Friedrich Schleiermacher über die kirchliche Statistik in seiner Theologischen Enzyklopädie: „Dass man sich bei uns nur zu häufig auf die Kenntnis des Zustandes der evangelischen Kirche, ja nur des Teiles beschränkt, in welchem die eigene Wirksamkeit liegt, wirkt höchst nachteilig auf die kirchliche Praxis. Nichts begünstigt so sehr das Verharren bei dem Gewohnten und Hergebrachten, als die Unkenntnis fremder, aber doch verwandter Zustände. Und nichts bewirkt eine schroffere Einseitigkeit, als die Furcht, dass man anderwärts werde Gutes anerkennen müssen, was dem eigenen Kreise fehlt.“

Alle Jahre wieder gibt es im Frühjahr die Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Was sie für die Kirche besagen soll, dazu hatte sich zuerst Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher konzeptionell in seiner Theologischen Enzyklopädie (Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1810/1830) geäußert:

Über die kirchliche Statistik

Von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

§ 95. Die Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes der Kirche in einem gegebenen Moment ist die Aufgabe der kirchlichen Statistik.

II. Die kirchliche Statistik.

Begriff und Aufgabe der Statistik (§§ 232-241)

§ 232. In dem Gesamtzustand einer kirchlichen Gesellschaft unterscheiden wir die innere Beschaffenheit und die äußeren Verhältnisse, und in der ersten wieder den Gehalt, der sich darin nachweisen lässt, und die Form, in welcher sie besteht.

Manches scheint allerdings eben so leicht unter die eine, als unter die andere Hauptabteilung gebracht werden zu können, immer aber doch in einer andern Beziehung, so dass dies der Richtigkeit der Einteilung keinen Eintrag tut.

§ 233. Die Aufgabe umfasst in Zeiten, wo die christliche Kirche nicht äußerlich eines ist, alle einzelnen Kirchengemeinschaften.

Jede ist dann für sich zu betrachten, und die Verhältnisse einer jeden zu den übrigen finden von selbst ihren Ort in der zweiten Hälfte. – Aber auch wenn einzelne Kirchengemeinschaften nicht bestimmt voneinander geschieden wären, würden doch einzelne Teile der Kirche sich sowohl ihrer inneren Beschaffenheit, als ihren Verhältnissen nach so sehr von andern unterscheiden, dass Einteilungen dennoch müssten gemacht werden.

§ 234. Der Gehalt einer kirchlichen Gemeinschaft in einem gegebenen Zeitpunkt beruht auf der Stärke und Gleichmäßigkeit, womit der eigentümliche Gemeingeist derselben die ganze ihr zugehörige Masse durchdringt.

Zunächst also und im Allgemeinen der Gesundheitszustand derselben in Bezug auf Indifferentismus und Separatismus (vgl. §§ 56 u. 57). Dieser wird aber erkannt einerseits aus den Entwicklungsexponenten des Lehrbegriffs mit Rücksicht auf die Einstimmigkeit oder Mannigfaltigkeit der Resultate und auf das Interesse der Gemeinde an dieser Funktion, andererseits aus dem Einfluss des kirchlichen Gemeingeistes auf die übrigen Lebensgebiete, und aus der Manifestation desselben in dem gottesdienstlichen Leben.

§ 235. Je größere Differenzen sich hierüber in weit verbreiteten Kirchengemeinschaften vorfinden, um desto zweckwidriger ist es, bei bloßen Durchschnittsangaben sich zu begnügen.

Das Lehrreichste für die Kirchenleitung würde verloren gehen, wenn nicht die am meisten verschiedenen Massen in Bezug auf die wichtigsten in Betracht kommenden Punkte miteinander verglichen würden.

§ 236. Das Wesen der Form, unter welcher eine Kirchengemeinschaft besteht, oder ihrer Verfassung, beruht auf der Art, wie die Kirchenleitung organisiert ist, und auf dem Verhältnis der Gesamtheit zu denen, welche an der Kirchenleitung teilnehmen, oder zu dem Klerus im weiteren Sinn.

Die große Mannigfaltigkeit der Verfassungen macht es notwendig, sie unter gewisse Hauptgruppen zu verteilen, wobei aber Vorsicht zu treffen ist, sowohl, dass man nicht zu viel Gewicht auf die Analogie mit den politischen Formen lege, als auch, dass man nicht über den allgemeinen Charakteren die spezifischen Differenzen übersehe.

§ 237. Die Darstellung der innern Beschaffenheit ist desto vollkommner, je mehr Mittel sie darbietet, den Einfluss der Verfassung auf den inneren Zustand, und umgekehrt, richtig zu schätzen.

Denn dies hängt mit der größten Aufgabe der Kirchenleitung zusammen, und ohne diese Beziehung bleiben alle hierher gehörigen Angaben nur tote Notizen, wie alle statistischen Zahlen ohne geistvolle Kombination.

§ 238. Die äußeren Verhältnisse einer Kirchengemeinschaft, die nur Verhältnisse zu andern Gemeinschaften sein können, sind teils die zu gleichartigen, nämlich sowohl die des Christentums und einzelner christlichen Gemeinschaften zu den außerchristlichen, als auch die der christlichen Kirchengemeinschaften zu einander, teils die zu ungleichartigen, und hierunter vornehmlich zu der bürgerlichen Gesellschaft und zur Wissenschaft im ganzen Umfang des Wortes.

Wir betrachten die letzte als eine Gemeinschaft schon deshalb, weil die Sprache alle wissenschaftliche Mitteilung bedingt, und jede doch ein besonderes Gemeinschaftsgebiet bildet, so dass die Verhältnisse derselben Kirchengemeinschaft ganz verschieden sein können in verschiedenen Sprachgebieten.

§ 239. Jede Kirchengemeinschaft steht mit den sie berührenden in einem Verhältnis der Mitteilung sowohl, als der Gegenwirkung, welche auf das mannigfaltigste können abgestuft sein vom Maximum des einen zum Minimum des andern bis umgekehrt.

Unter Berührung soll nicht etwa nur lokales Zusammenstoßen verstanden werden, sondern jede Art von Verkehr. Gegenwirkung aber ist, auch abgesehen von aller nach außen gehenden Polemik, teils durch das gemeinsame Zurückgehen auf den Kanon, teils durch die von außen anbildende Tätigkeit, die nicht als gänzlich fehlend angesehen werden kann, bedingt.

§ 240. Das Verhältnis kirchlicher Gemeinschaften zu eigentümlichen Ganzen des Wissens schwankt zwischen den beiden Einseitigkeiten: der, wenn die Kirche kein Wissen gelten lassen will, als dasjenige, welches sie sich zu ihrem besondern Zweck aneignen, mithin auch selbst hervorbringen kann, und der, wenn das objektive Bewusstsein die Wahrheit des Selbstbewusstseins in Anspruch nehmen will.

Denn auf diesen beiden Punkten schließen beide Gemeinschaften einander aus. Zwischen beiden in der Mitte liegt als gemeinsamer Annäherungspunkt ein gegenseitiges tätiges Anerkennen beider. Die Aufgabe ist, ins Licht zu setzen, wie sich ein bestehendes Verhältnis zu diesen Hauptpunkten stellt.

§ 241. Das Gleiche gilt von dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Nur dass man hier, wo sich bestimmtere Formeln [Formen?] entwickeln, leichter sieht, teils wie nicht leicht ein gegenseitiges Anerkennen stattfindet, ohne doch ein kleines Übergewicht auf die eine oder andere Seite zu legen, teils wie zumal das evangelische Christentum seine Ansprüche bestimmt begrenzt.

Dass eine Theorie über dieses Verhältnis nicht hierher gehört, versteht sich von selbst. Viele aber von den hier nachgewiesenen Örtern werden auch in dem so genannten Kirchenrecht behandelt, nur, wie auch schon der Name andeutet, überwiegend ans dem bürgerlichen Standpunkt betrachtet.

Zur Methode des statistischen Studiums (§§ 242-248)

§ 242. Die kirchliche Statistik ist nach diesen Grundzügen einer Ausführung ins Unendliche fähig.

Diese muss aber natürlich immer erneuert werden, indem nach eingetretener Veränderung die jedesmaligen Elemente der Kirchengeschichte zuwachsen.

§ 243. Dass man sich bei uns nur zu häufig auf die Kenntnis des Zustandes der evangelischen Kirche, ja nur des Teiles beschränkt, in welchem die eigene Wirksamkeit liegt, wirkt höchst nachteilig auf die kirchliche Praxis.

Nichts begünstigt so sehr das Verharren bei dem Gewohnten und Hergebrachten, als die Unkenntnis fremder, aber doch verwandter Zustände. Und nichts bewirkt eine schroffere Einseitigkeit, als die Furcht, dass man anderwärts werde Gutes anerkennen müssen, was dem eigenen Kreise fehlt.

§ 244. Eine allgemeine Kenntnis von dem Zustande der gesamten Christenheit in den hier angegebenen Hauptverhältnissen, nach Maßgabe wie jeder Teil mit dem Kreise der eignen Wirksamkeit zusammenhängt, ist die unerlässliche Forderung an jeden evangelischen Theologen.

Die hieraus freilich folgende Verpflichtung zu einer genaueren Kenntnis des Näheren und Verwandteren ist doch nur untergeordnet. Denn eine richtige Wirksamkeit auf die eigne Kirchengemeinschaft ist nur möglich, wenn man auf sie als auf einen organischen Teil des Ganzen wirkt, welcher sich in seinem relativen Gegensatz zu den andern zu erhalten und zu entwickeln hat.

§ 245. Durch besondere Beschäftigung mit diesem Fach ist noch vieles zu leisten, sowohl was den Stoff anlangt, als was die Form.

Die neueste Zeit hat zwar viel Material herbeigeschafft; aber es ist selten aus den rechten Gesichtspunkten aufgefasst. Und umfassendere Arbeiten gibt es noch so wenige, dass die beste Form noch nicht gefunden sein kann.

§ 246. Die bloß äußerliche Beschreibung des Vorhandenen ist für diese Disziplin, was die Chronik für die Geschichte ist.

Bei dem gegenwärtigen Zustand derselben aber ist es schon verdienstlich, Unbekannteres und Abweichenderes auch nur auf dies Weise zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Bloß topographische und onomastische oder bibliographische Notizen sind natürlich das am wenigsten Fruchtbare.

§ 247. Eine ins einzelne gehende Beschäftigung mit dem gegenwärtigen Zustande des Christentums, welche, nicht vom kirchlichen Interesse ausgehend, auch keinen Bezug auf die Kirchenleitung nähme, könnte nur, wenn auch ohne wissenschaftlichen Geist betrieben, ein unkritisches Sammelwerk sein; je wissenschaftlicher aber, um desto mehr würde sie sich zum Skeptischen oder Polemischen neigen.

Der Impuls kann wegen Beschaffenheit der Gegenstände nicht von einem rein wissenschaftlichen Interesse herrühren. Fehlt also das für die Sache: so muss eins gegen die Sache wirksam sein. Ähnliches gilt von der Kirchengeschichte.

§ 248. Ist das religiöse Interesse von wissenschaftlichem Geist entblößt: so wird die Beschäftigung, statt ein treues Resultat zu geben, nur der Subjektivität der Person oder ihrer Partei dienen.

Denn mir der wissenschaftliche Geist kann, wo ein starkes Interesse vorwaltet, welches vom Selbstbewusstsein ausgeht, vor unkritischer Parteilichkeit – sicherstellen.

Folgerungen (§§ 249-250)

§ 249. Die Disziplin, welche man gewöhnlich Symbolik nennt, ist nur aus Elementen der kirchlichen Statistik zusammengesetzt, und kann sich in diese wieder zurückziehn.

Sie ist eine Zusammenstellung des Eigentümlichen in dem Lehrbegriff der noch jetzt bestehenden christlichen Parteien; und da diese nicht nach Weise der Dogmatik (vgl. §§ 196 u. 233) mit Bewährung des Zusammenhanges vorgelegt werden können: so muss die Darstellung rein historisch sein. Der nicht ganz der Sache entsprechende Name, weil nämlich nicht alle Parteien Symbole in dem eigentlichen Sinne des Wortes haben, kann nur sagen wollen, dass der Bericht sich an die am meisten klassische und am allgemeinsten anerkannte Darstellung einer jeden Glaubensweise halte. Ein solcher Bericht muss aber in unserer Disziplin (vgl. § 284) die Grundlage bilden zu der Darstellung der Verhältnisse des Lehrbegriffs in der Gemeinschaft; und der Unterschied ist nur der, dass dort der Lehrbegriff einer Gemeinschaft beschrieben wird in Verbindung mit ihren übrigen Zuständen, in der Symbolik aber in Verbindung mit den Lehrbegriffen der andern Gemeinschaften, wiewohl wir auch für die Statistik schon (vgl. § 235) das komparative Verfahren empfohlen haben.

§ 250. Auch die biblische Dogmatik kommt der Weise der Statistik in der Behandlung des Lehrbegriffs näher, als der eigentlichen Dogmatik.

Denn unsere Kombinationsweise ist so sehr eine andere, und teils ist für die neutestamentischen biblischen Sätze das Zurückgehen auf den alttestamentischen Kanon nur ein sehr ungenügendes Surrogat für unser Zurückgehn auf den neutestamentischen, teils fehlt uns dort überall die weitere Entwicklung der späteren Zeiten, die in unsere Überzeugung so eingegangen ist, dass wir uns jene nicht so aneignen können, wie es einer eigentlich dogmatischen Behandlung wesentlich ist. Die Darstellung des Zusammenhanges der biblischen Sätze in ihrem eigentümlichen Gewand ist also überwiegend eine historische. Und wie jedes zusammenfassende Bild (vgl. § 150) eines als Einheit gesetzten Zeitraums eigentlich die Statistik dieser Zeit und dieses Teils ist: so ist die biblische Dogmatik nur ein Teil von diesem Bilde des apostolischen Zeitalters.

Quelle: Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1810/1830), hrsg. v. Heinrich Scholz, Darmstadt: WBG, 1961, S. 40.89-96.

Hier der Text als pdf.

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