Über die Mystik (Kirchliche Dogmatik I/2)
Von Karl Barth
Auch die Mystik bedeutet, daß der Mensch mit ihr, sofern sie Ausdruck, Veräußerlichung, Darstellung ist, praktisch und grundsätzlich fertig ist. Daß er in ihrem Gottesbild die Wahrheit und in der Befolgung ihres Gesetzes das Heil und die Gewißheit nicht mehr zu finden vermag.
Das Wort „Mystik“ ist wohl doppeldeutig, sowohl von mýein, als auch von myeĩn her zu verstehen, mýein heißt: die Augen und den Mund verschließen; myeĩn heißt: einweihen. Mystik ist diejenige höhere Weihe des Menschen, die er dadurch erlangt, daß er der Außenwelt gegenüber sowohl passiv wie aktiv tunlichste Zurückhaltung übt, oder: diejenige passive und aktive Zurückhaltung gegenüber der Außenwelt, die zugleich zu einer höheren Weihe des Menschen geeignet ist.
Auch die Mystik bedeutet die grundsätzliche Lösung des Menschen von der ehemals „draußen“ gesuchten Befriedigung des religiösen Bedürfnisses. Dennoch ist sie in ihrem Verhältnis zu diesem „draußen“ die konservative Gestalt jener kritischen Wendung. Die Mystik greift nämlich die Religion jedenfalls zunächst und im Ansatz nicht sichtbar an. Sie negiert sie nicht direkt. Sie hat kein Interesse an Bildersturm, Dogmenleugnung und ähnlichen offenen Befreiungstaten. Sie unterwirft sich der herrschenden Lehre und Observanz oder sie respektiert sie doch. Sie läßt die Religion ruhig stehen. Sie ist u. U. sogar in der Lage, ihre Dogmatik durch gewisse besonders tiefe und ernste Spitzensätze und ihren Kultus durch gewisse besonders sinnvolle Formen (Mysterien) scheinbar zu bereichern, die allgemeine Religionsgemeinschaft durch besonders nachdrückliche Vertretung ihrer Prinzipien und durch besondere Sammlung und Einübung der Gläubigsten unter ihren Gläubigen scheinbar ganz neu zu beleben. Sie gibt sich gerne und ehrlich als die wahre „Gottesfreundschaft“. Der Radikalismus des Rückzugs aus der äußerlich religiösen Position ist in seiner mystischen Form grundsätzlich nur darin wirksam, daß der Mystiker alles, was in der betreffenden Religion gelehrt und geübt wird, innerlich, geistig, lebendig, d. h. aber bezogen auf die Wirklichkeit jenes gestalt- und werklosen Innenraums und ja nicht in seiner abstrakten Äußerlichkeit verstanden haben will. Der Mystiker wird hervorheben und betonen, daß alles Äußere eben nur Bild und Form, alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, daß es seine Wahrheit nur in seiner Beziehung zu dem unaussprechlichen, weil ungegenständlichen Wesen tat, aus dem es hervorgegangen ist, zu dem es auch wieder zurückkehren muß. Das spezifisch mystische Pathos des Verzichtes, des Schweigens, des Weges in die Stille ist das des Verstehens, des Deutens, des Interpretierens des nun einmal geltenden und zu respektierenden Äußeren. Der Mystiker wird auch die gefährlichsten Dinge, etwa über die heimliche Identität des Innen und des Außen, des Ich und des Gottes, immer sehr fromm, immer im Anschluß an die scheinbar das Gegenteil behauptende religiöse Überlieferung sagen; er wird diese sozusagen zu einem Zeugen gegen sich selbst zu machen suchen. Er wird nur für solche Deutung der Überlieferung Freiheit fordern, nicht etwa die Freiheit, die Überlieferung einfach zu beseitigen. Wer weiß, ob er nicht an äußerem Konservativismus ihre gewöhnlichen Gläubigen weit übertreffen wird! Und das alles nicht etwa, wie man ihm dann wohl vorwirft, aus Menschenfurcht und Unwahrhaftigkeit, sondern weil er die Überlieferung, weil er das ganze System der dargestellten Religion in seiner Weise aufrichtig liebt. Er liebt es nämlich, weil er es als Text für seine Deutungen, als Material für seine Vergeistigungen, als Äußeres, das er zu verinnerlichen hat, als den Ausgangspunkt des großen Rückzugs, auf dem sich nach ihm die Erkenntnis der Wahrheit vollzieht, ganz einfach braucht. Was wäre die Mystik ohne ihren Gegenspieler, die religiöse Dogmatik und Ethik? Würde diese zunichte, die Mystik müßte „vor Not den Geist aufgeben”, genau so, wie sie es von Gott behauptet für den Fall, daß der Mensch zunichte würde! Sie lebt tatsächlich von diesem Gegenspieler, und darum pflegt sie schonend, ja pfleglich mit ihm umzugehen.
Es bedeutet darum durchaus keinen Widerspruch und es darf gerade nicht als eine Verirrung interpretiert werden, wenn z. B. Johann Scheffler, nachdem er eben noch das Ich und den Gott gänzlich ineinander hatte auf- und untergehen lassen, auf einmal auch singen konnte:
Miß dir nicht Weisheit zu, wie klug du dir auch bist,
Niemand ist weis’ in Gott als ein kathol’scher Christ,
und wenn er sich dementsprechend in einem breiten Teil seines dichterischen Werkes geben konnte. „Dieser feinfühlige Dichtersmann, der aus der Tiefenschau zur Dogmatik kam, anklopfte, mit den Augen des Sehers Steine zu bewegen meinte, ein vertrocknetes Reis wieder zum Grünen bringen wollte, indem er sich in die Domen warf, in das tote Gestrüpp warf mit entblößter Brust — er hat etwas erlebt. Aus dem Dornbusch ist eine Spinne gekrochen, die ihm das Herzblut ausgesaugt hat. Und plötzlich hing er in den Domen, selber als ein entseeltes dürres Reis. Der Wind rührte daran: es sang noch, in einem letzten unverwüstlichen Widerhall seiner Liebeskraft. Aber dazwischen mischten sich ekle Laute des knatternden Gespensterzweiges. Scheffler wurde ein orthodoxer Fanatiker …“ (Wilhelm Boelsche, in seiner Ausgabe des „Cherubinischen Wandersmann“, 1905, S. LXIV f.; ähnlich: Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendland, 3. Bd., 1922, S. 190 f.) Unverständiger können gerade Liebhaber einer radikalen Mystik nicht urteilen! Als ob die Mystik das Komplement der bestehenden und geltenden Religion nicht geradezu forderte! Was soll sie denn abbauen, aushöhlen, reduzieren, negieren, wenn es keine solche Religion mehr gibt? Und wie soll sie denn als Mystik existieren, wenn es nichts mehr zu negieren gibt? Es ist gerade die Genialität, die Umsicht und Ökonomie, mit der Angelus Silesius die mystische Sache vertreten und betrieben hat, darin zu erblicken, daß er sich — mit vielen Genossen in China, in Indien, in Arabien und viel klüger als seine Verehrer im modernen Abendland! — zugleich als „orthodoxer Fanatiker“ betätigt hat!
Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, Zollikon-Zürich: EVZ, 31945, S. 348-350.