Brief eines jungen Pfarrers aus der DDR an Karl Barth 1958
Da schrieb ein junger Pfarrer zusammen mit einem Kollegen einen siebenseitigen anonymen Brief an Karl Barth im Sommer 1958, in dem er aus seiner Sicht die Lage der Christen in der DDR schilderte und zum Abschluss acht konkrete Fragen an Barth richtete. Ende August 1958 schrieb Karl Barth seine Antwort auf diese Fragen nieder und veröffentlichte sie als «Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik». Der Adressat dieses Briefes blieb unbekannt:
Hochverehrter Herr Professor!
Sie haben sich bereiterklärt, uns in bedrängter Situation ein klärendes und weisendes Wort zu sagen, soweit dies von Ihrer Lage aus möglich ist.
Gestatten Sie uns, daß wir einer gewissen Verärgerung zu Anfang Ausdruck geben: Bei den für uns so brennenden Fragen fühlten wir uns etwas verlassen, und zwar von den westdeutschen Bruderschaftskreisen. Von ihnen vor allem unter all den westdeutschen Brüdern hätten wir Rat und Ermunterung zu neuen Wegen erwartet, uns ihren Ratschlägen und Weisungen erschlossen. Wir blieben aber, auch in der Schrift «Christ in der DDR» von Johannes Hamel, im wesentlichen unberaten. In der «Stimme der Gemeinde» wird auf die schwierigen Verhältnisse bei uns nur dann Bezug genommen, wenn ein klar erkennbares Opfer des «Kalten Krieges» vorliegt wie im Fall Schmutzler. In Gesprächen mit westdeutschen Bruderschaftskreisen ist eine gewisse Abstinenz unseren Fragen gegenüber unverkennbar, etwa so: «Lieber Kommunistenkind als Atomleiche» oder «Die Ursache von Schwierigkeiten soll man zuerst bei sich selber suchen». Das stimmt, und wir bemühen uns darum. Auch wollen wir kein Mitleid oder ehrende Beachtung, sondern nur dies: Ein Mitdenken und Beraten, ohne die Härte der Tatsachen zu verkennen. Wir danken es den westdeutschen Bruderschaftskreisen, daß sie ihrem Staat gegenüber ein kritisches Verhältnis haben. Der Vorwurf, daß diese Kreise lieber nach Moskau als nach Rom gehen, ist gewiß böswilliges Mißverstehen, aber doch nicht ganz zufällig. Jedenfalls vermissen wir den Mut, mit bitterer Nüchternheit festzustellen, daß der von Moskau aus gelenkte Sozialismus immer wieder in die Versuchung gerät, prinzipiell und konsequent die Christengemeinden mundtot zu machen. Es ist keiner unter uns, der nicht für unseren Staat betet, er möchte dieser Versuchung einer Machtanwendung nicht erliegen. Auch verschließen wir uns nicht der Erkenntnis, daß das stückweise Zerbrechen der überlieferten Formen unserer Kircheninstitution die verschiedensten Chancen eines Neuanfanges ergeben. Wir danken Gott, daß er unsere Regierung dazu benutzt, uns von mancherlei Ballast zu befreien. Wir befürchten nichts mehr, als eine «Befreiung» im Sinne Adenauers, die uns zu den «Fleischtöpfen Ägyptens» zurückführen würde. Überdies wünschen wir dem Sozialismus eine solche Entwicklung, daß er Vertrauen zu sich selber fasse und also auf erzwungene Akklamationen verzichte, seine humanistische Grundintention die technischen Schwierigkeiten seiner Durchführung, die sogenannten Kinderkrankheiten, endlich doch überwinde. Wir nehmen dem westdeutschen Rundfunk seine stets düstere Prognose nicht ab: «Was kann schon Gutes aus Moskau kommen?!» Wir vermeiden es, politische Witze über unsere Machthaber zu erzählen, nicht aus Angst, sondern aus notwendigem Respekt. Wir bemühen uns, diesen Versuch, ein Neues zu pflügen, «zu entschuldigen, Gutes von ihm zu reden und alles zum Besten zu kehren».
Aber blind machen können wir uns nicht für die Gefahr, daß das Regime in der DDR mehr und mehr sich zu einem regelrechten Haß gegen Christus, dieser unfaßbaren Autorität der Kirche, hinreißen läßt. Dies ist noch keineswegs definitiv entschieden. Die Aktionen gegen die Kirche gleichen vielmehr epileptischen Anfällen, die aber eben mit wachsender Zahl eine Minderung der Zurechnungsfähigkeit, eine Trübung des fairen Verhältnisses zu den Christen mit sich bringen. Man hat erklärt, daß unser Staat mehr und mehr seine Maske verlöre, wir sind der Meinung, daß er sein Gesicht verliert. Die Entwicklung, die sich jetzt abzeichnet, ist für uns nicht nur um unserer selbst willen, sondern auch um der Selbstgefährdung des Staates wegen so bedrückend.
Nun einige Tatsachen im einzelnen:
1. In den Monaten vor dem «Neuen Kurs»1953 wurde insbesondere die Junge Gemeinde angegriffen. Jetzt geht man gründlicher vor und versucht, das «Übel» bei der Wurzel zu fassen, nämlich den Christenlehreunterricht zu beseitigen.
Im Februar 1958 wurde von dem Minister für Volksbildung F. Lange eine «Anordnung zur Sicherung von Ordnung und Stetigkeit im Erziehungs- und Bildungsprozeß der allgemein bildenden Schulen» herausgegeben (s. Anlage). Die auf Grund dieser Anordnung extremen Möglichkeiten wollen wir nicht ausziehen. In unseren Kirchenkreisen wurde der kirchliche Unterricht aus den Schulen verwiesen, auch in Dörfern, denen keine kirchlichen Räume zur Verfügung stehen. Die außerschulische Beanspruchung der Kinder ist keineswegs eingeschränkt worden. Die Kinder werden mit einer erschreckenden Fülle von Nebenaufgaben überschüttet, so daß die Katecheten meistens nur die Hälfte der Klassen erreichen. z.B. werden die Ausbildungsstunden als Rote-Kreuz-Helfer auf die Zeit des Christenlehreunterrichts gelegt, die Kinder der unteren Schuljahre zu dem betr. Zeitpunkt zum Kindergarten beordert, Sportveranstaltungen, Arbeitsgemeinschaften, Pionierstunden und Landarbeitseinsätze werden so kurzfristig anberaumt, daß den Katecheten ein Verlegen ihres Unterrichtes nicht mehr möglich ist. Den Kindern ist es untersagt worden, Bibel, Gesangbuch oder andere Unterlagen für den kirchlichen Unterricht in den Schulmappen mitzubringen. Selbst sechsjährige Kinder, die mehrere Kilometer vom Schulort entfernt wohnen, werden angewiesen, nach dem Schulunterricht nach Haus zu gehen, um dann für die Christenlehre den ganzen Weg noch einmal zurücklegen zu müssen. Das aber ist nicht im Sinne der Verordnung, nämlich, die Gesundheit der Kinder zu schützen.
Katecheten, die innerhalb der Sperrzone unterrichten, aber außerhalb der Sperrzone wohnen, werden die Passierscheine entzogen, so daß sie ihren Unterricht in der Sperrzone nicht mehr abhalten können.
In einer Klasse von Schulanfängern ließ eine Lehrerin allwöchentlich einmal die Kinder aufstehen, die noch zur Christenlehre gehen, und diese von den anderen Kindern mit lauten «Bä-Bä-Rufen» verspotten. Zu all diesen Dingen gibt die Presse der Ost-CDU keine Stellungnahme, aber ganz zufällig wird auf einer Bezirksdelegiertenkonferenz der CDU von der «abstrakten und so wenig gegenwartsbezogenen Christenlehre» gesprochen, die mit «überalterten Methoden» arbeite.
Alarmzeichen für eine sich immer stärker auswachsende Offensive gegen die Christenlehre und den Konfirmandenunterricht sind in reichem Maße gegeben.
2. Eng damit zusammen hängen die Schwierigkeiten um die Konfirmation. Die Zeiten sind vorbei, in denen noch ein schiedlich-friedliches Nebeneinander von Jugendweihe und Konfirmation propagiert wurde. Jetzt wird erklärt: «Mit der Kenntnis frommer Gebete und religiöser Dogmen können unsere jungen Bürger im praktischen Leben nichts anfangen. Im Gegenteil, diese Kenntnisse wirken hemmend auf die Erkenntnis der realen Welt, auf die Erkenntnis der objektiven Gesetze der Gesellschaft. Derjenige, der vorwärts will, braucht wirkliches Wissen, jenes Wissen, das sich unsere Jugend zu einem großen Teil in den Jugendstunden zur Vorbereitung auf die Jugendweihe erwerben kann und bereits erwirbt.» Fast ausnahmslos werden nur solche Kinder zur Oberschule angenommen, die sich der Jugendweihe unterzogen haben. Der Vorwurf, daß auf diese Weise die Teilnahme an der Jugendweihe erzwungen werde, wird zurückgewiesen. «Einen Zwang gibt es grundsätzlich nicht.» Im gleichen Atemzug wird aber auch erklärt: «Eltern, die ihr Kind nicht an der Jugendweihe teilnehmen lassen, bekennen, daß sie am Althergebrachten hängen und nicht wünschen, daß ihr Kind mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut gemacht wird. Was aber soll solches Kind in unseren Oberschulen, wo die Wissenschaften wie über die Bewegung der Materie, die Entstehung des Menschen und die Entstehung der Religion usw. gelehrt werden. In unseren höheren Schulen werden die Jugendlichen zu Menschen von Morgen erzogen.»
Im Zusammenhang mit der Jugendweihe wird auch das folgende Gedicht des Kultusministers R. Becher verbreitet:
«Zuende ist geträumt ein Traum,
die alten Götter schweigen,
Unendlichkeit — gottleerer Raum,
den wir im Flug ersteigen.
Erhoben von der eignen Kraft,
sei über uns und oben
der Mensch, der neu die Welt erschafft,
den Schöpfer laßt uns loben!»
Auch fehlt es nicht an Belegen, daß der Jugendweiheunterricht als Teil der «Offensive für unsere sozialistische Weltanschauung in Bezug auf Atheismus» zu verstehen sei.
Als bezeichnendes Beispiel sei erwähnt, daß bei einer häuslichen Feier eines jugendgeweihten Mädchens, das zuvor am Konfirmandenunterricht teilgenommen hatte, im Beisein des Kreisschulrates die Bibel und das Gesangbuch verbrannt wurden.
In […] wurde ein verheißungsreiches Leben der Jungen Gemeinde erbarmungslos abgewürgt. Bereits jetzt nehmen 100% der Schüler an der Jugendweihe teil, Widerstrebende wurden von der Schule verwiesen. Genau wie einst im Dritten Reich wurde der dort ansässige Pfarrer mittels Polizeigewalt nach […] verwiesen. Er wurde angewiesen, die Kirchenschlüssel herauszugeben.
Kindern, die sich nicht der Jugendweihe unterziehen, sind soviele Berufsmöglichkeiten verbaut, daß sie nicht zu Unrecht als Bürger zweiter Klasse bezeichnet wurden.
3. Eine umfassende Kirchenfeindschaft wird nicht mehr verhüllt:
- Den Lehrern wurde unmißverständlich klargelegt, keinen Organistendienst mehr in den Kirchengemeinden zu versehen, ihre Kinder nicht zur Christenlehre und Konfirmation zu schicken und sich darüber klar zu sein, daß sie als Lehrer einer Schule, die jetzt vom demokratischen zum sozialistischen Stadium übergegangen ist, es sich nicht mehr leisten können, auf zwei Gleisen zu fahren.
- Nicht nur den Lehrern, sondern allen Eltern wird es nahegelegt, ihre Kinder einer staatlichen Namensgebung zuzuführen, bei der sie schriftlich versprechen müssen, die Kinder sozialistisch zu erziehen und sie vor dem Aberglauben zu bewahren.
- Besonders ist man bemüht, eine Kirchenaustrittswelle auszulösen. Plakate in den Betrieben, Studenten bei Hausbesuchen, Artikel in den Zeitungen werben dafür. In einem Ausbildungsheim für Kindergärtnerinnen wurde so machtvoll durch Notare für den Kirchenaustritt geworben, daß von den 260 Schülerinnen 250 den Austritt erklärten. Staatliche Mitarbeiter sind solchen staatlichen Wünschen besonders hilflos ausgesetzt und sie werden vereinzelt stundenlang bearbeitet. Berufsentlassung wird angedroht, aber stets mit anderer Begründung durchgeführt. So wurde z.B. ein Lehrer entlassen, weil er bei einer Weihnachtsfeier durch Verlesen einer Geschichte von Anna Schieber die Kinder religiös beeinflußt habe.
- In den Altersheimen ist es nur noch vereinzelt möglich, Gottesdienst zu halten, und dann auch nur einmal im Monat. Für seelsorgerliche Besuche bedarf es der Genehmigung des Hausverwalters, der diese meistens verweigert. Kranken und Sterbenden wurden Andachtsblätter als angebliche «Flugblätter» weggenommen. Häufig sind die Heiminsassen einem ausgeklügelten Spott seitens der Heimverwaltung ausgesetzt, so z.B. werden Gebete und Segensformeln über den Essenstöpfen in nachäffender Weise gesprochen. Insassen, die eifrig in der Bibel lesen, werden deshalb vor allen anderen öffentlich ausgeschimpft.
- Die sehr beliebten und weit verbreiteten christlichen Abreißkalender mit täglicher Andacht sind für 1959 verboten worden.
- Abiturienten aus christlichen Häusern wurden die Reifezeugnisnoten wegen «ideologischer Mängel» von «2» auf «4» herabgesetzt. Ihre Bewerbung an der theologischen Fakultät wurde wegen schlechter Zensuren abgewiesen.
- Ein junger Pfarrer wurde kürzlich zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, nur auf Grund folgender zwei Bemerkungen:
I. Zu einem Lehrer 1955: «Es ist nicht recht, wenn Sie mit Druck für die Jugendweihe werben.»
II. Auf einer Versammlung, als er um seine Meinung über die Wahlen gefragt wurde: «M. E. ist die Form der Wahlen von unserer Verfassung her nicht zu verantworten.»
Ohne weitere Punkte aufzählen zu wollen, dürfen wir abschließend das Urteil wagen, daß sich die Ideologie der sozialistischen Partei (SED) mehr und mehr zur Ideologie des Staates auswächst, die Identifikation von Partei und Staat in zunehmendem Maße vollzogen wird und der Christ sich nicht mehr nur von einer militant-aggressiven atheistischen Propaganda gefordert sieht, sondern einer ungeniert atheistischen Staatsmacht ausgesetzt ist. Es wird ihm erklärt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. «Religion ist keine Privatsache.» «Menschen, die mit wissenschaftlichen Kenntnissen ausgestattet sind, erflehen keine Gnade bei Gott». Folgende Befürchtung übertreibt keineswegs: den Christen wird das Existenzrecht in der DDR untergraben, ihr Glaube um seiner «Wissenschaftsfeindlichkeit» zum Schweigen verurteilt…
Zum Schluß einige Fragen. Verzeihen Sie es uns, wenn es diesen Fragen an theologischer Präzision mangelt. Auch möchten wir die Fragen nicht ausziehen, da dabei meist dann ein ganzer Wust von Fragen entsteht.
1. Ist es ausschließlich als Ungehorsam gegenüber dem Evangelium zu bewerten, wenn in einer verborgenen Herzenskammer die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung in Wohlstand und Freiheit westlicher Prägung zehrt?
2. Kann man dem Staat der DDR angesichts der ihm inhärierenden Gefahren die von ihm gewünschte Loyalitätserklärung geben?
3. Einer unserer theologischen Lehrer hat einmal behauptet, daß die «Stillen im Lande» das Dritte Reich weggebetet haben. Wäre ein gleiches Gebet uns in der heutigen Situation erlaubt?
4. Inwieweit kann die Beschneidung des Öffentlichkeitsanspruchs der Kirche für uns noch ein Grund zum Widerstand sein, sofern man bedenkt, daß hier ein Hauptansatzpunkt der antikommunistischen Propaganda liegt?
5. Die angespannte Lage zerrt an den Nerven und reagiert sich nach innen ab. Gereiztheiten nahe dem Herzinfarkt führen buchstäblich zu kaum heilbaren Auseinander-setzungen. Daher: Dürfen wir uns trotz der Dringlichkeit dieser und ähnlicher Fragen noch solche Zerreißproben leisten? Ist es uns nicht zu Zeiten machtvoller Druckperioden geboten, der taktischen Rücksicht auf den inneren Zusammenhalt ein zwingenderes Gewicht zuzumessen als der Durchsetzung der eigenen besseren Erkenntnis?
6. Ist uns nicht doch auch die Selbstverteidigung der Kirche auferlegt, da uns doch sonst der Raum für eine ungehinderte Verkündigung ganz verloren gehen könnte? Dient nicht die Mahnung der «Friedenspastoren», «den Angriff der Liebe Christi in die Welt hinauszutragen», letztlich nur denen, die uns den Raum der Verkündigung nehmen wollen?
7. Ist es nicht als ein leichtsinniges Wagen, mutwilliges Vorpreschen, voreiliges Experimentieren zu beurteilen, wenn die angeblich «brüchige Fassade» der Kirche schneller abgebaut wird, als es die Umstände mit sich bringen? Oder sollte die Stunde eines umfassenden anderen Aufbaus der Kirche gekommen sein? Gibt es ein Kriterium, die Entscheidungsgeladenheit einer Stunde annähernd werten zu können?
8. Republikflüchtige Pfarrer werden in der Regel ihres Amtes enthoben. Widerspricht diese Anwendung rechtlicher Gewalt nicht dem Wesen einer rechten Kirche, deren Chance darin besteht, sich qualitativ von den Mitteln des Staates zu unterscheiden? Ist die Ausübung des Disziplinarrechtes in diesem Fall ein legitimer Weg, die Kirchenzuchtsgewalt der Gemeinde wahrzunehmen?
Mit vorzüglicher Hochachtung
einige Brüder der DDR