Lesslie Newbigin, Mission und Einheit der Kirche (1958): „Wenn wir die heutigen Weltereignisse unter An­leitung des Neuen Testaments betrachten, dann wird uns deutlich, daß wir Zeugen eines Prozesses sind, in dem die Menschheit immer mehr hinein­gezogen wird in eine einzige Geschichte mit dem Kreuz als Mitte und dem Jüngsten Gericht und der Gnade Christi als Ziel.“

Mission und Einheit der Kirche[1]

Von The Rt. Rev. Lesslie Newbigin Bischof in Madura

I.

Auf Grund unserer Geschichte und Erfahrung in Süd-Indien möchte ich davon berichten, wie Mission und Einheit miteinander verknüpft sind. Was in Süd-Indien geschah, ist ein Beispiel für die Entwicklung in vielen Missionsgebieten, die den Ausgangspunkt für die moderne ökumenische Bewegung gebildet hat.

Die ersten protestantischen Missionare haben in Süd-Indien von Anfang an brüderliche Gemeinschaft untereinander gehabt. Ange­sichts der ungeheuren Aufgabe, die vor ihnen lag, und im Blick auf ihre außerordentlich kleine Zahl und ihre geringen Hilfsquellen war es ganz natürlich, daß sie sich gegenseitig als Verbündete und nicht als Rivalen ansahen. Von Anfang an nahmen sie aufeinander Rück­sicht. Jede Missionsgesellschaft übernahm die Verantwortung für ein bestimmtes Gebiet, so daß Überschneidungen mit den Gebieten anderer Missionsgesellschaften vermieden wurden. In großen Städten gab es allerdings Überschneidungen; auch sonst wurde dieses System nicht überall verwirklicht. Aber es galt als allgemeine Regel, daß protestantische Missionen in ein und demselben Gebiet nicht mit­einander konkurrieren sollten.

Diese einfache und praktische Regelung, die m. W. ohne jede sorg­fältige theologische Rechtfertigung vorgenommen wurde, hatte nichts­destoweniger außerordentlich wichtige und weitreichende Konse­quenzen, die über das hinausgingen, was die ersten Missionare vor­ausahnen konnten. Dadurch bildeten sich die jungen protestantischen Kirchen in Indien als lokale Einheit, d. h. in jedem Dorf gab es nor­malerweise nur eine christliche Gemeinde. Indien hat ungefähr 558 000 Dörfer mit weniger als 5000 Einwohnern. In solchen Dörfern leben 83 Prozent der gesamten Bevölkerung. Weil hier die Kirche am stärksten ist, bedeutet es ungeheuer viel, daß die meisten Dörfer jeweils nur eine christliche Kirche haben. Die Entscheidungsfrage: Christ oder Nichtchrist steht auf diese Weise viel klarer vor jedem einzelnen, als dies normalerweise in den Ländern der alten Christen­heit der Fall ist. Wo verschiedene Denominationen am selben Ort um die Bevölkerung werben, betonen sie notwendigerweise beson­dere Lehrmeinungen und Verhaltensweisen, durch die sie sich von einander unterscheiden. Wo es jedoch nur eine Gemeinde im Dorf gibt, hat sie nur eine Sache zu vertreten, nämlich Christus und sein Evangelium. Sie braucht keinen anderen Namen auf ihr Anschlag­brett zu setzen als den Namen Christi. Sie steht vor dem Dorf allein in Seinem Namen.

Von daher wird das Zeugnis der Kirche nach zwei Richtungen hin bestimmt:

Erstens: Die eine Gemeinschaft am selben Ort ent­spricht dem Evangelium von der Versöhnung. Das Angebot der Versöhnung mit Gott durch Jesus Christus und das Angebot der Gemeinschaft mit allen, die diese Versöhnung empfan­gen haben, gehören zusammen. Das ist keine leichte Sache; denn in jeder menschlichen Gemeinschaft gibt es Streitigkeiten und Miß­verständnisse. Es würde oft leicht und angenehm sein, dem durch Übertritt in eine andere Kirche zu entgehen. Es ist nicht leicht für Männer und Frauen sehr verschiedenen Temperaments und Ge­schmacks, verschiedener Erziehung und vor allem verschiedener Kasten, ständig in einem „Leibe“ zusammenzuleben. Im Unterschied zu europäischen und amerikanischen Städten kann man sich im in­dischen Dorf seine Gefährten nicht aussuchen. Jeder kennt den ande­ren sehr genau. Man kann einander unmöglich aus dem Wege gehen. Man kann Streitigkeiten nicht dadurch vermeiden, daß man den anderen einfach ignoriert, wie es in einer komplexen städtischen Gesellschaft möglich ist. Die christliche Gemeinde ist daher im har­ten Alltag vor die Frage gestellt, ob die Versöhnung in Jesus Chri­stus ausreicht, um ein Zusammenleben ganz verschiedener Menschen zu ermöglichen. Dies wird zu einer Sache konkreter täglicher Ent­scheidung. Die Gemeinde kann nur weiter existieren, wenn das Kreuz ihr Zentrum ist, wenn ihre Glieder lernen, was es bedeutet, daß Christus für unsere Sünden gestorben ist, und wir darum gehal­ten sind, einander zu vergeben. Die Paulusworte über die Teilnahme am Abendmahl werden außerordentlich real und kritisch in einer solchen Lage.

Ich kann dies mit einem kleinen Erlebnis illustrieren, und Sie werden mir verzeihen, wenn es sehr trivial erscheint. Wir haben eine kleine Gemeinde in einer Landstadt meiner Diözese, in der viele Jahre lang der Lehrer der wichtigste Mann am Ort war. Eines Tages kamen zwei Regierungsbeamte in das Dorf. Sie waren Christen und übernahmen sehr bald die Führung in der Gemeinde. Wie es in solcher Lage leicht geschieht, gab es bald Rivalität zwischen beiden, und es dauerte nicht lange, bis die Gemeinde in zwei Parteien ge­spalten war. Alle Versuche, eine Versöhnung zu bewerkstelligen, schlugen fehl, und für mehrere Monate kam das Leben der Ge­meinde durch diese Spaltung zum Stillstand. Ich zeltete zufällig in einem benachbarten Dorf und erhielt die Nachricht von einem der Regierungsbeamten, ich möchte einen Abendmahlsgottesdienst in der Gemeinde halten. Ich ließ ihn wissen, dies bedeute unter den gegebenen Umständen einen Mißbrauch des Sakramentes, aber ich sei gern zu einem Gespräch bereit, wenn er herüberkommen wolle. Sehr spät am Abend kamen er und sein Kollege herüber. Wir spra­chen in der Nacht etwa zwei Stunden lang miteinander. Schließlich bekundete er seine Bereitschaft, vor der Gemeinde seine Schuld an der Spaltung zu bekennen. Daraufhin erklärte ich mich bereit, den Gottesdienst zu übernehmen. Am folgenden Montagmorgen ging ich um 6 Uhr früh in das Dorf. Ich fand die ganze Gemeinde versam­melt; und mit großer Freude feierten wir das Herrenmahl. Danach sprach einer der Regierungsbeamten stellvertretend auch für den anderen sein Bedauern darüber aus, daß sie die Spaltung der Ge­meinde verursacht hätten. Ich spürte damals, daß es all des Elends der vergangenen Monate bedurft hatte, um die Gemeinde an den Ort zu bringen, wo es Versöhnung gibt: am Kreuz Öhristi. Hier zeigt es sich ganz klar: wenn wir nicht bereit sind diesen Preis im Leben der örtlichen Gemeinde zu zahlen, haben wir nicht das Recht, gegen­über der Welt von der versöhnenden Macht Christi zu reden.

Zweitens: Die Gemeinde ist selber Träger des Zeug­nisses. Wenn die Hindus im Dorf das Wort Gottes nicht hören durch das Zeugnis der örtlichen Gemeinde, werden sie es überhaupt nicht hören. Bei meiner Visitationstätigkeit ist mir dies immer wie­der klar geworden. Wenn ich eine kleine Dorfgemeinde besuche, kommen in der Regel auch die Nichtchristen des Dorfes aus ihren Häusern, um zu sehen und zu hören. Ehe der Gottesdienst beginnt, pflegen wir uns eine halbe Stunde lang vor der Kirche aufzuhalten, und ich werde meistens aufgefordert, etwas zu sagen. In der Mitte befindet sich die Gemeinde, ringsherum stehen die Hindus und Mos­lems des Dorfes. Wenn ich zu ihnen allen spreche, wird es jedem von uns unausweichlich klar, daß die Predigt nur dann Frucht trägt, wenn die Nichtchristen merken, daß sie sich bewährt im Leben der Christen, die dort in der Mitte sitzen. Keine andere christliche Akti­vität kann dies Zeugnis ersetzen. Die Verantwortung dafür ruht auf der örtlichen Gemeinde. Alles andere ist demgegenüber nur ein Hilfsdienst.

So war es nötig und möglich, die Entwicklung einer organischen Einheit zwischen den Denominationen zu fördern, weil die Kirche in Süd-Indien weithin in dieser örtlichen Einheit gewachsen ist. Es ent­standen neue Probleme, als Christen auf Grund ihrer Arbeit häufig den Wohnsitz wechseln mußten. Tausende von Männern und Frauen, die als Christen in einer besonderen christlichen Tradition erzogen worden sind, mußten an Orten leben und arbeiten, an denen ihre eigene Tradition überhaupt nicht vertreten war. Eine Familie z. B., die niemals eine andere Art von Christentum als die lutherische kennengelernt hat, muß in einem Ort leben, an dem man ein Baptist sein muß, will man nicht völlig außerhalb der christlichen Gemein­schaft stehen. Oder eine anglikanische Familie kommt an einen Ort, wo die einzige Form des Christentums presbyterianisch ist. Was soll­ten die Kirchen in dieser Lage tun? Sollten sie das Problem igno­rieren und die Sache einfach laufen lassen? Sollten sie eine Lösung in den sogenannten „Gemeinschaftskirchen“ (community churches) suchen? Wenn wir uns über die tiefgreifenden Bekenntnisunter­schiede hinwegsetzten, käme es zu einer Indifferenz gegenüber der Wahrheit. Es war auch unmöglich, das Problem wie in England oder Amerika zu lösen, neue Kirchen an jedem Ort zu gründen, wo sich einige Glieder derselben niedergelassen haben. Erstens war und ist dies unmöglich, weil die Kirchen einfach keine Mittel dazu hatten und haben. Zweitens wäre es auch falsch gewesen, denn es hätte die Zerstörung jener örtlichen Einheit bedeutet. Dies wäre ein schreck­licher Schlag für unser ganzes christliches Zeugnis gewesen, wie ich es selbst erfahren habe, als ich in den beiden großen heiligen Hindu­städten Kancheepuram und Madurai als Missionar arbeitete: Wenn man in einer solchen Stadt auf der Straße das Evangelium predigt, geschieht es häufig, daß ein gebildeter Brahmane oder Hindu aus hoher Kaste dazukommt. Vielleicht ist er außerordentlich gebildet und ein Mann von großer Erfahrung und Erbe alter Kultur. Dann ist es ganz natürlich, daß er uns die Frage stellt: „Mit welchem Recht kommt Ihr mit Eurer fremden Religion und fordert uns zum Über­tritt auf? Merkt Ihr nicht, daß Ihr an religiösem Fanatismus und blindem Eifer leidet?“ Wenn wir ihm antworten wollen, müssen wir ihm zeigen, daß das Kreuz Jesu Christi der Ort ist, an dem die ganze Menschenfamilie mit Gott versöhnt wird, und daß es darum einen Mittelpunkt gibt, um den die Menschheit eins werden kann. Wenn wir das sagen, wird er gewiß antworten: „Laßt einmal sehen, ob Ihr glaubt, was Ihr predigt! Laßt uns sehen, ob Ihr davon überzeugt seid, daß man mit Jesus Christus allein auskommt und ob Sein Name allein ausreicht für das Zusammenleben in einer Fa­milie! Solange Ihr selbst in verschiedene Denominationen gespalten seid, werdet Ihr uns nicht überzeugen, daß Ihr in Christus das Ge­heimnis der Versöhnung für die Welt habt!“ Das ist eine Heraus­forderung, der wir uns ehrlich stellen müssen. Die gegebene örtliche Einheit zu zerstören und fünf oder sechs getrennte Kirchen an jedem Ort zu errichten, hieße die Wirklichkeit der Versöhnung verleug­nen angesichts der heidnischen Welt. Die Kirchen spürten, daß trotz ungeheurer Schwierigkeiten kein anderer Weg blieb, als geduldig und bußfertig nach dem Grund unserer Einheit und der Ursache unserer Trennung zu fragen, um miteinander nach Wegen zur Wiederherstellung der sichtbaren Einheit der Kirche zu suchen.

Aus zwei Gründen habe ich mich bei dieser Erfahrung in Indien länger aufgehalten. Sie illustriert einmal den engen Zusammenhang zwischen Einheit und Mission. Zweitens ist sie ein Beispiel für das, was auf der ganzen Welt geschah, wo immer Missionare in heid­nische Länder ausgezogen sind. Hier werden die Hintergründe der modernen ökumenischen Bewegung deutlich. Sie beginnt nicht mit abstrakter theologischer Reflexion, sondern mit konkretem missio­narischem Gehorsam, und sie ist das Ergebnis der Tatsache, daß eine große Anzahl von Menschen (meistens keine ausgebildeten Theolo­gen) das Gebot unseres Herrn, alle Völker zu Jüngern zu machen, allem voranstellten. Dieser Gehorsamsakt brachte sie mit einem Mal in eine neue Situation, in der die alten Spaltungen unerträglich wurden. Sie wurden Schritt für Schritt an den Punkt geführt, an dem sie sich mit nichts anderem zufrieden geben konnten, als mit der sichtbaren Wiedervereinigung der Kirche, die durch unsere Sünde und Blindheit zertrennt worden ist. So setzte sich in ganz verschiedenen Teilen der Welt eine Kraft durch, die wir heute öku­menische Bewegung nennen.

Fast jeder Christ kann erkennen, daß es bestimmte Lagen gibt, in denen die christliche Uneinigkeit untragbar wird. Wenn wir einer völligen Leugnung Christi begegnen, wird alles, was Christen tren­nen mag, unbedeutend im Vergleich zu dem einen gemeinsamen Christus. Leider vergessen die Christen immer wieder, daß die Lage der Kirche immer und überall durch die Leugnung Christi bestimmt ist. Die Kirche existiert immer und überall als Zeugin des einen Namens, durch den die Menschen gerettet werden. Ihre Pflicht ist es, alle Menschen überall auf diesen einen Gnadenthron hinzuweisen. Doch wenn sie die nichtchristliche Welt vergißt und sich mit sich selbst beschäftigt, dann gibt es immer eine Fülle von Trennungs­gründen. Die Kirchen der alten Christenheit hatten viele Jahrhun­derte lang praktisch die nichtchristliche Welt vergessen, so daß sie sich hauptsächlich mit dem Kampf zwischen verschiedenen Auffas­sungen innerhalb der christlichen Gesellschaft beschäftigten. So­lange nur die Kirche selbst zur Diskussion stand, wurden solche Ver­schiedenheiten praktisch wie theologisch zu völlig unversöhnlichen Größen. Doch von dem Augenblick an, da die Christen anfingen, sich wieder der ungläubigen Welt zuzuwenden und in Seinem Namen dem zu begegnen, was Seinen Namen leugnet, mußte sich die ganze Diskussion ändern. Alles erschien in einer neuen Perspektive. Die Trennung wurde als unerträglich empfunden; denn sie bedeutet eine weltöffentliche Verleugnung der eigentlichen Botschaft, um deren Verkündigung willen die Kirche existiert. Diese Trennung verleug­net öffentlich die Wirklichkeit der Versöhnung.

Das Bemühen der Jungen Kirchen um Einheit wird manchmal ab­gewertet als Ergebnis theologischer Ignoranz oder als Ergebnis des Druckes nichttheologischer Faktoren oder als Ergebnis rein prag­matischer Erwägungen. Vielleicht enthält diese Kritik ein Wahr­heitsmoment. Aber das bedeutet nicht, daß wir von ihnen nichts zu lernen hätten, oder daß ihre Haltung falsch wäre.

Die stärkere Bemühung um Einheit kommt bei den Jungen Kir­chen aus einer anderen Perspektive. Man wird fragen dürfen, ob es nicht vielleicht die richtige Perspektive ist. Die Perspektive der Jungen Kirchen wird von der unvollendeten evangelisti­schen Aufgabe beherrscht. Diese Kirchen stehen ganz und gar der heidnischen Welt gegenüber. Sie haben weder eine lange Geschichte hinter sich noch haben sie große geistliche oder materielle Hilfs­quellen. In dieser Situation wird man zu der doppelten Einsicht ge­trieben, daß erstens Christus alles ist, und daß, wenn wir Christus gemeinsam haben, wir genug haben, um uns eins zu machen, — und daß zweitens wir Christen um der Welt willen da sind und daß wir im Widerspruch zu unserem eigentlichen Wesen als Kirche stehen, wenn wir durch unsere Uneinigkeit Christus vor der Welt ver­stecken.

II.

Nachdem wir die Bedeutung der alten konfessionellen Spaltungen für die Mission betrachtet haben, wenden wir uns jetzt einer ande­ren Trennung zu, die sich im Zuge der Missionstätigkeit selbst er­geben hat. Innerhalb der Mission entstand nämlich eine Trennung zwischen Kirche und Missionsbewegung. Der Versuch, diese Tren­nung zu überwinden, war bekanntlich beherrschender Faktor in der Missionsgeschichte der letzten beiden Jahrzehnte. Es zeigte sich in fast allen missionarischen Bemühungen der protestantischen Kir­chen, entweder bei den aussendenden älteren Kirchen oder bei den empfangenden jüngeren Kirchen oder bei beiden eine Zweiteilung zwischen dem einen Teil, der sich Kirche nennt, und dem anderen Teil, der sich Mission nennt. Diese Zweiteilung hat theologische und kulturelle Gründe. Beide Faktoren sind ineinander ver­schlungen.

1. Die theologischen Faktoren:

Die Kirchen der Christenheit hatten weitgehend das Verantwor­tungsgefühl für die heidnische Welt verloren. Aus Zweckmäßigkeits­gründen nahm man an, daß die Welt bereits christianisiert sei und verlor immer mehr das missionarische Bewußtsein. Als Gott die Kir­chen wieder an ihren großen Auftrag erinnerte, alle Völker zu Jün­gern zu machen, waren es zuerst nur ganz wenige, die den Ruf ver­nahmen. Sie hatten die große Mehrheit der Kirchenleute gegen sich und mußten sich deshalb als Missionsgesellschaften konstituieren, um die Arbeit zu tun, die eigentlich den Kirchen aufgetragen war. So entstand die „Äußere Mission“ als eine eigenständige und beson­dere Tätigkeit außerhalb des normalen kirchlichen Lebens. In vielen Ländern wurde die offizielle Trennung rasch überwunden, und die Kirchen übernahmen selber die Verantwortung für die äußere Mis­sion. In anderen Fällen verblieben die Missionsgesellschaften ge­trennt und sind es noch bis zum heutigen Tag. Doch selbst da, wo die Kirche offiziell ihre Verantwortung auf sich nahm, blieb die äußere Mission im allgemeinen doch gesondert von der normalen Kirchlichkeit, wie sie der Durchschnittschrist verstand.

2. Die kulturellen Faktoren:

Auf der anderen Seite des Prozesses, den sogenannten Missions­feldern, wirkte sich diese Zweiteilung sehr ernst aus, weil die kultu­rellen Faktoren die theologischen verstärkten. Die Missionare er­freuten sich im allgemeinen eines sehr viel höheren Lebensstandards als diejenigen, denen sie das Evangelium brachten. Im Zuge der ko­lonialen Entwicklung lebten sie weiter nach europäischem Stil. Da­durch sonderten sie sich notwendigerweise von der Umwelt ihrer Neubekehrten ab. Um der Jungen Kirche eine eigene Entwicklung zu gestatten, ohne die Gefahr eines Übergewichts seitens der wohl­habenden Missionsorganisation, wurde die Junge Kirche als eine be­sondere Körperschaft konstituiert, während die Mission weiter für sich blieb, eng verbunden mit der aussendenden Kirche im Westen. So gab es zwei Körperschaften nebeneinander — die eine im allge­meinen schwach, arm und abhängig — die andere stark und beherr­schend. Diese Zweiteilung wurde oft theologisch gerechtfertigt durch die Behauptung, die Mission sei eine besondere Aufgabe und erfor­dere ein besonderes Organ für die Durchführung ihrer Aufgabe. Die Mission behielt sich im allgemeinen die Verantwortung für große Institutionen wie Schule, höhere Ausbildungsstätten (Colleges) und Krankenhäuser vor, während die Junge Kirche für das normale Leben der Gemeinde verantwortlich war.

Diese Zweiteilung erwies sich immer mehr als untragbar: In erster Linie verletzte sie die Gefühle derer, die zu den Jungen Kirchen gehörten. Das neu erwachte Selbstvertrauen der Kulturen Asiens und Afrikas und die rasche Zunahme politischer Unabhängigkeit in den ehemaligen Kolonialgebieten fanden ihre natürliche Entsprechung in den Beziehungen zwischen Jungen Kir­chen und Missionen. Es erschien anstößig, daß die Junge Kirche stän­dig von der Missionsgesellschaft getrennt und ihr unterlegen, und daß die Leitung der großen Institutionen dauernd in fremden Hän­den bleiben sollte.

Vor allem aber wurde die ganze Struktur aus theologischen Grün­den fragwürdig. Immer deutlicher zeigte es sich, daß Mission und Kirche nicht getrennt werden können, ohne daß beide Schaden neh­men; denn einerseits gehört die missionarische Tätigkeit zum Wesen der Kirche und andererseits darf Mission nicht geschehen ohne die Einladung an alle Menschen, in die volle Gemeinschaft der Kirche einzutreten. Es wurde neu erkannt, daß dem Neuen Testament eine derartige Zweiteilung fremd ist. Auch in der Praxis zeigten sich die schädlichen Auswirkungen der Trennung: Wenn die Kirche nicht mit der Missionsverpflichtung betraut ist, wird sie eine sich selbst be­trachtende und in sich gekehrte Gemeinschaft mit allen geistlichen Krankheitserscheinungen, die daraus folgen. Und wenn die missio­narische Arbeit nicht der Kirche entspringt und in sie hineinführt, wird sie in alle möglichen Unternehmungen verstrickt, die letztlich unfruchtbar sind.

Das Ringen um diese Probleme spiegelt sich wider in den Ergeb­nissen der Weltmissionskonferenzen. Die daraus folgende Entwick­lung ist verschiedene Wege gegangen. Es gibt jetzt einige Kirchen, die vollverantwortlich sind für alle Arbeit, die früher durch die Missionsgesellschaften geschah, und die in allen wesentlichen Dingen autonom sind. Als anderes Extrem gibt es auch noch Missionen, die keinen ernsthaften Versuch in dieser Richtung unternommen haben. Sie sind auf der Stufe stehengeblieben, auf der es keine wirkliche Kirche gibt, sondern nur Gruppen von Bekehrten — abhängig von einem fremden Missionar. Solche Missionen befinden sich noch im Kolonialstadium. Es gibt einen großen (freilich abnehmenden) Teil der Welt, wo Mission noch nach diesem Muster betrieben wird. Dort können Missionare aus Europa und Amerika hingehen, um viele Menschen nach ihren eigenen Maßstäben und Vorstellungen zu lei­ten. Ich möchte nicht in den allgemeinen Chor der Verdammung des Kolonialismus einstimmen. Die Kolonialmächte haben für Asien und Afrika während ihrer Herrschaft Großes geleistet, und die Missionen haben sich während der sogenannten kolonialen Epoche große Ver­dienste erworben. Doch es kann gewiß nicht geleugnet werden, daß diese Epoche zu Ende geht. Es ist eine Versuchung, auf diese Weise solange wie möglich in Gebieten weiter zu arbeiten, die politisch und kulturell zu schwach sind, eine Änderung herbeizuführen. Das mag auf kurze Sicht eine gute Taktik sein, aber es ist auf die Dauer eine schlechte Strategie. Wir können das Evangelium auf diese Weise der Welt kaum empfehlen.

Dazu kommt noch eine theologische Frage, die viel wichtiger ist als kulturelle und politische Fragen. Wenn wir missionarische Arbeit tun, sozusagen über den Kopf der örtlichen Gemeinde hinweg, wenn wir also handeln, als ob die örtliche Gemeinde um praktischer Ziel­setzungen willen übergangen werden könnte, dann tun wir ein schweres Unrecht. Das Ergebnis ist die Schwächung — und vielleicht Zerstörung — des christlichen Zeugnisses. „Wo zwei oder drei ver­sammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Dieses Wort unseres Herrn darf nicht außer acht gelassen werden. Wenn wir die Jungen Kirchen behandeln, als ob man sie übergehen könnte, und fortfahren, missionarische Arbeit ohne ihre Mitverant­wortung zu tun, dann nehmen wir Christus die Ehre und werden eines Tages die Früchte unseres Irrtums ernten. Wir dürfen nicht vergessen, was wir in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten gelernt haben. Die Existenz der Jungen Kirchen muß bei unserem Nach­denken über die weltmissionarische Aufgabe weiterhin einen wich­tigen Platz einnehmen.

Lassen wir einen Augenblick die Missionsgesellschaften außer acht, die unentwegt versuchen, die alte koloniale Struktur beizubehalten, so müssen wir uns eingestehen, daß wir noch nicht den Weg gefun­den haben, den Schwierigkeiten der kolonialen Si­tuation zu entgehen, obgleich ein großer Fortschritt in Richtung eines Ernstnehmens der Jungen Kirchen erzielt worden ist. Selbst diejenigen Jungen Kirchen, die — papiermäßig — völlige Unab­hängigkeit haben, wissen noch nicht, wie sie ein echtes Selbstbewußt­sein entwickeln sollen. Jede dieser Kirchen bleibt ganz eindeutig an ihre Eltern gebunden. Jede befindet sich in der Lage eines Kindes, das noch von der Unterstützung des Elternhauses abhängig ist. In dieser Situation kann sich kaum eine wirkliche geistliche Unabhän­gigkeit entwickeln. Aus diesem Grunde haben einige Missionare in China tatsächlich politische Ereignisse begrüßt, die gewaltsam die Verbindung der chinesischen Kirchen mit den Kirchen im Westen zerschnitten haben. Einige hatten das Gefühl, daß Gott in diesen Er­eignissen das getan hat, was Menschen als notwendig erkannten, aber nicht ausführen konnten. Es war, wie wenn die Nabelschnur, die das Kind mit der Mutter verbindet, über die Zeit hinaus erhal­ten geblieben und das Kind nur durch einen Gewaltakt zum eigenen Leben gebracht wäre.

Zur Beurteilung der Lage muß ferner die Tatsache beachtet wer­den, daß die Jungen Kirchen Asiens und Afrikas größtenteils noch außerordentlich schwach und klein sind im Verhältnis zu den großen evangelistischen Aufgaben, denen sie gegenüberstehen. Sie haben nicht die Kraft, ein Missionsprogramm durchzuführen, das auch nur annähernd den gegebenen Chancen entspricht. Dennoch zögert man verständlicherweise, von den älteren Kirchen eine ent­sprechend größere Hilfe zu erbitten, gerade weil es so notwendig ist, daß die jüngeren Kirchen finanziell unabhängiger werden. Tatsäch­lich werden die Missionsgaben der älteren Kirchen weitgehend für die Unterstützung der jüngeren Kirchen aufgebraucht, und es gibt, aufs Ganze gesehen, wenig Anzeichen für einen neuen missionari­schen Vorstoß. So wird heute der größte Teil der Missionsfonds für zwischenkirchliche Hilfe in Anspruch genommen.

Natürlich können wir uns mit dieser Lage nicht abfinden. Wir können ihr auch nicht entgehen durch eine Rückkehr zu dem Modell des 19. Jahrhunderts und versuchen, missionarische Arbeit im Ge­biet der jüngeren Kirchen fortzusetzen, als ob diese Kirchen nicht existieren. Es ist zu einer dringenden Notwendigkeit geworden, daß wir eine missionarische Arbeitsweise entwickeln, die deutlich zum Ausdruck bringt, daß die Mission eine Mission der ganzen Kirche für die ganze Welt ist. Wir müssen also Mittel und Wege finden, wie die stärkeren Kirchen den schwäche­ren helfen können, ohne dabei deren geistliche Freiheit zu zerstören. Die Hilfsquellen der ganzen Kirche müssen dort angesetzt werden, wo sie am nötigsten gebraucht werden. Das gilt für Gebiete, in denen das Evangelium niemals wirkungsvoll gepredigt worden ist. Dabei dürfen die Jungen Kirchen nicht übergangen und es darf nicht zu­gelassen werden, daß christliche Mission mit kulturellem Imperia­lismus verwechselt wird. Dies ist dringend nötig, wenn die augen­blickliche Hemmung und Fruchtlosigkeit in der missionarischen Be­wegung selbst überwunden werden soll. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß dies nur durch eine radikale Veränderung in der Struktur unserer missionarischen Arbeitsweise geschehen kann. Ich glaube, daß wir hier etwas lernen müssen von weltlichen Organisationen weltweiter Hilfe. Ich denke an die Arbeit verschie­dener technischer Organisationen der UN, in denen Vertreter der großen und kleinen Nationen gleichberechtigt zusammensitzen, um ihre gegenseitigen Hilfsprogramme auszuarbeiten. Ich halte es nicht für unmöglich, Entsprechendes für die Planung und Durchführung der christlichen Weltmission zu schaffen, und ich glaube, daß wir nur so den Nöten des 20. Jahrhunderts abhelfen können. Ich möchte aber gleich hinzufügen, daß diese Entwicklung durch eine sehr kräf­tige Betonung des Regionalprinzips ergänzt werden müßte, wenn wir nicht in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten wollen. Wir dürfen keine hochzentralisierte Weltbürokratie entwickeln. Es gibt bereits Anzeichen für solche regionale Entwicklungen, wie sie mir vorschweben. Die kürzlich gebildete christliche Ostasien-Konferenz soll Mittel und Wege finden, die verfügbaren christlichen Hilfsquel­len in diesem ganzen Gebiet gemeinsam mit den Hilfsquellen, die von den Kirchen Amerikas und anderen westlichen Ländern be­schafft werden können, möglichst wirkungsvoll einzusetzen. Es ist möglich, daß sich etwas Ähnliches aus der letzten christlichen Afrika­konferenz ergibt. Entsprechende Entwicklungen könnte man von anderen größeren Gebieten erwarten. Ich glaube, daß die stärkeren Kirchen den schwächeren auf diese Weise helfen könnten. So leistet jede Kirche ihren Eigenbeitrag für die Gesamtaufgabe, und es wer­den die psychologischen Gefahren vermieden, die immer aus dem einseitigen Geben und Nehmen erwachsen.

Wenn man solche Vorschläge macht, wird man sofort mit gewich­tigen Einwendungen seitens der konfessionellen und kirchlichen In­teressen rechnen müssen. Ein derart kräftiges Regionalprinzip und solche Pläne für enge und fortdauernde Zusammenarbeit im missio­narischen Dienst wird von vielen empfunden als eine Gefährdung des besonderen Zeugnisses der verschiedenen christlichen Konfessio­nen. Die weltweiten konfessionellen Zusammenschlüsse haben sich in den letzten Jahren immer straffer organisiert und können jede Tendenz zu regionaler Einheit hemmen.

Das führt uns zu der Frage, die für unsere Zeit zentral und unaus­weichlich ist: Welche Gestalt von Einheit will Gott für seine Kirche? Ich nehme an, daß fast alle Christen in irgendeiner Weise darin übereinstimmen, daß wir nach Gottes Wil­len geeint sein sollen. Doch in der Frage: Welche Einheit will Er? unterscheiden wir uns. Ich habe zu zeigen versucht, wie die Ereig­nisse unserer Zeit uns zur Einheit zwingen. Dieser Druck ist Gottes Druck auf uns. Die Tatsachen unserer Zeit sind Gottes Tatsachen. Sie erinnern uns daran, daß die Frage nach der christlichen Einheit keine akademische Angelegenheit ist, für die wir unsere eigenen Studienpläne aufstellen können. Es geht um eine Frage auf Leben und Tod, bei der Gott uns nicht erlaubt, neutral zu bleiben. Wenn wir nicht die richtige Antwort geben, dann werden uns falsche Ant­worten aufgezwungen. Damit meine ich, daß uns eine unkirchliche Einheit aufgezwungen wird, wenn wir keine wirklich kirchliche Form der Einheit finden. Wenn wir in den zentralen Fragen nach dem Glauben, den Sakramenten, den Diensten (ministry) und dem Leben der Gemeinde keine wahre Einheit finden, werden uns die Zeitereignisse eine Vereinheitlichung auf dem Gebiet der Gestaltung aufzwingen, die nichts mehr mit wahrer kirchlicher Einheit zu tun hat. Mit dieser Gefahr haben wir es heute zu tun. Doch ehe wir diese Behauptung näher begründen, müssen wir von der geschichtlichen Betrachtung des Problems zu den theologischen Fragen übergehen, die für Mission und Einheit der Kirche heute gestellt sind.

III.

A

Dem Zentralausschuß des Weltrates der Kirchen wurde eine Erklärung über Mission und Einheit bei seiner Zusammenkunft in Rolle im Jahre 1951 vorgelegt. Diese Erklärung ist christologisch ab­gefaßt. Sie begründet Einheit und Mission der Kirche in dem Werk Christi unter Hinweis auf Jesu Worte: „Wie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch.“ Dadurch empfängt die Kirche ihr Sein und ihre Sendung. Sendung und Sein der Kirche sind untrennbar. Das Sein der Kirche ist notwendig ein Sein mit Christus. Es ist unver­einbar mit einer Spaltung. Dies wird sehr klar in den Worten des Gebetes, das unser Herr in der Nacht vor seinem Leiden gesprochen hat: „Gleich wie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt …, daß auch sie in uns eins seien, auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt.“ Die Einheit der Jünger in Christus wird für die Welt zum Zeichen für die göttliche Sendung Christi und Seiner Kirche.

Die Erklärung von Rolle erläutert die christologische Basis der christlichen Einheit unter drei Gesichtspunk­ten:

Erstens: Was Christus für alle an seinem Kreuz getan hat. Er starb: einer für alle und einmal für alle, um die Versöhnung zwischen Gott und Menschen zu bewirken. Durch Ihn mit Gott versöhnt sein, bedeutet, daß wir untereinander versöhnt sind und einander vergeben, wie er uns vergeben hat. Es bedeutet ferner, daß wir als seine Botschafter vorwärts schreiten und die Menschen bitten, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Dies sind zwei Seiten eines zwangsläufigen Prozesses. Wenn wir nicht bereit sind, uns miteinander zu versöhnen, wenn wir nicht bereit sind, einander zu vergeben, wenn wir nicht bereit sind, als Brüder in einer Familie zusammenzuleben, dann trennen wir uns selber von Seinem Erbar­men und machen uns selber unfähig, Kanäle Seines Erbarmens für die Welt zu werden. Wir mögen kräftige Propagandisten sein, wir mögen Erfolg haben und viele gewinnen, aber wir werden damit nicht zum Werkzeug Christi, durch das Er anderen Seine göttliche Liebe mitteilt. Wenn Menschen die wahre Frucht der Versöhnung Christi im Leben einer Gemeinschaft sehen, in der die Sünde wahr­haftig vergeben ist, und wenn gegenseitiges Mißtrauen durch die göttliche Liebe und Vergebung überwunden ist, dann erfahren sie das Wort des Evangeliums als überzeugende Kraft.

Zweitens nimmt die Erklärung Bezug auf das ständige Werk des auferstandenen und durch Seinen Geist heute regierenden Herrn. Nur sofern wir in Ihm bleiben, bringen wir Frucht. In Ihm bleiben bedeutet, Glied sein an Seinem Leibe und Glied sein mit denen, die mit uns in Ihm sind. Das wahre Zeug­nis von Ihm ist kein anderes als der Geist, den der Vater sendet; und der Geist ist der, der uns zusammenfügt in einem Leib. Er ist zugleich Geist des Zeugnisses und Geist der Ordnung und der Ein­heit.

Drittens wird von unserer Hoffnung gesprochen: Christi Wiederkunft als Richter und König. Wenn Er kommt, wird Er alle Dinge vollenden. Alle Dinge werden ihren Zusammen­hang finden in Ihm. Er wird seine Schafe sammeln und es wird eine Herde und ein Hirte sein. Im Blick auf dieses Ziel und angesichts der bedrohlichen Nähe sind wir aufgefordert, vorwärts zu schreiten, so­lange es Zeit ist, und die Menschen allenthalben zur Umkehr zu rufen. Alle Menschen müssen eins werden, wenn Er kommt. Die Herolde, die mit dieser Botschaft ausziehen, werden die Botschaft Lügen strafen, wenn sie selber nicht eins sind. Wenn die Trompete einen ungewissen Laut gibt, wer wird sich zur Schlacht rüsten? Wenn der Ruf „Der Herr ist nahe“ in widerstreitenden und verwor­renen Stimmen erschallt, wer wird ihm glauben?

Wir können nicht Christi „Agenten“ sein und Menschen zu Ihm ziehen, wenn wir nicht selber nahe bei Ihm stehen. Wir können nicht nahe bei Ihm stehen, ohne näher zueinander zu rücken.

Ich bin indessen zu der Überzeugung gekommen, daß es wichtig ist, die Grundlage unserer Argumentation zu verbreitern und die Frage nicht nur christologisch, sondern auch trinitarisch zu er­örtern. Bei unserem Nachdenken über die Sendung der Kirche müs­sen wir in der menschlichen Geschichte stärker in Rechnung stellen Gottes Vorsehung und Handeln und das Werk des Heiligen Geistes betonen, der selber der wahre „Agent“ der Mission ist.

B

Erstens: Müssen wir nicht Gottes Vorsehung und Han­deln in der Weltgeschichte viel stärker beachten? Be­steht nicht die Gefahr, daß wir der Kirche zu viel und der Welt zu wenig Aufmerksamkeit schenken, daß wir die Heilsgeschichte zu viel und die Weltgeschichte zu wenig beachten? Recht verstanden ist die Kirchengeschichte im missionarischen Sinne der Schlüssel zur Welt­geschichte. Die Kirchengeschichte wird nicht richtig verstanden, wenn sie von der Weltgeschichte abgetrennt wird. Ich brauche nicht daran zu erinnern, daß die Weltgeschichte nach dem Neuen Testament nicht nur im Hintergrund des Heilsgeschehens steht, sondern aufs engste mit ihm verbunden ist. Es besteht eine paradoxe Beziehung zwischen dem Evangelium und der Welt. Die Kirche wird aus der Welt her­ausgerufen, um wieder in die Welt gesandt zu werden. Die Kirche wird ausgesondert, um mit der Welt identifiziert zu werden. Sie darf sich nicht von der Welt absondern, sie gehört vielmehr ganz in die Welt hinein.

Zweitens: Die Kirche richtet zwar die Welt, doch die Welt richtet auch die Kirche wegen ihres Abfalls. Die Welt, die Gott nicht kennt, kennt doch Gott in gewissem Sinne besser als die Kirche, die Ihn bekennt. Die Leute von Ninive werden auftreten im Jüngsten Gericht und werden dies Geschlecht verurteilen. Die Köni­gin vom Süden wird auftreten im Jüngsten Gericht mit diesem Ge­schlecht und wird es verurteilen. Und was sollen wir von den Wor­ten des Paulus, Römer 10, 19 ff., halten? Schon Mose sagt: „Ich will euch zur Eifersucht reizen gegen ein Volk, das kein Volk ist, gegen ein unverständiges Volk will ich euch zum Zorn reizen.“ Jesaja aber erkühnt sich und sagt: „Ich bin von denen gefunden worden, die mich nicht suchten, ich bin denen offenbar geworden, die nicht nach mir fragten.“ In bezug auf Israel dagegen sagt er: „Den ganzen Tag habe ich in Liebe meine Hände ausgebreitet gegen ein ungehorsames und widerspenstiges Volk“ (5. Mose 32, 21; Jes. 65, 1. 2).

Drittens: Christus ist der letzte Richter der Welt, und alle Men­schen werden auf Grund ihres Verhältnisses zu Ihm gerichtet. Und doch ist Er so verborgen in der Welt, daß selbst Gottes Volk Ihn nicht erkennt: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dich gespeist?“ (Matth 25, 37). Gott, der die Welt so geliebt hat, daß Er Seinen Sohn sandte, richtet doch gleichzeitig durch Seinen Sohn die Welt.

Es würde zu weit führen, dieser dialektischen Beziehung zwischen dem Evangelium und der Welt im einzelnen nachzugehen. Wir wollen jedoch festhalten, daß die Weltgeschichte nach der Schrift nicht bloß Hintergrund für die Heilsgeschichte, sondern eng mit ihr verbunden ist. Gottes ganzes Handeln in der Weltgeschichte ist aus­gerichtet auf die Offenbarung Seiner Herrlichkeit.

Wenn wir die heutigen Weltereignisse unter An­leitung des Neuen Testaments betrachten, dann wird uns deutlich, daß wir Zeugen eines Prozesses sind, in dem die Menschheit immer mehr hinein­gezogen wird in eine einzige Geschichte mit dem Kreuz als Mitte und dem Jüngsten Gericht und der Gnade Christi als Ziel.

Diese Behauptung läßt sich folgendermaßen rechtfertigen: Immer mehr Nationen der Welt sind heute gezwungen, die Zeitrechnung „vor und nach Christi Geburt“ zu übernehmen. Das alte Indien zählte die Zeit in Zyklen von sechzig Jahren, die immer wiederkehr­ten. Doch jetzt haben wir dort einen Fünfjahresplan und dann einen zweiten Fünfjahresplan, und es wird danach einen dritten Fünfjah­resplan geben. Es ist unwahrscheinlich, daß Indien sich am Ende von zwölf Fünfjahresplänen wieder in derselben Lage befinden wird wie zu Beginn dieser Planungen! Wir werden uns vielmehr in dieser Zeitspanne vorwärts bewegt haben. Wir haben uns aus dem zykli- sehen Lebensrhythmus in ein lineares Zeitbewußtsein begeben; und es ist unmöglich, diese Bewegung rückgängig zu machen. Nicht nur die Intellektuellen, sondern auch das kleinste Dorf und jeder Dorf­stamm im abgelegensten Dschungel wird von der Entwicklung be­troffen. So hat sich das menschliche Lebensgefühl grundlegend und unwiederbringlich verändert.

Was ist das Wesen dieser linear ausgerichteten Geschichte, zu der die Völker der Welt zusammenwachsen? Durch welche Koordinaten wird diese Geschichte bestimmt? Die Antwort kann nur lauten: sie wird von Vorstellungen bestimmt, die ursprünglich aus dem Evan­gelium stammen. Die Weltgeschichte wird heute nicht mehr wie im 19. Jahrhundert beherrscht von westlicher Machtpolitik. Aber alle Nationen der Welt sind in eine einzige Geschichte hineingezogen. Diese Entwicklung konnte sich nicht innerhalb der alten nichtchrist­lichen, heidnischen Kulturen vollziehen. Lediglich unter der Voraus­setzung des linearen christlichen Zeitbewußtseins kam es und konnte es zu dieser Entwicklung kommen. Die großen Schicksalsfragen, mit denen die jungen Völker Asiens heute zu ringen haben, werden in diesem Prozeß deutlich.

Die erste und wichtigste Frage ist das Bevölkerungspro­blem. Woher kommt der ungeheure Bevölkerungszuwachs? Der enorme Rückgang der Sterblichkeit ergibt sich aus den neuen Er­kenntnissen auf dem Gebiet der Medizin, der Verkehrsverbindungen und der Wirtschaftsordnung. Diese Ergebnisse der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung gehen zurück auf eine Achtung allen Lebens (auch des Lebens der anscheinend nutzlosen alten Leute). Diese Wertschätzung des Individuums kommt aus dem christlichen Evangelium. Diese Entwicklung wäre auf dem Boden der alten heid­nischen Kulturen unmöglich gewesen.

Zweitens: Die Frage des Wohlfahrtsstaates. Wie kommt es, daß die neuen Nationen Asiens nach ihrer Befreiung vom Kolonialismus nicht zu der Regierungsform zurückkehren konnten, die sie in den Tagen eines Tipu Sultan und Hyder Ali hatten? Selbst der gewöhnliche Dorfbewohner nimmt es als selbstverständlich hin, daß es jetzt zur Aufgabe der Regierung gehört, für jedes menschliche Wesen gewisse Grundrechte zu garantieren. Woher ist diese Ein­stellung gekommen? Sie kommt aus den Wertmaßstäben, die inner­halb der alten Christenheit des Westens erwachsen sind.

Drittens: Auf derselben Linie liegt die enorme Nachfrage nach raschem technischem Fortschritt in allen jun­gen Nationen Asiens und Afrikas: „Wieviel können wir schnell krie­gen?“ Diese ungeheure Entwicklung beruht auf einer Lebensan­schauung, die auf dem Boden der westlichen Christenheit gewachsen ist. Ich weiß, daß gewisse Schriftsteller behaupten, es gäbe jetzt in diesen Nationen eine völlig selbständige technische Kultur, die sich unabhängig von ihrem Nährboden am Leben erhalten kann. Ich glaube nicht, daß dies stimmt. Die Übernahme moderner technischer und wissenschaftlicher Erkenntnisse bedingt eine Lebensweise, die letztlich unvereinbar ist mit den alten Weltanschauungen der nicht­christlichen Kulturen Asiens.

Viertens: Das Problem des Kommunismus. Der Kom­munismus ist ein System des Denkens und Lebens, das sich nicht in­nerhalb der alten heidnischen Kulturen hätte entwickeln können. Es trägt an sich alle Kennzeichen seines Ursprungs innerhalb der Chri­stenheit. Der Kommunismus ist ausgerichtet auf Hoffnungen für die Menschheit, welche nur durch das Evangelium erweckt worden sind und erweckt werden konnten.

So werden, wo immer man hinblickt, die alten Nationen jetzt in eine einzige Geschichte hineingezogen, die beherrscht ist von Grund­fragen, die aus dem Evangelium stammen, wie groß auch immer der Abstand sei. Man kann nur mit großer Spannung beobachten, wie die Völker im Bereich alter Kulturen mit diesem neuen Problem ringen. Man kann nur fragen: Wird es ihnen möglich sein, diese Dinge in sich aufzunehmen, ohne daß die alten Strukturen zer­brechen?

Eines ist ganz gewiß: Sie können niemals zu der alten zyklischen Vorstellung zurückkehren. Es ist etwas Unumkehrbares geschehen. Sie sind in eine einzige Weltgeschichte hineingezogen worden, deren entscheidende Probleme innerhalb der Christenheit entstanden sind, Probleme hinsichtlich des Wesens und der Bestimmung des Men­schen, die für die Menschheit durch Gottes Selbstoffenbarung in Christus aufgeworfen sind.

Ich bin nicht der Meinung, daß ein Überblick über die Weltereig­nisse uns zu diesem Schluß führt, sondern ich meine, daß wir mit der Bibel in der Hand sehen müssen, daß Gott alle Nationen in eine Geschichte hineinzieht, in der es schließlich nur die eine Frage gibt: Christus oder Antichrist. Der neutestamentliche Begriff des Anti­christen ist sehr wichtig für das Verständnis unserer Zeit. Nach dem Neuen Testament bietet der Antichrist universales Heil an. Er tut Zeichen und Wunder, um selbst die Erwählten zu verführen. Er tarnt sich als Heiland. Er ist der falsche Christus. Nach der Bibel läuft die Weltgeschichte auf diese eine letzte Entscheidung hinaus: Christus oder Antichrist? Im Neuen Testament stellt unser Herr Männer und Frauen vor die letzte Entscheidung, Ihn als Herrn an­zunehmen oder als Betrüger zu verwerfen. So drängt Gott die ganze Welt unerbittlich zum letzten Gericht, bei dem Christus vor der gan­zen Welt steht, um als Herr angenommen oder als Betrüger verwor­fen zu werden.

Dieser Schlüssel, den uns die Bibel für die Ereignisse unserer Zeit in die Hand gibt, ist von sehr großer Bedeutung für Mission und Einheit der Kirche. Es gibt einen Gott und eine Menschheit, und Gott hat der Menschheit das eine Ziel gesetzt, Seine Familie zu werden. Er hat Seinen Sohn gegeben als Erstgeborenen unter vielen Brüdern und hat die Kirche dazu bestimmt, die Erstlingsfrucht und das Werkzeug Seines Zieles mit der ganzen Menschheit zu sein. Die Kirche muß mitten in der Menschheit stehen als Zeichen der Herrschaft Christi und als Überbringer Seiner Einladung. Sofern die Kirche gespalten ist, fehlt das Zeichen, und die Glaubwürdigkeit der Einladung wird in Zweifel gezogen. Gott führt die Welt zu der letzten Entscheidung. Seine Hand führt die Völker unerbittlich zu dem Ort, an dem die letzte Frage: Christus oder Antichrist? beant­wortet werden muß. Dessen muß sich die Kirche bewußt sein. Sonst wird sie schuldig befunden, sich durch ihre Spaltung gegen das Licht zu versündigen und die entscheidende Frage, die Gott klar stellt, zu verdunkeln.

Hier möchte ich gegen die Tendenz protestieren, aus der Frage nach der Einheit eine zeitlose Frage zu machen und sie in akademi­scher Weise an einem von uns bestimmten Zeitpunkt zu diskutieren. Das Evangelium hat es mit der Geschichte zu tun, mit der Geschichte dieser Welt. Es hat es zu tun mit dem wahren Ziel der Geschichte, das jetzt nähergekommen ist, als zu der Zeit, da wir gläubig wur­den. Es hat es zu tun mit einer wirklichen sichtbaren Gemeinschaft von Gläubigen, die aufgerufen sind, bereit zu sein, wenn der Herr kommt. Der Zeitpunkt ist von Gott festgesetzt und nicht von uns. Was in der Welt geschieht, ist theologisch nicht irrelevant für die Frage nach der christlichen Einheit. Die Kirche ist aufgerufen, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

C

Jetzt möchte ich die Frage aufwerfen, ob wir nicht diese Aus­sagen des Neuen Testaments über den Heiligen Geist als den wirk­lichen Missionar viel ernster nehmen müssen. Ich erinnere an Apo­stelgeschichte 1, 6-8 und an Joh. 15, 26 ff. und 16, 8 ff. Wenn wir die Apostelgeschichte und die Briefe betrachten, dann sehen wir, daß dort der Heilige Geist selbst als der wahre „Agent“ der Mission verstanden wird. Er ist es, der leitet und führt. Es wird selbstverständlich vorausgesetzt, daß Er in der Lage ist, in den neuen Gemeinden alle Gaben und Dienste zu schaffen, die für die Fülle des Lebens in Christus gebraucht werden. Wir sehen nirgends, daß Paulus eine besondere Missionsorganisation für nötig hält, wie es für die moderne westliche Missionsbewegung typisch ist. Wir finden in den Kirchen Galatiens nicht zwei getrennte Gebäude; das eine mit der Aufschrift: „Antiochia-Mission“ und das andere mit der Aufschrift: „Kirche.“ Es wird von Anfang an als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Junge Kirche selbst mit den Diensten (ministry) und den geistlichen Gaben für die Verbrei­tung des Evangeliums ausgerüstet ist. Als Paulus eine zehnjährige Arbeit in Klein-Asien beendet hatte, hinterließ er Gemeinden, die wohl ausgestattet waren mit Bischöfen und Dienern am Evangelium. Und er sagt: Ich habe in diesen Gebieten jetzt keine Arbeit mehr zu verrichten. Ich gehe nun nach Spanien. — Die moderne Missionsbe­wegung rechnet damit, daß 150 Jahre nötig sind, um eine Junge Kirche auf die entsprechende Entwicklungsstufe zu bringen. Wenn wir die Methoden des Paulus mit denen der modernen Missionsbe­wegung vergleichen, dann können wir uns dem Eindruck nicht ent­ziehen, daß hier eine Akzentverschiebung vorliegt. In unserer Arbeit wird der Eindruck erweckt, daß alles, was in einem Missionspro­gramm durchgeführt wird, in erster Linie von dem Missionar und von den Missionsgesellschaften abhängig ist. Der Missionar hält sich für verantwortlich, die Neubekehrten wie Kinder zu leiten; und er entscheidet, wann der geeignete Augenblick gekommen ist, sie in die Junge Kirche zu überführen. In der Apostelgeschichte findet sich nichts, was mit diesem Vorgehen vergleichbar wäre. Dort ist der Heilige Geist selber der „Missionsdirektor“.

Hier kann ich aus eigener Erfahrung sprechen. In meiner Diözese habe ich gesehen, was sich ereignen kann, wenn die missionarischen Methoden des Paulus angewendet werden. Ich habe einen Bezirk kennengelernt, in dem es vor zehn Jahren nur zwölf Gemeinden gab und wo inzwischen fünfzig Gemeinden entstanden sind, fast ganz ohne finanzielle Beihilfe oder fremde Hilfsquellen oder bezahlte Ar­beitskräfte. Ich habe erlebt, wie aus dem ganz einfachen Volk leben­dige Gemeinden und „Agenten“ des Heiligen Geistes werden, wenn man sie nur selbstverständlich von Anfang an mit voller Verantwor­tung betraut. Sie selbst trauen es Gott zu, daß Sein Heiliger Geist sie mit allem ausrüsten wird, was sie für ein christliches Leben brau­chen; und sie sind unmittelbar bereit, auszuziehen und die frohe Botschaft in den umliegenden Dörfern kundzutun.

Ein bedeutsames Kennzeichen unserer Zeit ist das Zunehmen der Pfingstbewegung. Trotz vieler Seiten, die wir an ihr verurteilen, müssen wir diese Bewegung als ein Gericht über die älteren Kirchen ansehen. Sollten wir nicht darin ein Gericht über uns sehen, weil wir versäumt haben, wahre Freiheit zu geben und die wahre Herrschaft des Heiligen Geistes im Leben der Kirche an­zuerkennen? Es kann sein, daß wir das Vorgehen der Pfingstbewe­gung verurteilen müssen, weil es uns zu gewaltsam und übertrieben erscheint, und weil diese Bewegung die Einheit der Kirche zerbricht. Nichtsdestoweniger müssen wir unsere Schuld eingestehen: wir haben mit unseren kirchlichen und missionarischen Institutionen die Wahrheit verdunkelt, daß der Heilige Geist selber der wahre Herr der Kirche und der wahre „Agent“ der Mission ist. Wir haben den Eindruck erweckt, daß wir menschliche Organisationen unter­halten, die ihre Aufgaben nach Prinzipien eines Kulturprogramms bewältigen.

Wenn der Heilige Geist selber der wahre „Agent“ der Mission ist, und wenn er souverän und frei ist, müssen wir bereit sein, Seine Gegenwart und Sein Wirken anzuerkennen und unsere Struk­turen und Organisationen Seinem Wirken anzu­passen. Dies bedeutet, daß wir uns umschauen müssen nach einer Einheit, die freier und biegsamer ist als unsere herkömmlichen Le­bensordnungen. Wenn christliche Einheit bedeutet, daß alle Christen unter derselben rigorosen Organisationsform zusammengebracht werden sollen, wie wir sie in vielen unserer Denominationen haben, dann müssen wir mit denen sympathisieren, die dagegen opponie­ren. Wir möchten keine monolithischen Mammut-Organisationen schaffen. Wenn wir indessen die gehorsamen Mit-Zeugen des Heili­gen Geistes sind, werden wir nach einer erkennbaren Einheit suchen, in der wir uns wirklich als ein Leib betätigen können, der mit allen seinen Gliedern der Bewegung des einen Geistes gehorcht.

IV.

Die zentrale Frage lautet nicht: Brauchen wir Einheit? Sie heißt vielmehr: Welche Gestalt der Einheit will Gott für uns? Ich halte die gegenwärtige Lage für sehr kritisch. Die be­drängenden Weltereignisse treiben uns zur Einheit. Das kommt zum Ausdruck in den vielen Organisationen für zwischenkirchliche Zusammenarbeit, die im Weltrat der Kirchen gipfeln. Für diese Ent­wicklung müssen wir Gott danken, aber gleichzeitig erkennen, daß sie nur eine mangelhafte Verwirklichung der Einheit darstellt. Sie hat ihr Zentrum nicht in der Gemeinde, sondern in der Konferenz. Der Weltrat der Kirchen hat geäußert, daß er sich in der Frage der Verwirklichung christlicher Einheit bewußt neutral verhält. Wir müssen jedoch erkennen, daß diese beabsichtigte Neutralität keine tatsächliche Neutralität sein kann, weil der Weltrat selber eine Form von Einheit darstellt. Außerdem wäre es eine falsche Form, wenn sie mehr sein wollte als ein Mittel zum Zweck. Wir müssen noch einmal daran erinnern, daß es sich hierbei nicht um eine akade­mische Frage handelt. Wir haben nicht die Freiheit, solange wir wollen, vor verschiedenen Möglichkeiten zu stehen, bis wir uns zu einer entschließen. Wenn es uns nicht gelingt, die richtige Form kirchlicher Einheit zu finden, dann wird uns unter dem Druck der Ereignisse die falsche Form aufgedrängt, die unkirchliche Form der Einheit, von der ich gesprochen habe, jene Einheit, deren Zentrum nicht der Pastor, sondern der Sekretär ist, nicht das liturgische und sakramentale Leben der Gemeinde, sondern die bürokratische Orga­nisation eines christlichen Programms.

A

Die Einheit, die wir suchen, muß folgende Ele­mente in sich bergen:

  1. Ein örtliches Gemeindeleben mit dem vollen Engagement der Glieder untereinander, an dem die Menschen die Wirklichkeit der einen Familie erkennen können;
  2. ein Leben, das seinen Mittelpunkt in Wort und Sakrament hat;
  3. durch voll anerkannte Dienste (ministry) deutlich verbunden der universalen Kirche in Gegenwart und Vergangenheit.

Wir können uns nur mit einer Gestalt von Einheit zufrieden geben, die uns an jedem Ort eine Gemeinde schenkt, die sich als eine universale Familie Gottes in der ganzen Welt erweist.

B

Wenn diese Elemente wahrer Einheit anerkannt werden, ergeben sich daraus folgende Formprinzipien:

1. Über den Grad der Selbständigkeit für jede einzelne Gemeinde läßt sich reden. Einige Denominationen üben eine straffe zentralistische Leitung aus, die sich bestimmt nicht für eine univer­sale Kirchenordnung eignet. In Süd-Indien haben wir erfahren, daß die Einführung der Union einen größeren Grad von Unabhängig­keit in den regionalen Bezirken zuließ. Ich glaube, daß die wahre Wiedervereinigung der Christenheit keine straffere Leitung be­deuten, sondern eine weniger zentralistische Leitung ermöglichen würde.

2. Es gilt, die tiefen Abweichungen in den traditionellen Formen gemeindlichen Lebens zu beachten. Wir müssen überlegen, wie weit die geographische Einheit der Parochie heute noch Bedeutung hat im Leben der modernen Großstadt. Wir müssen fragen, ob wir nichtgeographische Gemeindetypen entwickeln kön­nen, die von der beruflichen Tätigkeit her bestimmt werden und nicht zu Absonderungen (se-gregations), sondern zu wahrer Ge­meindebildung (con-gregations) führen. Wir müssen auch fragen, wie weit der neutestamentliche Begriff der Hausgemeinde für ein echtes Gemeindeleben in der heutigen Welt erforderlich ist.

3. Bei jeder Bemühung um Einheit stehen wir unausweichlich vor der Frage des Episkopats. Der historische Episkopat gehört zweifellos zu jeder völligen Wiedervereinigung der Christenheit. Wir können freilich den Episkopat nicht als den Nagel ansehen, an dem das ganze Leben der Kirche hängt. Das wäre eine Entstellung der Wahrheit. Aber der historische Episkopat mit seinem Zeugnis für die Einheit der Kirche durch die Jahrhunderte darf nicht über­gangen werden. Allerdings müßte der Episkopat viel stärker in sei­ner pastoralen und liturgischen als in seiner administrativen Funk­tion erfaßt werden.

4. Der weltweite Missionsauftrag der Kirche heute zwingt uns, stärkere Organe für eine Zusammenarbeit auf regiona­ler Ebene zu schaffen. Wie die missionarische Bewegung im 19. Jahrhundert vom Kolonialismus Gebrauch machte, so sollte sich die Mission des 20. Jahrhunderts das zunehmende regionale Selbst­bewußtsein verschiedener Gebiete der Welt zunutze machen. Die regionale Zusammenarbeit wird gewiß der Einheit dienlich sein; und hier sind die Jungen Kirchen eifrig am Werk. Die älteren Kir­chen üben durch ihre konfessionelle Weltorganisation in dieser Sache einen hemmenden Einfluß auf die jüngeren Kirchen aus. Wenn die Frage der sichtbaren kirchlichen Wiedervereinigung weiterhin auf unbestimmte Zeit vertagt wird, werden wir eine falsche Gestalt von Einheit auf uns nehmen müssen. Wir sehen bereits Anzeichen dafür in der Tatsache, daß die Jungen Kirchen dazu neigen, das Schwergewicht von den geistlichen Diensten (ministry) auf die ver­schiedenen Sekretärsposten zu verschieben, die es in den modernen christlichen Hilfsorganisationen gibt. Es ist beispielsweise keine unbedeutende Tatsache, daß in manchen Teilen der Welt das Gehalt eines CVJM-Sek­retärs dreimal so hoch ist wie das Gehalt eines Bi­schofs. Hier wird die gefährliche Tendenz sichtbar, wie sich der Schwerpunkt verlagert und die christliche Gemeinschaft ihren kirch­lichen Charakter verliert.

C

Die Wiedervereinigung heute. Es besteht ein offen­kundiger Konflikt zwischen konfessionellen Loyalitäten auf der einen Seite und dem dringenden Ruf nach örtlicher Einheit wegen des Christus-Zeugnisses in einer heidnischen Welt auf der anderen Seite. Zur Lösung dieses Konflikts wird oft vorgeschlagen, alle un­sere Lehrunterschiede zu überwinden, ehe wir uns vereinigen, weil wir uns sonst einer Indifferenz gegenüber der Wahrheit schuldig machten. Ich weiß, daß die Frage nach der Wahrheit zwischen den Konfessionen nicht leichtfertig behandelt werden darf. Sie muß in jedem Falle sehr ernst genommen werden. Ich weiß, daß es in den grundlegenden Dingen Übereinstimmung geben muß. Wenn man jedoch völlige lehrmäßige Übereinstimmung vor der Wiederver­einigung verlangt, dann fordert man etwas, was heute nicht einmal innerhalb einer Konfession existiert; denn es ist eine bekannte Tat­sache, daß heute tiefste lehrmäßige Unterschiede innerhalb der Kon­fession selbst und nicht zwischen den Konfessionen bestehen.

In der gegenwärtigen Situation sind folgende Tatsachen von zen­traler Bedeutung:

1. Wir müssen davon ausgehen, daß Gott in Jesus Christus für die ganze Menschheit etwas Neues und Entscheidendes getan hat. Daß Christus für alle Menschen gestorben ist, bringt sie in eine neue Beziehung zueinander und legt allen Men­schen, die davon wissen, die Verpflichtung auf, diese Tatsache der ganzen Welt bekanntzugeben. Auf dieser Grundlage ruht alles andere.

2. Die Bekenntnisse, die von Christen zu verschiedenen Zeiten im Laufe der Geschichte abgelegt wurden, sind nur Instru­mente für das Christus-Zeugnis. Sie haben instrumentale Bedeu­tung und dürfen niemals eine zentrale Stellung usurpieren.

3. Wir bekennen unseren Glauben an Christus nicht richtig, wenn wir Christen nur mit uns selbst beschäftigt sind, sondern nur dann, wenn wir uns nach außen wenden und der Welt als Zeugen gegen­überstehen. Ein wahres Bekenntnis zu Christus kann nur gegenüber der ungläubigen Welt abgelegt werden.

4. Wir sollten einmal darüber nachdenken, daß unser Herr selber keine Bekenntnisschrift verfaßt hat. Das einzige Mal, wo von sei­nem Schreiben berichtet wird, schrieb er in den Sand! Ich möchte die Meinung vertreten: Das heute fällige Bekenntnis gegenüber der Welt, in der wir leben, besteht nach meiner Meinung gerade in dem Bekenntnis, daß Christus mehr ist als alle unsere Bekenntnisse.

Angenommen, wir stimmen in den wesentlichen Punkten der Lehre überein, und angenommen, wir haben die Gewißheit, daß der Heilige Geist wirklich in der anderen Konfession gegenwärtig ist, so glaube ich: es kommt auf das Eine an, daß wir uns einander aus­liefern im Abenteuer der Wiedervereinigung unter der Führung des Heiligen Geistes. Damit verraten wir nicht unsere konfessionellen Positionen. Die Wiedervereinigung ist vielmehr in sich selbst ein Bekenntnisakt, das Bekenntnis, daß Jesus Christus der Herr ist, Herr auch unserer Bekenntnisse und größer als sie alle. Er ist groß genug, uns die Einheit zu geben, die Sein Wille ist, wenn wir nur Ihm vertrauen wollen. Ist es nicht tatsächlich heute unsere Aufgabe, über unsere Bekenntnisse hinaus miteinander die ganze Menschheit auf Jesus Christus selber hinzuweisen?

Quelle: Evangelische Theologie 19 (1959), 156-176.


[1] Vorträge des Bischofs der Kirche der südindischen Union, gehalten auf einer ökumenischen Arbeitstagung in Berlin vom 4.-7. Juli 1958, übersetzt von Pfarrer R. Weckerling, Berlin-Spandau.

Hier der Text als pdf.

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