Leistung für den Staat. Sie braucht nur wirklich Kirche zu sein, dann ist sie es tatsächlich. Der Staat aber empfängt diese Leistung und lebt heimlich davon, ob er darum weiß und dafür dankbar ist oder nicht, ob er es so wahrhaben oder nicht wahrhaben will.

Wir betreten nur scheinbar eine niedere Sphäre, wenn wir zweitens unter nochmaligem Verweis auf Röm. 13, 5-7 daran erinnern, daß eben die Kirche von ihren Gliedern mit einem Nachdruck, wie er keiner anderen Instanz zu Gebote steht, die Erfüllung jener Pflichten verlangt, von deren Leistung noch nicht die Güte oder Schlechtigkeit eines Staates, wohl aber der Bestand jedes Staates als solchen abhängig ist. Daß Steuern und Zölle dem Staat wirklich gehören, daß seine Gesetze und ihre Vertreter als solche wirklich in Furcht und Ehrerbietung zu anerkennen sind, das kann vorbehaltlos und ernstlich bindend nur von der göttlichen Rechtfertigung des sündigen Menschen her gesagt werden, weil es von da aus allein gegen die Sophismen und Entschuldigungen des sich selbst rechtfertigenden und darum gerade vor dem Recht heimlich immer auf der Flucht begriffenen Menschen in Schutz genommen ist. Die Kirche weiß, daß der Staat gerade das wirkliche und eigentliche menschliche Recht, das ius unum et necessarium, nämlich das Freiheitsrecht der Rechtfertigungspredigt weder aufrichten noch schützen könnte, wenn ihm das, was ihm gebührt, damit er als Garant des Rechtes überhaupt bestehen kann, nicht geleistet wird, und darum fordert sie, daß ihm das unter allen Umständen geleistet werde.

Man würde nun freilich viel darum geben, wenn uns Röm. 13 und im übrigen Neuen Testament gleich etwas ausführlicher darüber Bescheid gegeben wäre, was unter diesen vom Christen erwarteten und von ihm zu erfüllenden politischen Pflichten im Einzelnen zu verstehen und nicht zu verstehen sei. Hier entstehen Fragen, deren Beantwortung wir nicht direkt, sondern nur indirekt: in einer sinnvollen Verlängerung der [51] dort gegebenen Antworten aus dem Neuen Testament ablesen können.

Könnte es z. B. Röm. 13, 7 auch heißen: τῷ τὸν ὅρκον τὸν ὅρκον? Gehört zu den selbstverständlich zu erfüllenden Pflichten auch eine von der Staatsgewalt vielleicht verlangte Eidesleistung? Die Reformatoren haben die Frage bekanntlich bejaht und man möchte im Blick auf Matth. 5, 33 f. wohl wünschen, daß sie es wenigstens nicht ganz so unbedenklich getan hätten. Das ist, auch wenn man sie bejaht, sicher, daß ein staatlicher Eid dann (im Respekt vor dem Staat!) nicht geleistet werden kann, wenn er als Totalitätseid (d. h. als Verpflichtung auf einen Namen, der faktisch den Sinn und die Kraft eines Gottesmannes hat) eo ipso jene aktive Gefügsamkeit gegen die die Freiheit des Wortes Gottes bedrohende Staatsgewalt und damit für die Christen jenen Verrat der Kirche und ihres Herrn bedeutet.

Gehört auch der Militärdienst zu jenen selbstverständlich zu erfüllenden Pflichten? Die Reformatoren haben auch diese Frage bejaht und wieder möchte man wünschen, daß sie es etwas weniger munter getan hätten. Daß der Staat die mörderische Natur dieses Äons hat, das wird daran, daß er auch nach Röm. 13 das Schwert trägt, besonders sichtbar. Man wird doch in der Sache jedenfalls grundsätzlich nicht zu einem anderen Ergebnis kommen können als die Reformatoren. Menschliches Recht bedarf der Garantie durch menschliche Gewalt. Der Mensch wäre nicht der der göttlichen Rechtfertigung bedürftige Sünder, wenn es anders wäre. Der von außen oder von innen mit Gewalt bedrohte Staat wird sich wohl dazu rüsten müssen, Gewalt mit Gewalt abzutreiben, um fernerhin Staat sein zu können. Es müssen schon sehr gewichtige Mißtrauensgründe gegen ihn vorliegen, wenn der Christ berechtigt und berufen sein sollte, ihm dabei seinen Dienst zu verweigern — wenn gar die Kirche als solche berechtigt und berufen sein sollte, an dieser Stelle Nein zu sagen. Ein grundsätzliches christliches Nein kann es hier unmöglich geben, weil es das grundsätzliche Nein zum irdischen Staat als solchem sein müßte, das als solches unmöglich christlich sein kann. Und ich möchte im Blick auf die schweizerische Landesverteidigung im Besonderen hinzufügen: hier und also für uns kann es bestimmt auch kein praktisches Nein geben. Man kann gegen die Art, wie der Staat sich in der Schweiz [52] als Rechtsstaat zu betätigen versucht, viele und schwere Bedenken haben und wird darum doch sinnvoller Weise nicht behaupten können, daß er der Kirche als das Tier aus dem Abgrund von Apc. 13 gegenüberstehe. Wohl aber kann und muß das heute von mehr als einem andern Staat gesagt werden, dem gegenüber unsere Rechtsordnung zu verteidigen der Mühe wert ist; und da dem so ist, ist es gerade heute auch christlich sinnvoll und recht, unsere Grenzen zu sichern, und wenn der Staat in der Schweiz dies tut, so ist nicht abzusehen, inwiefern die Kirche in der Schweiz sich dabei nicht in aller Bestimmtheit hinter ihn stellen sollte[33].

Anders steht es mit der Frage, ob der Staat das Recht hat, zur Verstärkung seiner Macht seine Untertanen und Bürger in irgend einer Form innerlich für sich in Anspruch zu nehmen und also eine von ihm her bestimmte Weltanschauung oder doch weltanschauungsmäßige Sentiments und Ressentiments von ihnen zu fordern. Diese Frage ist vom Neuen Testament her rundweg zu verneinen. Forderungen dieser Art dürften in keiner Verlängerung der Linie von Röm. 13 möglich und also von Rechts wegen weder zu erheben noch zu beachten sein. Hier droht vielmehr in irgend einer Nähe oder Ferne das Tier aus dem Abgrund, während der rechte Staat gerade diesen Anspruch weder nötig hat noch auch erheben wird. Die Forderung der Liebe ist Röm. 13 deutlich genug von den Forderungen, deren Erfüllung wir dem Staate schuldig sind, abgehoben. Wenn der Staat anfängt, Liebe zu fordern, dann ist er immer schon im Begriff, zur Kirche eines falschen Gottes und damit zum Unrechtsstaat zu werden. Der Rechtsstaat braucht keine Liebe, sondern nüchterne Taten einer entschlossenen Verantwortlichkeit. Eben diese sind es, die ihm durch die Kirche der Rechtfertigung gewährleistet werden.

Viel beschwerlicher, weil grundsätzlicher, ist eine andere scheinbare Lücke in der neutestamentlichen Belehrung. Sie besteht darin, daß das Neue Testament konkret nur im Blick auf einen reinen Obrigkeitsstaat und also von den Christen nur als von Untertanen, nicht aber als von für den Staat in ihrer eigenen [53] Person mitverantwortlichen Bürgern zu reden scheint. Politische Pflichterfüllung erschöpft sich aber für uns hoffentlich nicht im Steuerzahlen und in sonstiger passiver Gesetzmäßigkeit. Politische Pflichterfüllung heißt für uns darüber hinaus: Verantwortliches Wählen der Obrigkeit, verantwortliches Entscheiden über die gelten sollenden Gesetze, verantwortliches Achten auf ihre Durchführung, mit einem Wort aktives politisches Handeln, das dann wohl auch politischen Kampf bedeuten kann und muß. Wenn die Kirche dem modernen Staat nicht gerade diese Form politischer Pflichterfüllung zu garantieren hätte, was hätte sie ihm, dem „demokratischen” Staate, dann überhaupt zu bieten? Die Frage muß nun offenbar gestellt werden, ob wir uns auch da in einer legitimen Verlängerung der Linie von Röm. 13 bewegen? Man wagt scheinbar viel, wenn man sie zu bejahen wagt. Sie muß aber eindeutig bejaht werden. Alles kommt jetzt darauf an, ob es mit jenem Zusammenhang des ὑποτάσσεσθαι von Röm. 13 mit der Mahnung zur Fürbitte von 1. Tim. 2 seine Richtigkeit hat. Ist nämlich das Gebet der Christen für den Staat das Maß und die Norm des ὑποτάσσεσθαι und dieses ein Annex zu jenem, zu der priesterlichen Funktion der Kirche, wird dieses Gebet ernst genommen als verantwortliches Eintreten der Christen für den Staat, dann ist schon damit das die Stelle Röm. 13 scheinbar — aber offenbar doch nur scheinbar — beherrschende Schema eines rein passiven Untertanenstandes der Christen durchbrochen. Dann fragt es sich ernstlich, ob es ein Zufall ist, daß es gerade im Bereich der christlichen Kirche im Laufe der Zeit gerade zu „demokratischen”, d. h. auf der verantwortlichen Betätigung aller Bürger sich aufbauender Staaten gekommen ist[34]. Kann ein ernsthaftes Gebet auf die Länge ohne die entsprechende Arbeit bleiben? Kann man Gott um etwas bitten, das man nicht in den Grenzen seiner Möglichkeiten herbeizuführen im selben [54] Augenblick entschlossen und bereit ist? Kann man also beten, daß der Staat uns erhalten, und zwar als Rechtsstaat erhalten bleiben oder zum Rechtsstaat wieder werden möchte, ohne sich in eigener Person, in eigener Besinnung und mit eigener Tat dafür einzusetzen, daß dies geschehe, ohne mit der Schottischen Konfession[35] den ernstlichen Willen zu haben und zu bekennen: vitae bonorum adesse, tyrannidem opprimere, ab infirmioribus vim improborum defendere, ohne also gegebenen Falles mit Zwingli[36] auch damit zu rechnen, daß solche Machthaber, die untrüwlich und usser der schnur Christi faren wurdind, „mit Gott entsetzt” werden müssen? Kann man der Staatsgewalt jenen schuldigen Respekt entgegenbringen, ohne ihre Sache mit allen diesen Konsequenzen zu seiner eigenen zu machen? Gerade im Blick auf den intimsten und zentralsten Gehalt der neutestamentlichen Mahnung würde ich also sagen, daß wir uns, wenn irgendwo, dann gerade in der Verlängerung der neutestamentlichen Linie im Sinne des „demokratischen” Staatsbegriffs auf dem Boden legitimer Auslegung befinden. Die Diastase zwischen Rechtfertigung und Recht, zwischen ἐκκλησία und πόλις, die Fremdlingschaft der Christen in diesem anderen Bereich wird da nicht aufgehoben, wohl aber wird da der ganze, unausweichliche Ernst der neutestamentlichen Weisung noch viel schärfer ins Licht gerückt, wo es klar ist, daß die Chri­sten den irdischen Staat nicht nur erdulden, sondern wollen müssen, und daß sie ihn nicht als Pilatus-Staat, sondern nur als Rechtsstaat wollen können: daß es also ein äußeres Entfliehen aus jenem anderen, dem politischen Bereich, nicht gibt, daß sie, indem sie ganz in der Kirche, ganz auf die zukünftige Polis ausgerichtet sind, ebenso ganz in Schuld und Verantwortung auch der irdischen Polis verfallen und verpflichtet, ebenso ganz zum Arbeiten und (es sei denn!) zum Kampf wie zum Gebet für sie aufgerufen sind, daß für den Charakter des Staates als Rechtsstaat ein jeder von ihnen mit haftbar ist. Und gerade der „demokratische” Staat könnte ebensogut erkennen wie verkennen, daß er eine treuere, vollständigere Pflichterfüllung nirgendswoher erwarten kann als von den Genossen des ihm als Staat so fremden Bereichs der auf die göttliche Rechtfertigung begründeten ἐκκλησία. [55]

Es bleibt uns hinsichtlich der dem Staat durch die Kirche zu gebenden Garantie noch ein letzter Kreis zu ziehen übrig. Wir erinnern uns, wie die neutestamentliche Mahnung gewissermaßen gipfelt in dem Hinweis darauf, daß die Christen letztlich und entscheidend durch ihr ἀγαθοποιεῖν dem Kaiser zu geben haben, was des Kaisers ist. Was heißt das aber, wenn wir unter diesem ἀγαθοποιεῖν nicht eine neutrale moralische Bravheit, sondern ihr im Glauben an Jesus Christus gelebtes Leben, das Leben der Kinder Gottes, das Leben der Kirche als solches, zu verstehen haben? Es heißt dann doch wohl, daß die entscheidende Leistung der Kirche für den Staat schlicht darin besteht, daß sie ihren Raum als Kirche behauptet und ausfüllt. Indem sie das tut, wird aufs Beste auch für den ganz anderen Raum des Staates gesorgt. Indem sie die göttliche Rechtfertigung verkündigt, wird aufs Beste auch der Aufrichtung und Erhaltung des menschlichen Rechtes gedient. Keine direkte Aktion, die sie, in wohlmeinendem Eifer selber halb oder ganz politisch handelnd, unternehmen und durchführen könnte, könnte auch nur von ferne mit der positiven Relevanz derjenigen Aktion verglichen werden, in der sie, ganz apolitisch, ganz ohne Eingriff in die stattlichen Belange, das kommende Königreich Christi und also die Rechtfertigung allein durch den Glauben verkündigt: die rechte schriftgemäße Predigt und Unterweisung und die rechte schriftgemäße Verwaltung der Sakramente. Indem sie diese Aktion vollzieht, ist sie es, die, im geschöpflichen Raum betrachtet, den Staat begründet und erhält. Der Staat wird, wenn er weise ist, im letzten Grund nichts als eben dies von ihr erwarten und verlangen, weil darin alles, was sie für ihn leisten kann, darin auch jene ganze umfassende politische Verpflichtung ihrer Glieder enthalten ist. — Und man kann und darf die Sache jetzt noch zugespitzter formulieren: Die Garantierung des Staates durch die Kirche geschieht entscheidend eben dadurch, daß die Kirche die Garantie des Staates für sich selber, d. h. seine Garantie der Freiheit ihrer Botschaft in Anspruch nimmt. Es mag merkwürdig klingen, aber es ist so: darin erschöpft sich das, was von der göttlichen Rechtfertigung aus zu der Frage und zu den Fragen des menschlichen Rechtes zu sagen ist: die Kirche muß die Freiheit haben, die göttliche Rechtfertigung zu verkündigen. Der Staat wird [56] in dem Maß seine eigentliche Möglichkeit verwirklichen und also Rechtsstaat sein, als er der Kirche diese Freiheit nicht nur positiv läßt, sondern aktiv gibt, d. h. in dem Maß, als er ehrlich und folgerichtig der Staat sein will, in dessen Raume — ob als Landeskirche oder Freikirche ist eine sekundäre Frage — die Kirche existiert, die diese Freiheit von rechtswegen hat. Wir wissen: der irdische Staat ist weder berufen noch fähig, das ewige Recht des himmlischen Jerusalem auf Erden aufzurichten, weil dazu überhaupt keine Menschenhand berufen und fähig ist. Er ist aber berufen und fähig, menschliches Recht aufzurichten. Und was menschliches Recht ist, das mißt sich nicht an irgend einem romantischen oder liberalen Naturrecht, sondern schlicht an dem konkreten Freiheitsrecht, das die Kirche für ihr Wort, sofern es das Wort Gottes ist, in Anspruch nehmen muß. Dieses Freiheitsrecht bedeutet die Begründung, die Erhaltung, die Wiederherstellung alles — wirklich alles Menschenrechtes. Man lasse es darauf ankommen, ob es mehr braucht als dies! Wo dieses Freiheitsrecht anerkannt ist und wo von der rechten Kirche der rechte Gebrauch davon gemacht wird, da gibt es — die freie Predigt von der Rechtfertigung wird dafür sorgen, daß die Dinge an ihren Ort zu stehen kommen — in gegenseitiger Bestimmung und Begrenzung legitime menschliche Autorität und ebenso legitime menschliche Selbstbestimmung, da fällt zu Boden die Tyrannei hier und die Anarchie dort, der Faszismus ebenso wie der Bolschewismus, da steigt auf die Ordnung der menschlichen Dinge, die Gerechtigkeit, die Weisheit und der Friede, die Billigkeit und die Fürsorge, die zu dieser Ordnung vonnöten sind. Nicht als der Himmel (nicht einmal als ein kleiner Himmel!) auf Erden! Nur so wie sie auf Erden und in dieser Zeit aufsteigen können, aber so, wie sie tatsächlich schon auf Erden und in dieser Zeit, in einer Welt der Sünde und der Sünder aufsteigen können. Kein ewiger, kein unversuchlicher, kein sündloser Salomo — es wird dafür gesorgt sein, daß er sich als das Gegenteil von dem allem immer wieder erweisen wird — aber immerhin Salomo, immerhin ein Abbild dessen, dessen Reich ein Reich des Friedens ohne Grenzen noch Ende sein wird. Das ist’s, was die Kirche dem Staate anzubieten hat, indem sie ihrerseits nichts anderes als Freiheit von ihm haben will. Gerade damit redet sie ihn selbst auf seine beste, seine eigentliche [57] Möglichkeit an. Was kann er mehr verlangen und was kann ihm dienlicher sein als dies: so unerbittlich ernst genommen zu werden?

Wir kennen alle die Maxime Friedrichs des Großen: Suum cuique. Sie steht, was weniger bekannt ist, als Definition des menschlichen Rechts, als Zusammenfassung der Funktionen des rechten Staates schon in Calvins Institutio: ut suum cuique salvum sit et incolume[37]. Es beruht aber — und das hat Calvin nicht gesagt, das müssen wir erst wieder zu entdecken und zu lernen versuchen — auf der Rechtfertigung des sündigen Menschen in Jesus Christus und also auf der Ausrichtung der zentralen Botschaft der christlichen Kirche, daß eben dies in allen Dimensionen wahr und gültig werde in der großen Vorläufigkeit dieses Äons, in der großen Vorläufigkeit auch des Gegenübers von Kirche und Staat in der uns zwischen Jesu Christi Auferstehung und seiner Wiederkunft gelassenen Zeit der göttlichen Geduld: Suum cuique.

Quelle: Karl Barth, Eine Schweizer Stimme 1938-1945, Zollikon: Evangelischer Verlag, 1945, S. 13-57.


[1] Vgl. dazu die instruktive Zusammenstellung von H. Obendiek: Die Obrigkeit nach dem Bekenntnis der reformierten Kirche, München 1936.

[2] Inst. IV 20, 1.

[3] ib. 20, 5 u. 29.

[4] ib. 20, 14.

[5] Schlußreden, Art. 35.

[6] Matth. 17 gehört zwar, weil es um eine Tempelsteuer gehe, nicht hieher!

[7] Der Leser wird schon gut tun, zu beachten, daß in diesem Heft nur dies und nicht mehr als dies versucht wird: auf exegetischem Weg zu einer besseren Sicht des Problems „Kirche und Staat” vorzustoßen. Es wäre m.E. schon viel gewonnen, wenn Einige zugeben würden, daß dieser Versuch als solcher notwendig ist.

[8] Theol. Bl. 1937 Nr. 1. Nach Abschluß dieser Arbeit begegnete mir der Aufsatz von Gerhard Kittel, „Das Urteil des neuen Testamentes über den Staat” (Zeitschr. f. Syst. Theol. 14. Jahrg. 1937, S. 651-680, erschienen im Juni 1938). Er bringt in der mich interessierenden Richtung nichts Neues. — S. 665 dieses Aufsatzes wird jemandem gepredigt, seine Auslegung möge „sich ernsthaft prüfen, ob sie noch ‚Auslegung‘ ist, das heißt, ob sie wirklich allein die Ermittlung des im Text Gegebenen zum Ziel hat oder ob es ihr letztlich um eine — mag sein unbewußte — Eintragung eigener Wünsche sich handelt”. Nun, das ist eine Mahnung, die jedermann immer wieder mit Nutzen hören kann. Nur daß man solche, die hinsichtlich dessen, was sie heute gerade in dieser Sache sagen müssen und nicht sagen dürfen, so sehr im Glashaufe sitzen, bitten darf, sich in der Apostrophierung anderer einige Zurückhaltung aufzuerlegen. Was in dem erwähnten Aufsatz selbst z.B. gleich S. 652f über „Fremdstaat” und „Volksstaat” gesagt und nicht gesagt ist, dürfte mit den „Wünschen” des Verfassers sowie mit denen gewisser „Mächte und Gewalten” bestimmt in einigem Zusammenhang stehen.

[9] Gerade in dem hier Folgenden sind mir nun freilich die in einem ganz andern Zusammenhang angestellten Erwägungen Calvins über das sub Pontio Pilato im Credo indirekt sehr aufschlußreich gewesen:
Pourquoy n’est il dict simplement en un mot qu’il est mort, mais est parlé de Ponce Pilate, soubz lequel il a souffert?
Cela n’est pas seulement pour nous asseurer de la certitude de l’histoire: mais est aussi pour signifier, que sa mort emporte condemnation.
Comment cela?
Il est mort, pour souffrir la peine qui nous estoit deue, et par ce moyen nous en delivrer. Or pource que nous estions coulpables devant le jugement de Dieu comme mal-faicteurs: pour representer nostre personne, il a voulu comparoistre devant le siege d’un iuge terrien, et estre condamné par la bouche d’iceluy: pour nous absoudre au throne du Iuge celeste.
Neantmoins Pilate le prononce innocent et ainsi il ne le condamne pas, comme s’il en estoit digne (Matth. 27, 24; Luc. 23, 14).
Il y a l’un et l’autre. C’est qu’il est iustifié par le temoignage du iuge, pour monstrer, qu’il ne souffre point pour ses demerites, mais pour les nostres: et cependant est condamné solennellement par la sentence d’iceluy mesme, pour denoter, qu’il est vrayment nostre pleige, recevant la condamnation pour nous afin de nous en acquiter.
C’est bien dit. Car s’il estoit pecheur, il ne seroit pas capable de souffrir la mort pour les autres: et neantmoins, afin que sa condamnation nous soit delivrance, il faut qu’il soit reputé entre les iniques (Jes. 53, 12).
Ie l’entens ainsi.
(Catéchisme de l’Eglise de Genève 1542, Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirchen, München1937 f, Heft 1, S. 9).

[10] Archonten werden Röm. 13, 3 die Beamten des Staates genannt!

[11] Es scheint mir angesichts dieser Stelle nicht gut möglich, so allgemein wie H. Schlier (Die Beurteilung des Staates im Neuen Testament Z. d. Z. 1932 S. 312) es tut, zu sagen: „Der irdische Staat hat keine Möglichkeit, über dieses Reich und seine Vertreter ein Urteil abzugeben”. Eben dazu ist er hier offenbar durch die Synagoge des alten Bundes (im Sinne der Evangelien sicher non sine Deo) dringend genug aufgerufen.

[12] Es ist nicht richtig, daß Jesus einer „politischen Anklage zum Opfer gefallen” ist (so G. Dehn, Engel und Obrigkeit, Theol. Aufsätze 1936 S. 91).

[13] Professor Ernst Wolf in Halle verdanke ich folgende Lesefrucht: „Am Aschermittwoch küßt und beschenkt der Kaiser die Kinder seiner Waisenhäuser, belehnt, oder vielmehr belastet später beim Umzug vor allen Leuten den Justizminister mit dem „Tintenfaß des Pilatus”, spricht, indem er es auf des Gebeugten Nacken stellt: „Richte nach Gerechtigkeit wie er.” Ein direktes Erinnern an die tadellos korrekte Haltung römischer Justiz in Sachen eben dieses Heilsmysteriums schien den Fortsetzern des Imperium romanum während der Karwoche nicht übel angebracht; Syrern und Abessiniern galt der „Landpfleger” nebst seiner Gattin Procla sogar für heilig”. (Sir Galahad, Byzanz. Von Kaisern, Engeln und Eunuchen. 1937. E. P. Tal 3, 15; 7, 52; 1. Thess. 2, 15.)

[14] So G. Dehn, a.a.O. S. 97 und 106.

[15] Adv. o. h. V. 24, 1.

[16] Ist H. Schlier, Mächte und Gewalten im Neuen Testament, Theol. Bl. 1930, Sp. 292 der erste gewesen, der es aussprach? G. Dehn hat jedenfalls das Verdienst, die Sache zum ersten Mal breit entwickelt zu haben.

[17] Und nach Röm. 8, 39 (οὔτε τιν κτίσιν ἑτέρα) können wir auch bei der Bezeichnung des Staates als einer ἀνθρωπίνη κτίσις1. Petr. 2, 13 von diesem Bereich nicht allzu weit entfernt sein.

[18] Vgl. G. Dehn, a.a.O. S. 108.

[19] Vgl. dazu H. Schlier, Vom Antichrist Theol. Aufs. 1936, S. 110 f.

[20] Ich wundere mich, daß G. Dehn, a.a.O. S. 101 das Gegenteil behauptet.

[21] Mit Schlier, Mächte und Gewalten, a.a.O. Sp. 291.

[22] Wahrscheinlich dürfte auch Kol. 1, 26 hierher gehören.

[23] Die politischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben die neutestamentliche Exegese in dieser Sache vielfach zu einem gewissen Pessimismus angeleitet, der sich den wirklichen Sachverhalten gegenüber m.E. nicht halten läßt. Der Staat von Apc. 13 ist wie H. Schlier, Die Beurteilung des Staates a.a.O. S. 329, sehr richtig sagt, „der Grenzfall des möglichen Staates”. Also gerade nicht die Regel! G. Kittel möge dem entnehmen, daß die angelologische Auslegung der ἐξουσίαι mit einer „dämonistischen” bzw. „antistaatlichen” durchaus nicht, wie er (S. 662, 675, 680) anzunehmen scheint, identisch ist.

[24] Wenn die bisher übliche Deutung des κατέχον bzw. κατέχων2. Thess. 2, 6 f. auf die dem Hereinbruch des Antichrist entgegenwirkende Funktion des römischen Staates, nicht „leider” durch O. Cullmann (Le caractère eschatologique du devoir missionaire et de la conscience apostolique de St.-Paul, in: Recherches théologiques (Strasbourg1936 S. 26-61) stark erschüttert wäre, würde hier auch dieser Stelle zu gedenken sein.

[25] Mit H. Schlier, Die Beurteilung des Staates, a.a.O. S. 323.

[26] Mit G. Dehn, a.a.O, S. 99.

[27] Vgl. K.L. Schmidt, Sp. 8.

[28] Die Beurteilung des Staates, a.a.O. S. 320.

[29] Strom. IV 171, 2.

[30] De civ. Dei II 21.

[31] Mit H. Schlier, Die Beurteilung des Staates, a.a.O. S. 325.

[32] Röm. 15, 16 hat Paulus sich selbst als λειτουργὸν Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς τὰ ἔθνη bezeichnet, Phil. 2, 25 seinen Mitarbeiter Epaphroditus; Hebr. 1, 2 tragen die Engel Gottes diesen Namen und Hebr. 8, 2 Christus selber!

[33] Es versteht sich von selbst, daß dasselbe auch von der Kirche in der Tschechoslowakei, in Holland, Dänemark, Skandinavien, Frankreich und vor allem England zu sagen ist.

[34] Zu denen sinngemäß auch „Monarchien” wie die englische, holländische usw. zu rechnen sind! — Die Phrase von der gleichen Affinität bzw. Nichtaffinität aller möglichen Staatsformen dem Evangelium gegenüber ist nicht nur abgenützt, sondern falsch. Daß man in einer Demokratie zur Hölle fahren und unter einer Pöbelherrschaft oder Diktatur selig werden kann, das ist wahr. Es ist aber nicht wahr, daß man als Christ ebenso ernstlich die Pöbelherrschaft oder die Diktatur bejahen, wollen, erstreben kann wie die Demokratie.

[35] Art. 14.

[36] Schlußreden, Art. 42.

[37] Instit. IV 20, 3. Und es kann — darauf hat mich Dr. Arnold Ehrhard in Lörrach freundlich aufmerksam gemacht — kein Zweifel bestehen, daß Calvin hier seinerseits Ulpian bezw. Cicero zitiert hat, welcher laut De Leg. 16, 19 eine Vermutung kannte, nach der „lex” Graeco nomine (νόμος) a suum cuique tribuendo seinen Namen hätte.

Hier der Text als pdf.

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