Die Bibel und der moderne Mensch
Von Pfarrer Dr. Rudolf Bohren
Im Berneroberland gibt es eine Bar: links vom Eingang die üblichen Barstühle, der Bartisch und an der Wand die Batterien von Flaschen mit gelben, braunen, roten, grünen und violetten Säften. Daneben das Podium mit Flügel und Schlagzeug. — Rechts aber vom Eingang, etwas erhöht, eine Fensternische und darauf, schön in helles Leder gebunden, das Folioformat einer Bibel!
Ein Blick in jene Bar zeigt, wie sich Bibel und moderner Mensch zueinander verhalten: sie gehören zusammen. Mag der Pianist auf die Tasten hauen, das Saxophon heulen, das Schlagzeug schmettern und das billige oder teure Après-Ski der Tanzenden seine Glieder in wilden Rhythmen schlenkern und verrenken: die Bibel ist dabei — und bleibt stumm. Sie liegt in ihrer Nische. Mögen die farbigen Säfte durch die Kehlen rinnen, mögen die Gäste lachen, singen, gröhlen oder vor sich hinstarren, die Bibel schweigt. Aber sie gehören zusammen, die Bibel und der moderne Mensch, auch wenn der Mensch Lärm macht und Gottes Wort ohne Laut bleibt. So ist es nicht nur heute. So war es schon früher in den Tagen Samuels: «In jenen Tagen aber waren Offenbarungen des Herrn selten; Gesichte waren nicht häufig.» — Schon Jahrhunderte vorher steigt Mose vom Berg, sorgsam die Gesetzestafel tragend: «Die Tafeln waren Gottes Werk und die Schrift war Gottes Schrift.» Wie er aber zum Lager kommt, hört er den Lärm des Volkes, sieht das goldene Kalb und die Reigentänze. Da zerschmettert der Mann Mose im Zorn die Tafeln. — Dies ist der Augenblick des modernen Menschen. Für ihn liegt das Gotteswort zerschlagen am Boden: Scherben, die nicht reden, ein verschlossenes Buch in der Nische. So empfindet es der Existenzialist Jean Paul Sartre: «…er sprach zu uns und nun schweigt er… dieses Schweigen des Transzendenten verbunden mit der Fortdauer des religiösen Bedürfnisses beim modernen Menschen, das ist die grosse Angelegenheit heute wie gestern.» Der moderne Mensch, leidet unter dem Eindruck, dass seine Ohren verschlossen sind und er Gott nicht hören kann. Das ist die geistige Not unserer Zeit. Das peinigt uns, dass Gott schweigt. Wenn wir aber Gott hören wollen, muss uns die Bibel aufgehn. Wir müssen erkennen, was dieser alte Band im hellen Leder bedeutet.
Erstaunlicherweise genau das, was der sonst so sympathische moderne Mensch in der Bar sucht: Begegnung. Der moderne Mensch möchte seiner Einsamkeit entfliehen, möchte nicht allein sein, möchte dem Menschen begegnen, ihm nahe kommen, ein Gegenüber haben.
Das aber findet der moderne Mensch in der Bibel; den Menschen, den wahren Menschen. – Und dieser Mensch ist zugleich der wahre Gott!
«Fragst du, wer er ist?
Er heisst Jesus Christ,
Der Herr Zebaoth
Und ist kein anderer Gott…»
Das ist die grosse Angelegenheit, gestern und heute, dass wir im Bibelbuch dem wahren Menschen und dem wahren Gott begegnen, ihm nahe kommen. So sagt Luther: «Hier wirst du die Windeln und Krippen finden, da Christus innen liegt, dahin auch der Engel und die Hirten weisen. Schlechte und geringe Windeln sind es, aber teuer ist der Schatz, Christus, der darinnen liegt.»
Damit ist uns ein Hinweis gegeben für die Lektüre der Bibel: wir dürfen sie in der Erwartung aufschlagen, dass wir den unermesslichen Schatz drin finden und dem lebendigen Christus begegnen, dass wir seinen göttlichen Gesprächen lauschen dürfen und er selber zu uns redet. So gilt es zu bedenken, was dies für den modernen Menschen bedeutet: wir finden in der Bibel den Gott, «der war und der ist und der kommt».
I.
Wir begegnen in der Bibel der Geschichte des Christus
Gott hat Vergangenheit. Er hat Geschichte. «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.» Dieses Wort im Anfang, dieses göttliche Wort, das ist in Jesus Christus Mensch geworden. Schon im Anfang war dieser Jesus Christus bei Gott. Und wo Gott redet im Anfang, da ist Jesus Christus. Schon bei der Schöpfung heisst es: «Gott sprach: es werde … und es ward …» Schon auf der ersten Seite der Bibel begegnen wir diesem weltschaffenden Wort. Überall aber in den alten Geschichten des Alten Testaments begegnen wir dem Christus, der war. Wie im Frühling die Alpweide an ungezählten Stellen durch den Schnee bricht, wie die Soldanelle unter dem Schnee blüht, so lebt Jesus Christus überall im Alten Testament. Er ist noch verborgen, aber er ist da. Schon «hier wirst du die Windeln und die Krippe finden, das Christus innen liegt», vielleicht blutige oder gar schmutzige Windeln. Aber was tuts? Wenn nur Christus darinnen liegt- Und er ist drin!
Im Neuen Testament ist dann die Schneedecke weggeschmolzen. Wir begegnen ihm als dem, welcher auf die Erde kam, starb und auferstand. Das war einmal. Einmal ist er auf die Welt gekommen, da Quirinius Landpfleger in Syrien war. Einmal ist er ans Kreuz geschlagen worden unter Pontius Pilatus. Was heisst das? Wir begegnen in der Bibel Gottes Einmaligkeit, Gottes Personsein und also der Geschichte Gottes, seiner Vergangenheit. Und es ist nötig, dass wir diese Geschichte kennen. Sonst wüssten wir ja gar nicht, wer er ist. Sonst könnten wir ihn nicht erkennen. Wenn ich einer menschlichen Person begegne und sie eingehend kennen lerne; dann wird mir auch ihre Vergangenheit bekannt. Je mehr ich vom Vorleben eines Menschen weiss, desto besser verstehe ich ihn. So ähnlich verhält es sich mit der Gottes-Erkenntnis. Je besser ich Gottes Vergangenheit erkenne, umso besser verstehe ich ihn. Sein Wesen. Sein Wort. Seine Tat. Wenn ich weiss wer Gott gestern war, was er tat und sprach, dann werde ich auch wissen, wer Gott heute ist. So ist es also nötig, dass wir die alten Geschichten der Bibel lesen, wenn wir uns nicht ein falsches Gottes-Bild machen wollen.
Gott, der da war, erkenne ich als den Mann am Kreuz; dann darf ich erkennen, dass diese seine Vergangenheit dies «einmal gekreuzigt», meine Vergangenheit ist. Das tönt nun ganz surrealistisch, ist aber ganz. real. «Jesus Christus, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben» das heisst: meine Vergangenheit ist dabei. Die Vergangenheit der ganzen modernen und unmodernen Menschheit ist da mitgekreuzigt, mitbegraben und mitgestorben.
Ein Einzelfall mag zeigen, dass das stimmt: Der Wärter raschelt mit den Schlüsseln und öffnet die Eisentür. Ein junger Mann, unrasiert, mit offenem Hemd, kommt mir entgegen. Wie er mich erkennt, wendet er sein Gesicht ab und beginnt zu schluchzen. Der Wärter lässt uns allein. Wir setzen uns auf die Pritsche: «Das ganze Leben verpfuscht. Die Mutter in Gram und Kummer. Drei unschuldige Kindlein haben keinen Vater mehr. Die Zukunft vernichtet. Ein Zuchthäusler, ein Zuchthäusler!» Das Weinen schüttelt den starken Körper; dann aber erzählt er, wie es kam. Nach einer halben Stunde liegt ein ganzer Berg von Schuld vor uns. Der Scherbenhaufen eines zweiunddreissigjährigen Lebens, eine verscherbelte Ehe, eine zerbrochene Karriere. Wir sitzen eine Weile stumm vor dem Scherbenhaufen, dann aber darf ich ein Wort lesen von diesem Jesus Christus, der den zweiunddreissigjährigen Schuldenberg wegtrug in sein Sterben hinein. Und wir können nichts anderes tun, als die Hände falten und danken, dass dieser Berg weggetragen ist. «Amen», sagt auch der junge Mann, steht auf, klettert am Gitterfenster hoch und knüpft dort sein Handtuch los. Wortlos legt er es auf die Pritsche. — Ich weiss nun nicht, ob man sich an einem Handtuch erhängen kann, aber das weiss ich, dass da, wo Gottes Wort und Tat vom Kreuz gehört wird, der Mensch frei geworden ist von einer bösen Vergangenheit, frei für eine gute Gegenwart. Das bärtige Gesicht strahlt als wir uns beim Abschied die Hand geben.
Das aber belastet den modernen Menschen immer wieder, das was gestern war oder vorgestern oder vor Jahrzehnten- So vieles gibt es in seinem Leben, Verdrängtes, Verschüttetes, Vergessenes, das doch immer wiederkehrt, Schutt aus der Vergangenheit. Darum geht der moderne Mensch zum Psychiater, damit er in der Analyse den Schutt wegschaufle; denn der moderne Mensch möchte frei werden von der Vergangenheit.
Dies ereignet sich in der Begegnung mit dem Gott, der da war und für uns am Kreuze starb, dass der verschüttete Mensch frei geschaufelt wird. In der Begegnung mit dem Gott der Bibel wird der Mensch befreit von einer Vergangenheit, die ihn belastet. Darum stehen jene alten Geschichten in der Bibel, die oft so anstössig und schrecklich sind, darum wird so ausführlich der Tod am Kreuz geschildert, weil uns Gott hier frei gemacht hat für die Gegenwart.
Aber nun erhebt sich eine kleine Schwierigkeit: was wir in der Bibel lesen, geschah vor bald zweitausend Jahren oder noch einige Jahrtausende früher. Die Menschen damals lebten in einer andern Welt und Sprache. Der moderne Mensch versteht darum die Sprache der Bibel nicht ohne weiteres. Er kennt den Inhalt der Ausdrücke vielfach nicht. Das Wort «Sünde» oder «Gnade» kann für den kirchenfremden Techniker ebenso unverständlich klingen wie das Wort «Düsenaggregat» oder «Radarschirm» für das betagte Grossmütterchen im abgelegenen Bergdorf. Was heisst das? Die Bibel will erklärt und erläutert werden. Darum haben wir eine theologische Fakultät, darum müssen die angehenden Pfarrer die alten Sprachen studieren, darum halten sie Predigten und Bibelstunden.
Ja, wer die Bibel lesen will, muss selber studieren. Es braucht Mühe, Anstrengung, einen Willen die Bibel zu lesen, Konzentration und Überlegung. Man kann es mit ihr nicht machen wie mit dem Morgenblatt, das man während des Frühstücks schnell überfliegt. Aber die Mühe lohnt sich, denn wenn wir in diesen alten Geschichten dem Christen begegnen, finden wir die Freiheit?
II.
Wir begegnen in der Bibel der Gegenwart des Christus
So machen wir die Entdeckung, dass wir hier nicht bloss dem Christus begegnen, der war, sondern auch dem, der ist. Das Neue Testament wäre ja gar nicht geschrieben worden und auch das Alte wäre für uns moderne Menschen ganz ohne Interesse, wenn Jesus nicht von den Toten auferstanden und in den Himmel gefahren wäre, das All mit seiner Gegenwart erfüllend. Und drum dürfen wir die Bibel in der Hoffnung lesen, dass wir diesen Lebendigen drin finden, dass wir ganz direkt sein Wort hören; denn der, dessen Geschichte wir lesen, ist uns gegenwärtig- Er umgibt uns. Was er zu den antiken Menschen sprach, das kann er heute wieder zu den modernen Menschen sprechen. Wir lesen also die Bibel im Wissen: «Gott ist gegenwärtig.» Diese Gegenwart Gottes nennen wir den Heiligen Geist.
Damit haben wir die Kraft genannt, welche dem modernen Menschen die Bibel öffnet. Ohne Heiliger Geist ist die Bibel ein totes Buch. Es bleibt verschlossen, es sagt mir nichts, wenn ich es lese, Heiliger Geist also muss auch zum Existenzialisten kommen. Und nun haben wir das Versprechen, dass Gott den Heiligen Geist gibt, wenn wir darum bitten. Christus spricht: «Bittet, so wird euch gegeben werden, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan werden. Denn jeder der bittet, empfängt; und wer sucht, der findet und wer anklopft, dem wird aufgetan werden. Wo ist unter euch ein Vater, der, wenn ihn sein Sohn um einen Fisch bittet, ihm statt des Fisches eine Schlange gebe oder auch, wenn er um ein Ei bittet, ihm einen Skorpion gebe? Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wieviel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten.»
In dieser Gewissheit dürfen wir die Bibel lesen: Gott schenkt uns im Heiligen Geist seine Gegenwart, lässt uns teilhaben an seiner Ewigkeit. Mit seiner göttlichen Gegenwart aber schenkt er uns auch menschliche Gegenwart. Wo wir Gegenwart Gottes haben, da haben wir auch Zeit. Je mehr die Ewigkeit sich uns öffnet, je mehr Zeit haben wir.
Und da ist wohl eine der grossen Nöte des modernen Menschen; die Zeitnot: der Arbeiter am Fliessband, der Chef am Diktaphon, der Fussgänger und der Automobilist, sie alle leiden darunter, dass sic wenig Zeit, keine Zeit haben. Nach dem Sechstagerennen der Woche kommt am Sonntag das Rennen nach dem Vergnügen. Für die Familie, für die Natur, für die Kunst, für das Spiel, für alles Schöne in Gottes geliebter Welt hat der moderne Mensch keine Zeit. Warum? – weil seine endliche Zeit losgerissen ist von Gottes unendlicher Zeit. Weil er nicht teilhat an der Ewigkeit, drum hat er keine Zeit mehr für sich selber. Wo er aber Gottes Gegenwart findet, da findet er Zeit.
Vor einigen Jahren erschien im Verlag «Organisator» eine kleine Broschüre: «Zweihundertfünfzig Tipps zum Zeit sparen». Es handelt sich um ein rein kaufmännisches Unternehmen, das den Geschäftsleuten wertvolle Winke geben will. Der erste Tipp zum Zeit sparen sei hier wiedergegeben, und ich bitte zu bedenken, dass da nicht ein Pfarrer, sondern ein Kaufmann, ein Organisator redet: «Beginne jeden Tag mit Danken. Bist du auch kein guter Sänger, ein Lob- oder Danklied in der Morgenfrühe lässt alle Arbeit des Tages leichter fliessen. Nimm dir vor der Tagesarbeit Zeit, einen Abschnitt der Bibel aufmerksam durchzulesen und ernstlich zu überdenken. Lass keine auch noch so drängende Arbeit dich abhalten, dann still zu beten, wobei du die Fürbitte für alle, mit denen du an diesem Tag voraussichtlich zu tun haben wirst, auf keinen Fall vergessen darfst. Du wirst staunen, wie viel Zeit es dir einbringt, wenn du diesen drei Vorschlägen von Herzen nachlebst.»
So heisst’s im ersten Tipp zum Zeitsparen: «Nimm dir vor der Tagesarbeit Zeit, einen Abschnitt der Bibel aufmerksam durchzulesen und ernstlich zu überdenken.» Alle zweihundertneunundvierzig Tipps sind nicht so wichtig wie dieser erste Tipp.
Der gehetzte, müde Mensch von heute, mag diesen ersten Tipp beherzigen und eine halbe Stunde am Morgen für das Studium der Bibel verwenden. Wer tagsüber unter Zeitnot leidet, muss sich in der Morgenfrühe mehr Zeit für die Bibel nehmen. Dann wird von der Ewigkeit her mehr Zeit für den Tageslauf geschenkt werden.
Noch etwas ist hier zu nennen, was dem modernen Menschen am Herzen liegt. Er ist ganz und gar Diesseitsmensch und als solcher in die Realitäten verliebt. Er rechnet mit Kilometern, Pferdestärken, Kilowattstunden, mit Franken, Kalorien, Vitaminen und Chlorophyll. Das macht den modernen Menschen so liebenswert, dass er gar nicht «übersühnig» ist, sondern Realist. In der Bibel aber darf er die grösste Realität entdecken: die Allgegenwart des auf erstandenen Christus!
III.
Wir begegnen in der Bibel der Zukunft des Christus
Die Bibel ist «das prophetische Wort». Jesus Christus ist der, welcher kommt: «Siehe er kommt mit den Wolken» — Das sind die letzten Worte Christi in der Bibel: «Ja ich komme bald. Amen.» Johannes fügt hinzu: «Komm, Herr Jesu.» — Ein Amerikaner hat in der Bibel über dreihundert Stellen gezählt, die davon reden, dass Jesus Christus im Kommen ist. Die Welt aber vergeht. Jedes Löchlein im Zahn, jede neu produzierte Atombombe deutet darauf hin, dass die Welt mit ihrer Lust vergeht. Jesus aber ist der kommende Mann. Sein schöpferisches Wort wird die neue Erde und den neuen Himmel schaffen. Als der kommende Mann, ist er der wahrhaft moderne Mensch.
Ja, im Grunde genommen gibt es nur einen modernen Menschen, Jesus Christus. Und mit all unserem modernen Getue, mit geringelten Socken und Nylonstrümpfen, mit all unsern vollautomatischen Waschmaschinen, mit all unsern Rollern und Volkswagen, mit all unserem Gerenn und Gejag können wir uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir vor Gottes Augen, ebenso unmodern wirken wie ein Automodell von 1912 auf dem Münsterplatz für unsere Augen unmodern wirkt. Das Modernste jener Bar des Berneroberlandes bildet nicht das Make up der Damen, sondern der, welcher in jenem Buch in der Nische redet. Dabei wollen wir nicht gegen das Make up und noch weniger gegen die vollautomatische Waschmaschine polemisieren. Wir wollen all das, was uns so modern vorkommt aber auch nicht zu tragisch nehmen, sondern ab und zu ein bisschen darüber lächeln und dabei ganz klar sehen, dass die gepflegteste Eleganz und die fortschrittlichste Einstellung des Menschen vor dem kommenden Christus schon überlebt und überholt ist; denn in das Bild dieses Kommenden werden wir ja alle verwandelt werden. Nach seinem himmlischen Modell werden wir alle neu gebaut in der Auferstehung. Wo wir drum in der Gegenwart des Lebendigen die Bibel lesen, da hat die Zukunft schon begonnen, die Verwandlung schon angefangen. Das Sterben des alten Menschen, der nicht los kommt von seinen schlechten Moden und das Werden des neuen Menschen, der nach der himmlischen Mode bekleidet wird. Paulus sagt darüber: «Wir alle aber spiegeln mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden dadurch in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit wie von dem Herrn aus, welcher Geist ist.» So ist seine, Gottes Zukunft in Jesus Christus unsere Zukunft. Paulus sagt, dass wir bei der Wiederkunft des Herrn «mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit».
Und hier wird wiederum ein grosses Problem des modernen Menschen gelöst: seine Angst vor der Zukunft. Er glaubt an den Untergang des Abendlandes und fürchtet sich vor dem dritten Weltkrieg. Gerade, wenn er Gott nicht fürchtet, fürchtet er umsomehr Bakterien, Russen, Chinesen, Japaner, fliegende Teller, radioaktive Strahlen, Raketengeschosse und H-Bomben.
Ja der moderne Mensch hat gar keine Zukunft mehr, weil er die Zukunft Christi aus den Augen verlor, drum glaubt er auch nicht mehr an seine eigne Zukunft. Nehmen wir einmal das Problem des jungen Arbeiters: wenn er aus der Lehre kommt, verdient er gut, Noch nie hat er so gut verdient wie heute. Muss er aber heiraten, nimmt er die Möbel auf Abzahlung. Warum? Weil er nicht an die Zukunft glaubte, drum hat er das Einkommen mit Wein, Weib und Gesang vertan und nichts erspart.
Wo aber ein Mensch der grossen Zukunft Jesu Christi entgegengeht, da bekommt seine eigene kleine Zukunft einen ganz neuen Wert. Wer an die Zukunft des Himmelreiches glaubt, der darf auch an die Zukunft des Erdreiches glauben. Das Kommen des Himmelreiches macht die Gegenwart auf der Erde erst recht kostbar. Und wenn es je wieder Menschen gibt, die eine neue Kultur schaffen, und eine neue Politik finden, werden es Menschen sein, die der Zukunft Christi entgegengehen.
Wir fassen die drei Punkte zusammen.
- In der Bibel begegne ich dem Jesus Christus, der war und also in seinem Kreuz das Ende ist meiner und aller Welt Vergangenheit.
- In der Bibel begegne ich Jesus Christus dem Gegenwärtigen und also meiner und aller Menschen Gegenwart.
- Die Bibel zeigt mir Jesus Christus den Kommenden und also meine und der Menschheit Zukunft.
Das heisst, in der Bibel entdecke ich mein wahres, mein eigentliches Leben.
Jesus sagt: «Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben.»
«Wenn jemand mein Wort befolgt, wird er in Ewigkeit den Tod nicht sehen.»
«Wahrlich, wahrlich ich sage euch, wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben… er ist aus dem Tod ins Leben übergegangen.»
Das ist das grosse Geheimnis, dass wir dort in der Bibel unser Leben finden. In diesem scheinbar unmodernen Buch findet der scheinbare moderne Mensch sein wirklich modernes Leben. Sein Leiden ist schon durchlitten. Seine Freude hat schon begonnen. Hier fängt mein Leben an, wo ich den lebendigen Christus erkenne und er mir sein Wort sagt. Und das ist es ja, was der Mensch in der Bar sucht- Er will leben und die gelben, braunen, roten, grünen und violetten Säfte sollen ihm leben helfen. Wir alle wollen leben, wir tanzen aber am Leben vorbei, wenn wir es nicht in der Bibel finden: im wahren Menschen und im wahren Gott.
Aber nun kommt die Frage, wie soll das geschehen? Wie können wir Menschen der Bibel, und also lebendige Menschen werden? Wie können wir als wahrhaft moderne Menschen leben?
Jesus vergleicht sein Wort mit Brot: Da er versucht wird, Steine in Brot zu verwandeln antwortet er: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.» Später sagt er: «Ich bin das Brot des Lebens.»
Die Bibel ist Brot. Brot will gegessen werden. Wenn abergläubische Bauern ein Blatt des Evangeliums zerrieben und unter den ersten Brei mischten, den sie dem Kind eingaben, so zeigt sich hier bei aller Verkehrtheit die richtige Einsicht: die Bibel muss gegessen werden.
Wir wollen uns diesen banalen Vorgang des Essens vergegenwärtigen, um damit den geistigen Vorgang des Bibellesens besser zu verstehen.
Als erstes muss ich beim Essen das Brot in den Mund nehmen, zwischen die Zähne. Ausserhalb meines Mundwerks kann ich nicht essen.
Wenn ich die Bibel lese, muss ich hören, mit den Ohren hören. Nur das, aber das. Dazu brauche ich zunächst nicht einmal Glauben, nur zwei Ohren- Ich darf also die Bibel lesen, mir sie in der Predigt auslegen lassen, auch wenn ich noch nicht glaube. Gerade wenn ich nicht glaube! Paulus sagt: «Der Glaube kommt aus der Predigt, die Predigt aber durch das Wort Christi.» Das Brot in den Mund nehmen, das Wort hören, es nicht vergessen. Das ist das erste.
Das Zweite beim Essen ist das Kauen: So muss ich das Wort hin und her wenden, darüber nachdenken, es verkleinern. Das heisst, es verstehn. Wer isst ohne zu kauen, schadet der Gesundheit. Ich kannte einen Knecht, der schluckte eine Kartoffel und ein halbes Kotelett auf einmal. Er war ein riesiger Kerl, aber er war gar nicht gesund. So gibt es Riesen an Frömmigkeit, die nehmen ganze Kapitel in den Mund und schlucken sie unzerkaut. Aber das gibt wenig Kraft.
Da sind wir schon beim Dritten: das Schlucken! Die beste Kautechnik hilft nichts, wenn ich nicht schlucke. Es gibt kleine Kinder, die schlecht essen und die Speise nicht schlucken wollen. Grosse Männer aber sagen: «Das was in der Bibel steht, das mit der Auferstehung und der Wiederkunft kann ich nicht schlucken.» Ja darum muss ich eben kauen. Denn gerade um das geht’s, dass ich das Wort aufnehme, ganz in mein Inneres hinein. Paulus spricht vom inwendigen Menschen, der von Tag zu Tag erneuert wird. Er sagt: dies sei das Geheimnis unter den Heiden: «Christus in euch!»
Dabei gilt es zu beachten: wir essen, um zu leben. So wie die Kraft des Brotes uns nichts nützt, wenn sie nicht in Körperkraft verwandelt wird, so nützt uns das Gotteswort nichts, wenn es uns nicht zur Lebenskraft wird und die Entscheidungen unseres Lebens bewirkt und bestimmt. Das geschieht dann, wenn ich ihm Vertrauen und Gehorsam schenke.
Noch ein Letztes ist zu sagen: die beste Mahlzeit bereitet wenig Vergnügen, wenn sie einsam verzehrt wird. Das einfachste Mahl aber wird zum Fest, wenn liebe Freunde kommen. Was vom Essen gilt, das gilt vom Bibellesen: die Speise schmeckt besser in der Gemeinschaft. Die Schriften des Alten Testaments sind meist ans Volk gerichtet, diejenigen des Neuen Testaments an die Gemeinde. Wenn die Bibel für die Gemeinschaft geschrieben wurde, dann ist es sinnvoll, sie auch in der Gemeinschaft zu lesen. Darum sind in vielen Gemeinden landauf, landab Bibelzellen gewachsen. Menschen haben angefangen miteinander auf Gottes Wort zu hören. Ein Zeichen dafür, dass der liebe Jean-Paul Sartre nicht ganz gut orientiert ist, wenn er meint, dass Gott nicht mehr rede.
Ich denke da an jenen Ingenieur, der in seinem Büro die Bibel liest. Die Sekretärin klopft und tritt so schnell ein, dass er nicht mehr Zeit hat, seine Bibel in der Schublade seines Schreibtisches verschwinden zu lassen. So kommt es zu einem Gespräch über die Bibel. Sic habe auch einmal darin zu lesen versucht, meint die Sekretärin, aber sie habe nichts davon verstanden. Auch ihr Bräutigam verstehe sie nicht. Der Ingenieur macht nun den Vorschlag, sie wollten zu dritt das Buch lesen. So fangen sic an, später kommen noch andere dazu, und die Bibel wird ihnen zur Freude.
Da sind wir ja auch schon bei der Frage, wie die Bibel mit den Menschen in der Bar zu reden beginnt. So, dass einer sie aufschlägt. Einer den andern einlädt zu festlichen Mahl.
Ich vermute, dass z. B. in der frommen Stadt Basel tausend, wenn nicht zehntausend Menschen darauf warten, dass Gott zu ihnen redet, auch wenn sie dies sich nicht selbst zugeben wollen.
Was aber tat Mose, als Gottes Wort zerschlagen am Boden lag? Er stieg für das Volk auf den Berg, um dort Fürbitte zu üben. Dann durfte er dem Volk die neuen Tafeln bringen. Und das braucht es heute, eine Gemeinde, eine Schar von Königen und Priestern, die vor Gott eintritt für die Welt und den modernen Menschen die neuen Tafeln bringt, dass sie das alte Wort neu hören können, das sie zu neuen, zu ganzen und also im wahrsten Sinne des Wortes zu modernen Menschen macht. Denn das gehört zusammen: Gottes Wort und der moderne Mensch.
«Dieu a besoin des hommes» hat einmal ein französischer Film geheissen. Der grosse Gott braucht Menschen. Menschen, die mit Mose auf den Berg steigen, um Gottes Wort zu hören, dann aber heruntergehen von der Höhe in den Lärm der Masse und dort mit ausgestrecktem Arm hinweisen auf den, der in der Bibel verborgen ist. Ganz kleine Menschlein braucht der grosse Gott, die hinuntersteigen vom Berg in die Gassen und Keller von Klein- und Grossbasel und auch dem Menschen im Nachtlokal mit Wort und Tat zeigen: im Buch dort in der Nische ist einer verborgen und dieser Eine ist das Leben der Menschen. — «Dieu a besoin des hommes.» Gott braucht Menschen, so sehr erniedrigt er sich.
Vielleicht braucht er auch dich! — Dann hörst du mit den ersten Jüngern das Wort des Herrn, der war und ist und kommt: «Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, sende ich euch!»
Vortrag, gehalten anlässlich der Feier zum 150jährigen Jubiläum der Basler Bibelgesellschaft in der Martinskirche am 24. Oktober 1954.
Quelle: Rudolf Bohren, Die Bibel und der moderne Mensch, Zürich: Zwingli Verlag, 1955.
1954 – da gab es noch Bibeln in Bars und in Restaurants vielleicht auch??
In Hotels bestimmt, aber heute? Ich kann mich nicht mehr erinnern wo ich das letzte Mal eine Bibel in einem Hotel bemerkt habe. Wahrscheinlich gibt es sie noch in Krankenhäusern, wo die Menschen angesichts ihrer Vergänglichkeit empfänglich sind für gesunde Kost und Trost vom Jenseits.
Aber sie war ja ständig da in meinem alltäglichen Leben. Ich habe gesehen, wie sie gegessen wird und immer noch – mal roh, mal gedämpft, geschält, ungeschält, mit Schärfe und verbissener Miene da und mit vor Entzücken leuchtenden Augen dort. Oft auch bedacht mit Respekt und Dankbarkeit für jeden Bissen. Und selber nasche ich natürlich auch davon, ich esse gerne – aber es gibt auch zähe Worte, die wollen nicht runter 🙂
Angesichts der stark veränderten Ess – und Lebensgewohnheiten darf man gespannt sein, wie es die Bibelworte auch noch auf die Teller der kommenden Generationen schaffen? Vielleicht schweigen sie einfach, bis die Zeit wieder reif ist für die Gerichte Gottes :-))))
Liebe Grüsse und einen guten Tag wünscht dir
Brig