Erich Zenger, Der Psalter – Das Gebetbuch der Bibel: „Diese Dramaturgie bindet das spre­chende Ich oder Wir in jene fundamentale Wirklichkeit ein, die mit dem Tetragramm JHWH benannt wird, nämlich dass Gott da ist und da sein will – gerade, wenn er klagend und lobend, bittend und dankend herbeigerufen wird, wie dies in den Psalmen geschieht. Wer die biblischen Psalmen betet, betet mit jenen Worten, die Gott selbst uns gegeben hat, um unser Leben mit ihm zu leben.“

Der Psalter – Das Gebetbuch der Bibel

Von Erich Zenger

Dass es in der Bibel in Gestalt des Psalters ein Gebetbuch gibt, ist er­staunlich. Die Bibel ist doch Wort Gottes an die Menschen. Die Psal­men aber sind Worte von Menschen an und zu Gott. Gewiss kann man mit Gerhard von Rad sagen, dass die Psalmen die Antwort Israels auf JHWHs vorgängiges Handeln und Wort an Israel sind.[1] Und unter diesem Blickwinkel sind sie Teil jener Selbstmitteilung Gottes, die in der Bibel Wort geworden ist. Sie bezeugen gewissermaßen, dass und wie Gottes Wort in Israel angekommen ist. Mehr noch, sie gehören konstitutiv zur Offenbarung, die sich als Dialog vollzieht. Gleichwohl sind die Psalmen noch in einem viel tieferen Sinn Gottes eigenes Wort an uns Menschen, weil sie uns als Teil der Bibel das rechte Beten lehren. Wenn die Jünger Jesus bitten «Herr, lehre uns beten!» (vgl. Lukas 11,1), wird offenkundig, dass rechtes Beten etwas anderes ist als gemeinhin gedacht wird. Zwar ist rich­tig, dass wir beim Beten unser Herz ausschütten vor Gott sowie in aller Individualität und Kreativität vor Gott aussprechen, was uns gerade bewegt. Aber vielleicht ist noch wichtiger, dass wir beim Beten die Stimmen unse­res eigenen Herzens zurückdrängen, ja sogar «gegen unser eigenes Herz beten, um recht zu beten. Nicht was wir gerade beten wollen, ist wichtig, sondern worum Gott von uns gebeten sein will … Wenn also die Bibel auch ein Gebetbuch enthält, so lernen wir daraus, dass zum Worte Gottes nicht nur das Wort gehört, das er uns zu sagen hat, sondern auch das Wort, das er von uns hören will.»[2] Der Psalter ist das Wort Gottes, durch das Gott selbst uns lehrt, wie wir beten und meditieren sollen. Deshalb hat dieses biblische Gebetbuch – zusammen mit dem Vaterunser – gegenüber allen anderen Gebetbüchern und Gebeten eine singuläre Dignität. In der Vor­rede zum Neuburger Psalter hat Martin Luther 1545 diese Sonderstellung der Psalmen klassisch so formuliert: «Billig sollte ein jeder Christ, der beten und andächtig sein will, den Psalter lassen sein täglich Betbüchlein sein … Ich meine auch, wer’s sollte ein wenig versuchen mit Ernst am Psalter und Vaterunser, der sollte gar bald den andächtigen Gebetlein Urlaub geben und sagen: Ach, es ist nicht der Saft, Kraft, Brunst und Feuer, die ich im Psalter finde, es schmeckt mir zu kalt und zu hart etc.»[3] Ich will im Folgen­den versuchen, die Besonderheiten dieses privilegierten biblischen Gebet­buchs – in der gebotenen Kürze – zu skizzieren.

1. Die Sprache der Psalmen

Die Psalmen sind Gebete und Lieder, die meist im Ich- und Wir-Stil ge­staltet sind. Zwar sind sie nicht der unmittelbare Niederschlag individueller oder kollektiver Erfahrung, sondern sie sind als Gebetsformulare und Gebetsvorlagen entstanden – allerdings in sehr persönlicher und lebensbe­zogener Gestaltung. In ihnen spiegelt sich mit großer sprachlicher Kraft die lebendige Vielfalt des Lebens. In den Worten der Psalmen kommen Lebens- und Gotteserfahrungen so authentisch zur Sprache, dass viele Menschen sich darin wiederfinden, so als ob die Psalmen just für sie selbst, ja sogar von ihnen selbst verfasst wären. Das ist in der Tat die faszinierende Eigenart der Psalmen: Es sind Gebete und Lieder aus einer lange vergangenen Zeit, und doch sind es Worte, die über die Jahrhunderte hinweg bis heute unmittel­bar anrühren. Es sind Tex­te, deren Sinn und Kraft durch das wiederholte Rezitieren und Singen nicht abnehmen, sondern im Gegenteil: Je öfter und länger man sie spricht, hört und meditiert, desto bedeutungsvoller und kostbarer werden sie. Das haben die Dichter und Komponisten gespürt, die sich von der Sprache und vom Rhythmus der Psalmen zu großartigen Kunstwerken inspirieren ließen. Und nicht zuletzt hat die jüdische und die christliche Tradition diese Sprach- und Lebens­kraft der Psalmen erfasst, wenn sie die Psalmen zu sprachlichen Wegbegleitern des Alltags gemacht hat, sei es in der täglichen oder wöchentlichen Rezitation des Gesamtpsal­ters, sei es in der Auswahl von Einzelpsalmen für bestimmte Anlässe.

Die Sprache der Psalmen ist nicht lehrhaft definierend, sondern assoziativ und multiperspektiv. Die Psalmen sind nicht Prosa, sondern Poesie. Ihre Sprache weicht durch die rhythmische Gestalt («gehobene» bzw. «gebun­dene» Sprache), durch die kunstvolle Aufeinanderfolge der Verszeilen im sogenannten parallelismus membrorum und durch ihre ornamentale Form von der Alltagssprache ab und konstituiert eine besondere Sprach- und Lebenswelt, die in ihren Bann schlägt.

Die poetische Kraft der Psalmen wird dadurch verstärkt, dass sie, wie dies für Poesie charakteristisch ist, weitgehend in Bildern sprechen. Viele Bilder kommen aus der unmittelbaren menschlichen Lebenswelt und evozieren archetypische, ur-menschliche Lebenssituationen. Manche Bilder kommen aus dem bäuerlichen Alltag, andere aus der Stadt- und Hofkultur, andere inspirieren sich am Jerusalemer Tempelkult oder an den Festen Israels. In zahlreichen Bildern klingen Erfahrungen im Umgang mit gefährlichen Tieren oder im Kriege an, wieder andere Bilder reflektieren beglückende oder deprimierende Situationen des familiären, gesellschaftlichen oder politischen Zusammenlebens. Andere Bilder stammen aus der Begegnung mit der Landschaft, in der die Psalmen entstanden sind. Wieder andere sind mythische Bilder, die Israel mit seiner Umwelt teilt. Bisweilen sind es Bild­collagen, die ineinander verschmelzen, oder Bildkaskaden, die kontraststark nebeneinandergestellt sind. Bisweilen ist es ein einziges großes Gemälde, dessen Einzelzüge bis ins Detail entfaltet werden.

Die poetische Bildsprache gibt den Psalmen eine faszinierende Konkret­heit und Unbestimmtheit zugleich. Die Bildsprache der Psalmen ermög­licht und fordert von denen, die sie nachsprechen und sie zu ihren eigenen Worten machen wollen, eine individuelle und lebensbezogene Aneignung dieser Texte. Sie können und wollen so rezitiert bzw. gesungen werden, dass sie das, was sie sprachlich zum Ausdruck bringen, in den Beterinnen und Betern selbst bewirken. In ihrer poetischen Komposition sind sie meist so ausgelegt, dass sie einen Gebetsweg bzw. einen Gebetsprozess bilden, durch den sie die Beter so verwandeln wollen, dass das sprechende Ich am Ende des Psalms ein anderes Ich ist als am Anfang des Psalms. Die Psalmen sind keine Aneinanderreihung von Lehrsätzen, sondern sie entwerfen Le­bens- und Sinnwelten, die sie den Betern anbieten, um in sie hineinzutauchen und sich von ihnen ergreifen zu lassen. Beim Rezitieren der Psalmen geht es nicht um Information, sondern um Transformation. Die Psalmen wollen nicht nur intellektuell verstanden, sondern emotional erlebt und vital verinnerlicht werden.

Besonders bedeutsam ist, dass die Poesie der Psalmen sehr konkrete anthropologische, gesellschaftliche und geschichtliche Bezüge bzw. Ver­ortungen hat. Die Psalmen sind Gebete mit Blick auf die Welt im Kleinen und im Großen. In ihnen drückt sich das Leben so aus, dass dabei lebendige «Figuren» von ihrem Leben und aus ihrem Leben heraus reden. Und dies tun sie coram Deo, im Angesicht Gottes und auf ihn hin. Insofern kann man die Psalmen zu Recht «Theo-Poesie», d.h. Gottesdichtung, nennen. Damit ist nicht gemeint, was wir üblicherweise mit der Kategorie «religiöse Dich­tung» bezeichnen, die sich von «profaner» bzw. «nichtreligiöser Dichtung» dadurch unterscheidet, dass sie den Bereich Religion «bedient», neben dem die säkularen Bereiche Kultur, Politik, Ökonomie, Gesellschaft u.a. stehen. Diese neuzeitliche Aufspaltung der Wirklichkeit gab es in der Zeit, in der die Psalmen entstanden, noch nicht. Die Rede von Gott und zu Gott war in biblischer Zeit auf alle Bereiche der Wirklichkeit bezogen. Deshalb sind die biblischen Psalmen «alles andere als Poesie in einer religiösen Nische. Sie reden, singen vom Dasein in all seinen sozialen und individuellen Aspekten. Dass sie es ‹coram Deo›, in der Gegenwart Gottes tun, ist selbst­verständlich, denn zu ihrer Zeit war alles Leben ‹religiös›, d.h. auf Gott oder Götter bezogen. Insofern ragt die biblische Theopoesie als ganzheitlicher Fremdkörper in unser zersplittertes Bewusstsein hinein. Das macht die Psal­men einerseits unzeitgemäß, andererseits durchbricht just diese Unzeitge­mäßheit die Kategorien unseres Zeitgeistes.»[4] In ihnen artikuliert sich die condition humaine in ihrer anthropologischen, gesellschaftlichen und politi­schen Komplexität, in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihrer Dramatik, in ihrem Gelingen und in ihrem Scheitern, mit ihren Hoffnungen und Ängsten, aber immer «im Angesicht Gottes» – und eben in der Sprachgestalt des Gebets.

Weil die Psalmen Theo-Poesie sind, ist ihre poetische Sprachgestalt konstitutiv für ihre theologische Pragmatik. Form und Inhalt bilden hier eine unauflösbare Einheit. Was generell für Poesie gilt, gilt in besonderer Weise für die Psalmen: Man muss sich Zeit und Ruhe nehmen, um sie zu erleben und mit ihnen zu leben. Man muss sich hörend und schauend, mit Emotion und Leidenschaft, mit Intellekt und mit Herz auf sie einlassen, um sich von ihrer Sprach- und Gebetsbewegung erfassen und verwandeln zu lassen. Es ist hilfreich und nötig, immer wieder in das Sprach- und Sinnhaus eines Psalms zurückzukehren und dabei je nach Lebens- und Zeitsituation neue Lebensräume zu entdecken. Mit den Psalmen ist es wie mit einem Musikstück oder einem Gemälde: Je öfter man sie hört oder sieht, desto mehr entdeckt man an ihnen – sogar über sich selbst. Genauso ist es mit den Psalmen: Man ist mit ihrer Gebetspoesie nicht «fertig», wenn man einen Psalm einmal rezitiert oder durch-gelesen hat. Nein, er kann immer neu zu einem Medium der Gottesbegegnung werden, wenn man sich von seiner poetischen Dramaturgie ergreifen lässt. Diese Dramaturgie bindet das spre­chende Ich oder Wir in jene fundamentale Wirklichkeit ein, die mit dem Tetragramm JHWH benannt wird, nämlich dass Gott da ist und da sein will – gerade, wenn er klagend und lobend, bittend und dankend herbeigerufen wird, wie dies in den Psalmen geschieht. Wer die biblischen Psalmen betet, betet mit jenen Worten, die Gott selbst uns gegeben hat, um unser Leben mit ihm zu leben.

2. Der Psalter als Lebensbuch

In den Psalmen kommen die elementaren Erfahrungen mit dem Leben zur Sprache. Die unterschiedlichen literarischen Formen, in denen dies ge­schieht, lassen sich auf die zwei polaren Wahrnehmungsweisen des Lebens reduzieren: Es ist zum einen das begeisterte Ja zum Leben als einer wunder­vollen Gabe Gottes und darin ein freudiges und dankbares Ja zu der in der Gabe des Lebens erfahrenen Gottesgegenwart, ein Ja zu der als schön und lebensförderlich wahrgenommenen Welt, ein Ja zu den Menschen, mit denen man zusammenleben darf und ein Ja auch zu den Lebensmöglich­keiten, die einem zufallen oder die man selbst gestalten kann. Seine literari­sche Form findet dieses Ja zum Leben und zu Gott als dem Geber des Lebens vor allem im Dankpsalm und im Hymnus. Neben diesem Ja steht in den Psalmen unüberhörbar das laute oder auch leise Nein zum Leben, wenn und weil es als vielfältig gestört und unheilvoll erlitten wird, ein Nein wegen der Menschen, die einem das Leben schwer und unerträglich machen, ein zorniges Nein wegen der Gewalt und des Hasses in der Welt, aber auch ein resignierendes Nein wegen des eigenen Versagens. Dieses Nein zum kon­kreten Leben kann sich in den Psalmen sogar steigern vom klagenden Hilferuf bis hin zum anklagenden Vorwurf, dass Gott seiner Rolle als Gott nicht gerecht werde. Seine literarische Form findet dieses Nein vor allem im Klagepsalm des Einzelnen, im Volksklagepsalm und im Bittgebet. Ge­meinsam ist diesen Grundformen der Psalmen[5], dass sie der betende Ver­such sind, diese unterschiedlichen Welt- und Lebenswahrnehmungen vor Gott so zur Sprache zu bringen, dass darin das Leben als Leben mit Gott gesucht, angenommen oder vertieft wird. Dies soll an der poetischen Dramaturgie der genannten Grundformen der Psalmen kurz erläutert werden. Die zahlen­mäßig stärkste Psalmgattung des Psalters sind die Klage- und Bitt­gebete, sei es als individuelle, sei es als kollektive Klage («Klagepsalmen eines Einzelnen»: z.B. Psalm 6; 10; 13; 22; 64; 69; 88; 102; 130. – «Bittpsalmen eines Einzelnen»: z.B. Psalm 5; 7; 17; 25; 26; 28; 35; 56; 57; 59; 86; 140-143. – «Volksklagepsalmen»: z.B. Psalm 44; 74; 79; 80; 83). In seiner einfachsten Form vollzieht sich der Klagepsalm in drei zielgerichteten Schritten. Er beginnt mit der Klage, in der sich die Not bzw. das Leiden artikuliert, setzt sich fort mit der Bitte, die die Wende des Leids und das Ende der Not erfleht, und kulminiert in einem Vertrauensbekenntnis und dem Versprechen des Gottes­lobs bzw. des Danks an Gott.

Die Notschilderungen der Klage beziehen sich auf sehr konkrete Leid­erfahrungen des Ein­zelnen (Armut und Rechtlosigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber mächtigen und rücksichtslosen Feinden, verbale Einschüchterung und Verleumdung, soziale Marginalisie­rung und Aus­grenzung, schwere körperliche und seelische Erkrankung, Verstrickung in Sünde u.ä.) und des Volkes (geschichtliche bzw. politische Katastrophen wie Verwüstung und Besetzung des Landes durch feindliche Nachbarvölker, Zerstörung des Tempels und Jerusalems, Deportation und Exil; Naturkata­strophen wie Trockenheit und Dürre, Zerstörung der Ernte durch Heu­schrecken, Brandstiftung, Unwetter; Tierseuchen; Pest u.ä.). Alles, was die Menschen bedrückt, wird in den Psalmen vor Gott gebracht, zum einen weil die Psalmen zum Ausdruck bringen, dass diese Leid- und Notsituationen Gott doch nicht ungerührt sein lassen können, und zum anderen weil die Psalmen darauf setzen, dass Gott die Kraft geben kann, an dieser Not nicht zu zerbrechen, und vor allem weil die Psalmen hoffen, dass der biblische Gott dieser Not ein Ende machen kann, ja muss. Das ist die charakteristische Gebetsbewegung der Klage- und Bittgebete: Die Beter schreien voller Ungeduld («Wie lange noch?») ihre Not als Klage und Anklage («Warum?») ihrem Gott entgegen, weil sie einen Ausweg aus dieser Situation suchen. Mit den Psalmen bekämpfen sie ihre Angst, dass diese Not Zeichen dafür sei, dass Gott sie vergessen oder gar verstoßen habe. Mit diesen Psalmen suchen sie die Gewissheit, dass Gott auf ihrer Seite steht, gerade mitten in ihrem Leid. Mit diesen Psalmen suchen sie «das Angesicht Gottes», d.h. seine helfende und rettende Nähe. Deshalb schließen die biblischen Klage- und Bittgebete allesamt (einzige Ausnahme: Psalm 88) mit einem hoffnungsvollen Vertrauensbekenntnis und einem Dankversprechen («Auf dich setze ich mein Vertrauen. Du gibst mir Antwort. Du rettest mich. Dir will ich danken mein Leben lang, denn du handelst an mir.»[6]). Hier wird sichtbar: Die Klage- und Bittpsalmen sind ein Gebetsweg, der die Klagenden und Bittenden aus ihrer Verzweiflung heraus- und zum Vertrauen auf den rettenden Gott hinführen will. Diese Psalmen wollen einen Raum für die Erfahrung der Gottesnähe konstituieren. Selbst wenn sich die äußere Situation der Beter nicht verändert, so wollen die Psalmen zumindest die Beter selbst verändern, indem sie ihnen das Vertrauen geben, dass sie – trotz allem – von ihrem Gott umfangen sind. Und insofern beginnt in und mit diesen Psalmen­ge­beten bereits die Herausführung aus der Not.

Die Klage- und Bittgebete sind deshalb letztlich Vertrauenspsalmen. Das wird besonders an ihrem Anfang sichtbar. Sie beginnen mit der invocatio dei, mit der Anrufung des Gottesna­mens JHWH oder mit der geradezu be­schwörenden Erinnerung Gottes an seine besondere Beziehung zu den Betern bzw. seine besondere Verantwortung ihnen gegenüber («Mein Gott!», «Mein Gott und mein Retter!», «Meine Zuflucht und mein Fels!», «Du Hirte Israels!» u.ä.). Die Beter der Psalmen halten also an ihrem Gott fest und klagen Gottes Liebe und Treue ein, gerade dann, wenn alles gegen diese Beziehung zu sprechen scheint. Sie wollen nicht von ihrem Gott lassen, der doch, wie sein Name JHWH sagte, sein Gott-Sein dadurch erweist, dass er die Leidenden wahrnimmt, ihre Klageschreie und Bittgebete hört – und sich herab­beugt, um sie an der Hand zu nehmen, zu trösten und zu retten. Gerade an den Klage- und Bittgebeten wird deutlich, dass der Psalter ein Gebetbuch ist, das zutiefst vom alltäglichen Leben der Menschen durch­wirkt ist und dieses prägen will als Leben mit Gott. Deshalb finden sich in diesen Gebeten so viele Menschen wieder – im klagenden Nein zum Leid und zur Gewalt, in der sehnsuchtsvollen Gott-Suche mitten in Krankheit, Zweifel und Einsamkeit, inmitten von Anfeindung, Verleumdung und Hass, ja sogar im Leiden an Gott selbst. Letztlich sind die Klageschreie und Bittgebet der Psalmen Bitten um die Gnade der Gottesnähe – ja Bitten um Gott selbst.

Es sind Gebete nicht nur für Menschen, die aktuell in diesen Notsitua­tionen sind. Auch die Gesunden können und sollen die Krankenpsalmen beten. Auch wer gerade nicht an Verfol­gung, Ausbeutung und Unterdrü­ckung leidet, soll die Worte dieser Psalmen aufmerksam und sensibel beten. Gerade dann können diese Worte von Menschen zu Worten Gottes selbst werden, die uns das rechte Beten lehren. Gerade wenn unsere Situation nicht voll «deckungsgleich» mit diesen Psalmen ist, sollen wir sie beten, da­mit sie uns die Augen und die Herzen öffnen für das unendliche Leid der Menschen neben uns, ja der Menschheitsgeschichte überhaupt. So können wir sie beten «durch ein hinhörendes Beten, indem wir darin zuhören, Rufe der Leidenden hören. Dann beten wir die Klagegebete nicht unmittelbar ‹selbst›, sondern wir beten sie als Hörer und Hörerinnen des Wortes der Leidenden, indem wir in unserem Gebet auf die Rufe der Leidenden hören. Solches hinhörende Beten nimmt die Leiden der Welt in das eigene Gebet auf. Es ist die Bedingung für eine Spiritualität, uns selbst, unsere Umgebung und unsere Welt von den Bedrängten her wahrzunehmen.»[7] So kann das Beten der Klagepsalmen zu jener tätigen Anteilnahme am Leiden der Anderen hinführen, die Johann Baptist Metz «Compassion» nennt[8] und die zugleich auch die Opfer der Vergangenheit erinnert und vor allem Gott als den Gott der Gerechtigkeit daran erinnert, dass er ihnen – und sei es erst am Tag des Endgerichts – zu ihrem Recht verhelfen müsse. Gerade in dieser Perspektive sind diese Psalmen unverzichtbare Bestandteile des kirchlichen Stunden­gebets, das als stellvertretendes Gebet für die weltweit an der Ungerechtig­keit und an Katastrophen Leidenden gesprochen wird – weil ihre Leiden das Gott-Sein unseres Gottes in Frage stellen.[9] Wer als Gesunder, Reicher und Glücklicher die Klagepsalmen ernsthaft betet, muss sie als Anfrage an seinen eigenen Lebensstil und als Aufforderung zur täglichen Umkehr hören. Darüber hinaus kann er diese Psalmen als Verkündigung der Botschaft vom Gott des Gerichts beten, der als Gott der Gerechtigkeit «die Mächtigen vom Thron stürzen und die Erniedrigten emporheben wird» – als Erweis seiner Göttlichkeit. Ja, die biblischen Klage- und Bittgebete wollen uns bewusst machen, dass unsere Gebete nicht immer nur um uns selbst kreisen dürfen, sondern dass sie zuallererst und zutiefst Gebete für die anderen sein müssen. Die biblischen Klage- und Bittgebete sind in ihrer oft irritierenden Konkretheit als Gebete der Solidarität mit den Leidenden nicht nur Gebete der Nächstenliebe, sondern betender Protest gegen die Mächtigen und Rücksichtslosen in Staat, Gesellschaft und sogar Kirche. Sie halten an der irritierenden biblischen Botschaft fest, dass der Gott der Liebe zuallererst ein Gott der Gerechtigkeit und der sehr konkreten Lebensrettung ist, der auffordert, den Hungernden zuallererst Brot, den Flüchtlingen Heimat, den Verachteten Ehre, den Entwürdigten Recht, den Kranken die nötigen Medikamente, den Straßenkindern Bildung, den vergewaltigten Frauen Schutz und Wiederherstellung ihrer Würde, den in ihrem Leben Geschei­terten konkrete Hilfe zu geben – weil sie alle zur Familie des gemeinsamen Gottes gehören.

Der Psalter weiß aber auch, dass die Welt nicht nur voller Gewalt und Katastrophen ist, dass es im Alltagsleben auch das gibt, was wir Menschen Glück und Zufriedenheit nennen und dass es oft genug Anlass gibt zur Freude, zur Feier des Lebens und zu Dank für überraschende Rettung. Auch für diese Situationen ist der Psalter eine «Gebetsschule», die Gebete als rechte Worte bereitstellt, sei es in der Gattung des Dankpsalms, sei es in der Gattung des Hymnus. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden Gattungen besteht darin, dass die Dankpsalmen auf einzelne Taten der Rettung von Einzelnen oder des Volkes durch JHWH zurückschauen (Bei­spiele: Psalm 9; 30; 116; 118), während die Hymnen das «Wesen» JHWHs feiern: seine Größe und Wirkmächtigkeit in Schöpfung und Geschichte, seine Liebe, Treue, Barmherzig­keit und Gerechtigkeit, seine Königsherrschaft über die ganze Erde und sein königliches Eintreten besonders für die Rechte der personae miserae (Beispiele: Psalm 29; 93; 100; 103; 104; 113; 117; 135; 136; 145; 148). Auch diese Gattungen vollziehen in ihrer Dramaturgie einen Gebetsweg, auf dem die Beter mitgehen sollen und der sie verwandeln will.

Der Dankpsalm kann denen, die Anlass zum Dank haben, eine sprachli­che Hilfe anbieten, ihre neue Situation vertieft zu begreifen und vor anderen zu bezeugen. Diese Dynamik des Dank­psalms wird in seinem Aufbau sicht­bar. In seiner einfachsten Form vollzieht er sich in drei Schritten: Er beginnt mit der Ankündigung des Dankes, wobei der Betende Gott in der 2. Per­son anredet («Ich will dir danken»). Dann folgt der erzählende Rückblick auf die Not des Beters und seine wunderbare Rettung durch Gott, abermals in der Form der Du-Anrede Gottes («ich war in Not, ich habe zu dir ge­schrien, du hast mich gerettet»). Dann wechselt im dritten Schritt die Sprechrichtung. Nun wird nicht mehr Gott angeredet, sondern die bei der Rezita­tion des Dankpsalms real gegenwärtige oder auch fiktional vorausge­setzte Gruppe von Menschen, die aufgerufen werden, diese Rettung mit­zufeiern und daraus für sich die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, die der Dankende als eine Art Quintessenz aus der erfahrenen Rettung zieht (vgl. Psalm 30,6: «Nur einen Augenblick währt Gottes Zorn, doch ein Leben lang seine Gnade. Am Abend mag Weinen einkehren, doch am Morgen ist Jubel.»). So kann der Dankpsalm zur Einübung in eine Grund­haltung werden, die weiß, dass Leben überhaupt ein Gott verdanktes Leben ist und dass dies gemeinsam so gefeiert werden soll, dass daraus Kraft er­wächst, auch die dunklen Stunden des Lebens auszuhalten – im Vertrauen auf den rettenden Gott.

Die Hymnen weiten die punktuell erfahrenen Erweise der Gottesnähe, von denen die Dank­psalmen reden (z.B. Rettung aus Not, Heilung von Krankheit, Befreiung aus Feindschaft, Entlarvung von Verleumdern und Lügnern, Freispruch von falscher Anklage u.ä.), auf den Lobpreis der allzeit gültigen Güte, Liebe, Treue und Herrlichkeit Gottes aus. Die Hymnen rühmen und feiern Gottes Gott-Sein als Grund der Welt und als Quelle des Lebens. Deshalb hat der Hymnus eine ins Universale drängende Dynamik. Er ruft »alle« auf, Gott zu feiern, Israel und die Völker, Menschen, Tiere und Pflanzen – eben den ganzen Kosmos. Die Hymnen des Psalters bieten gewissermaßen eine Regieanweisung für Feste des ganzen Kosmos. Sie rufen auf zu Jubelschreien, zu Tanz und zu Musik, zu weltweiter Versöhnung und Harmonie – zugleich als Absage an alle Formen des Chaos und der Disharmonie. Ihr Aufbau ist vergleichsweise einfach: Sie beginnen mit einem adressatenorientierten Aufruf zum Lobpreis Gottes (meist imperativisch: «lobet, rühmet ihr …» bzw. «lobe meine Seele …»), es folgt der Anlass bzw. der Grund des Lobpreises (meist eingeleitet mit «denn» bzw. «ja, fürwahr») und sie schließen in der Regel mit einer abermaligen Aufforderung zum Lobpreis (er soll gewissermaßen immerzu erklingen). Der Hymnus, der in seiner Sprachform idealtypisch das Lied einer Gemeinschaft ist, lenkt den Blick der Beter weg von den Nebeln des grauen Alltags und will sie hin­eintauchen in das Licht der Herrlichkeit Gottes.

Was wir oben zu den Klage- und Bittgebeten gesagt haben, gilt auch für die Dankpsalmen und Hymnen: Auch sie können hörend und hoffend von denen gebetet werden, denen aktuell nicht zu Dank und Fest zumute ist. Der Dankpsalm kann ihnen Hoffnung machen, dass die Rede vom rettenden Gott ihr Fundament in Rettungen hat, die Israel insgesamt und einzelne Men­schen schon oft gemacht haben. Und die Hymnen können mit ihrer Botschaft von der Liebe, Treue, Gerechtigkeit Gottes eine machtvolle Gegenmelodie werden inmitten der berechtigten Klagen der Gottver­lassenheit und der Gottesfinsternis. Vor allem halten die Hymnen fest, dass alles, was lebt, letztlich aus der gütigen Hand Gottes lebt, dass alles, was atmet, dabei Anteil am Lebensatem Gottes hat – und dass Gott das letzte, entscheidende Wort über die Geschichte und über die Welt sprechen wird.

3. Der Psalter als Meditationsbuch

Die neuere Psalmenforschung hat herausgearbeitet, dass der Psalter weder eine Sammlung von Psalmen ist, die planlos hintereinander gestellt wurden, noch eine locker angeordnete Anthologie von Einzelpsalmen, die nur in sich gelesen werden wollen. Zwar hat der Psalter insgesamt eine mehrhun­dertjährige Entstehungsgeschichte, aber er ist sukzessiv gewachsen durch redaktionell reflektierte Zusammenfügung planvoll komponierter Psalmen­gruppen und Teilpsalter, sodass der schlussendlich vorliegende Psalter ein kunstvolles Buchganzes dar­stellt, das auch als solches gelesen werden kann und will.[10] In der jüdischen und christlichen, insbesondere monastischen, Tradition wurde der Psalter vielfach als fortlaufender Gesamttext gelesen, wobei die Abfolge der einzelnen Psalmen diesen dann zusätzliche Sinn- und Bedeutungsräume gab. Wir entdecken heute neu, dass und wie die Psalmen durch Motive und Stichworte miteinander vernetzt bzw. verket­tet sind, dass ihre Anordnung in einer Gruppe häufig einem dramaturgi­schen bzw. theologischen Konzept folgt und dass der Psalter insgesamt durch gezielt positionierte «Schwellenpsalmen» zu einer Buchkomposition mit eigener Programmatik wird, die sich nur durch eine lectio currens («Bahnlesung») erschließt. In dieser Hinsicht ist der Psalter ein Meditations­buch, der als großer Textzusammenhang gelesen dazu anleitet, die Ge­schichte Gottes mit der Welt als seiner Schöpfung, sein Wirken in der Geschichte seines Volkes Israel und seine rettende Nähe im Leben des Ein­zelnen tiefer zu erfassen.

Es ist hier nicht möglich, diese neue Sicht auf den Psalter als Buchkom­position detailliert darzustellen.[11] Es muss genügen, exemplarisch aufzuzei­gen, wie die lectio currens den Einzelpsalmen neue Bedeutungsebenen gibt – und dass gerade so eine vertiefte Psalmenspiri­tualität wachsen kann, die sowohl für das Stundengebet (wie das neue Benediktinische Antiphonale[12] zeigt) als auch für die persönliche Frömmigkeit fruchtbar werden kann. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass der Psalter zur Zeit Jesu in diesem Sinne das Meditationsbuch war, das viele ganz oder teilweise auswendig konnten und das so als ein zusammenhängender Text, eben als ein bibli­sches Buch, im Sprechgesang rezitiert wurde. Auf diese Art der Textmedi­tation weist das sogenannte Schema Israel in Deuteronomium 6,6f hin, wo man im Anschluss an Norbert Lohfink folgendermaßen paraphrasierend lesen bzw. übersetzen kann: «Diesen Text, den ich heu­te proklamiere, sollst du auswendig können. Du sollst ihn mit deinen Kindern repetieren. Du sollst ihn murmeln, wenn du zuhause hockst und wenn du unterwegs bist, abends ehe du schlafen gehst, und morgens, wenn du aufstehst.»[13] Der «Text», auf den hier angespielt wird, ist das ganze Buch Deuteronomium. Dieses Buch soll man auswen­dig lernen, immer und überall aufsagen und in sich hineinsprechen, um es zu verinnerlichen und zum ständigen Lebensbegleiter zu machen. Auf Deuteronomium 6,6f spielt der erste Psalm, also der Prolog, bzw. das Vorwort des Psal­menbuches an, wenn er das Idealporträt der Psalmenbeter zeichnet:

Selig der Mensch,
der nicht geht im Rat von Frevlern,
und auf dem Weg von Sündern nicht steht,
und am Sitzplatz von Spöttern nicht sitzt,
sondern an der Tora JHWHs seine Lust hat
und seine Tora in sich hineinspricht/rezitiert bei Tag und bei Nacht
(Psalm 1,1f).

So also wurde die Tora meditiert: Sie wurde aufgesagt, rezitiert, in sich hineingesprochen – bei Tag und bei Nacht. Das war auch die Art und Weise, wie im Laufe der Entstehungsge­schichte des Psalmenbuches der Teilpsalter und schließlich der Gesamtpsalter gesungen und rezitiert wurde. Aus den Einzelpsalmen wurden ja gerade deshalb Sammlungen geschaffen, damit sie als Sammlungen auswendig gelernt und rezitiert werden sollten. Als Teiltexte der Komposition erhielten sie eine zusätzliche Bedeutung durch den Kontext, in dem sie nun standen. Nebeneinanderstehende Psal­men bilden neue Sinnräume durch die sprachlichen und motivlichen Be­züge, die zwischen ihnen bestehen. Durch die Zugehörigkeit eines Psalms zu einer planvoll strukturierten Psalmengruppe entstehen neue Assoziationen, gefördert insbesondere durch die Multiperspektivität der Psalmenpoesie (s.o.). Mit dem Psalmenbuch ist es eben nicht anders als bei den anderen biblischen Büchern: Man kann z.B. die Erzählung von der Opferung Isaaks (Genesis 22) als Einzelgeschichte lesen, aber ihre theologische Tiefe erhält sie gerade dann, wenn man sie der Erzählfolge gemäß als dramaturgischen Zu­sammenhang und Zuspitzung des Abrahamzyklus Genesis 12-23 liest. Bei den Evangelien ist es nicht anders: Man kann die Erzählung des Markusevangeliums über die Verklärung Jesu (Markus 9) als Einzelperikope lesen und aus­legen, aber ihre Tiefendimension erschließt sich erst, wenn man sie im Zusammenhang mit den Erzählungen über die Taufe Jesu (Markus 1,9-11) und über das Sterben Jesu am Kreuz (Markus 15,33-38) liest. Wie die Einzelpsalmen durch ihre Positionierung im Psalmenbuch zusätzlichen Bedeutungssinn erhalten, kann ich hier nur an einem einzigen Beispiel kurz erläutern.

Der Psalter beginnt mit den Psalmen 1 und 2, die als kompositionelle Einheit markiert sind. Sie haben in den beiden Seligpreisungen Psalm 1,1 und Psalm 2,12 eine deutliche Rahmung. Sie sind durch mehrere Stichwort­gemeinsamkeiten miteinander verbunden (concatenatio): Psalm 1 kontrastiert den Weg des Gerechten und der Frevler und er sagt, dass der Weg der Frevler in den Abgrund führt, während der Weg der Gerechten ein Weg mit JHWH ist, weil der Gerechte die Tora JHWHs «murmelt/rezitiert/in sich hinein­spricht» (hebr. hagah). Auch Psalm 2 kontrastiert zwei Lebensweisen. Auf der einen Seite sind die «Völker» und ihre Könige, die verderbliche Pläne «murmeln/besprechen» (hebr. hagah) und durch ihr Agieren Chaos be­wirken; sie werden in Psalm 2,10-12 aufgefordert, JHWH zu dienen, damit ihr Weg nicht in den Abgrund führt. Den Chaoskönigen steht in Psalm 2 auf der anderen Seite der Zionskönig gegenüber, den JHWH als seinen Sohn dazu beauftragt, die Weltordnung autoritativ durchzusetzen. Der danach folgende Psalm 3 zeichnet dann den Zionskönig, der von feindlichen Heeren umgeben und tödlich bedroht ist. Von Psalm 2 her kommend, ist Psalm 3 wie die Konkretion der in Psalm 2,1-2 geschilderten Aggression gegen «JHWH und seinen Gesalb­ten». Doch dieser in Psalm 3 bedrohte Gesalbte wird geradezu wunderbar errettet, weil er zu JHWH ruft, der ihn «von seinem heiligen Berg» her hört. Das ist in Psalm 2,6 der Ort, auf dem JHWH ihn zum König eingesetzt hat. Gegenüber Psalm 2 ist Psalm 3 auf der Geschehensebene eine Dramatisierung: Der König, der in Psalm 2 die Vollmacht erhält, die Feinde niederzuschlagen (vgl. Psalm 2,9), kann in Psalm 3 nur gerettet werden, weil JHWH selbst die Kiefer der Feinde (vgl. Psalm 2) und die Zähne der Frevler (vgl. Psalm 1) zerschlägt. Von der Seligpreisung Psalm 2,12 her, mit der Psalm 2 schließt («Selig alle, die bei JHWH Zuflucht suchen!») liest sich Psalm 3 wie eine Konkretion dieser Seligpreisung, zumal Psalm 3 explizit mit einer Vertrauensaussage beginnt (vgl. Psalm 3,2-4).

Gewiss lassen sich diese drei Psalmen als in sich geschlossene Einzelpsal­men lesen und auslegen. Sie sind gattungsmäßig verschieden (Psalm 1: Weisheitlicher Tora-Psalm; Psalm 2: Königspsalm; Psalm 3: Klage- bzw. Bittgebet eines Verfolgten) und sie haben auch eine jeweils unterschiedlich gegliederte Dramaturgie. Gleichwohl sind sie durch ihre Stichwort- und Motivbezüge (concatenatio), aber auch durch ihre beabsichtigte Reihenfolge (iuxtapositio) so miteinander verwoben bzw. ineinander geschoben, dass sie im Zusam­menhang sich gegenseitig auslegen. Norbert Lohfink hat den Zusammenhang folgendermaßen beschrieben: «Der Gerechte und der Gottlose, der erwählte König Israels und die gegen ihn aufbegehrenden Nationen, der Verfolgte und seine Feinde – das sind plötzlich nicht mehr disparate Größen. Sie treten in Beziehung zueinander. Die Grenzen zwischen der Torheit gottloser Individuen, dem Aufbegehren der Nationen gegen den Geschichtsplan Gottes, der Verfolgung des Gerechten in Israel soll verschwinden. Ebenso die zwischen dem Gerechten, Gottes Gesalbten und dem ungerecht Ver­folgten. Grundstrukturen treten hervor. Was im einen Fall der König tut, tut im anderen Fall Gott selbst: ein Geheimnis des Ineinander von mensch­lichem und göttlichem Handeln wird ahnbar. Was in den Psalmen 2 und 3 hiesig und jetzt zu sein scheint, gerät vom Ende von Psalm 1 her in eschato­logische Beleuchtung. So wird der Gesalbte von Psalm 2 durchsichtig auf einen Messias der Endzeit, auf den die vom Feind bedrängten Beter des Psalms 3 ebenso hoffen wie auf Gottes Handeln selbst. Schon allein die Verkettung der ersten drei Psalmen bewirkt in dem, der den Psalter als ganzen meditierend vor sich her murmelt, so etwas wie eine Aufsprengung der Einzelaussage, wie ein schwebendes Verschwimmen der einzelnen Verstehensebenen. Man kann jeden dieser Psalmen recht bald sowohl auf dieser Ebene als auch auf jener lesen. Alles ist offen auf Durchblicke und weitergreifende Einsichten hin. Aus der Fläche wird Raum. Das Verstehen kann sich in ihm hin und her bewegen. Dieser Bewusstseinsvorgang ist typisch für Meditation.»[14]

So gelesen wird der ganze Psalter zu einem faszinierenden Meditationsbuch,[15] das seine Leser und Beter in eine Sprachwelt hineinführt, die einer­seits mit der konkreten Geschichte sowie ihren vielgesichtigen Akteuren konfrontiert und die andererseits in diese Geschichte kunstvoll die Wirk­mächtigkeit der biblischen Grundbotschaft hineinspricht, die mit dem Tetragramm bezeichnet wird: «Er ist da, er wird und will da sein» – als der, der Leben schenkt, der Gerechtig­keit schafft und der in die Freiheit der Kinder Gottes führt.

Quelle: Internationale katholische Zeitschrift Communio 37 (2008), S. 547-559.


[1] Vgl. G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 101992, 366f.

[2] D. Bonhoeffer, Die Psalmen. Das Gebetbuch der Bibel, Gießen/Bad Salzuflen 141995, 11.

[3] H. Bornkamm, Luthers Vorreden zur Bibel, Hamburg 1967, 58f.

[4] K. Marti, Die Psalmen 107-150. Annäherungen, Stuttgart 1993, 5.

[5] Ein Überblick über die wichtigsten Formen/Gattungen der Psalmen findet sich u.a. bei E. Zenger, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 72008, 360–362; vgl. auch E. Zenger, Les psaumes dans le culte et la piété du peuple d’Israël, in M. KLÖCKENER u.a. (Hg.), Présence et rôle de la Bible dans la liturgie, Fribourg 2006, 97-123.

[6] Das Vertrauensbekenntnis ist meist perfektisch in Suffixkonjugation formuliert: «du hast mich gerettet», «du hast mir Antwort gegeben» usw., d.h. hier wird proleptisch das erhoffte Handeln JHWHs vorweggenommen.

[7] O. Fuchs, Gotteswort und Predigt. Je dichter am biblischen Text, desto näher am Leben der Menschen – ein homiletisches Prinzip, in: F.-J. Ortkemper/F. Schuller (Hg.), Berufen, das Wort Gottes zu verkündigen. Die Botschaft der Bibel im Leben und in der Sendung der Kirche, Stuttgart 2008, 91f.

[8] Vgl. J.B. Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006, 166-178.

[9] Die kirchenamtlichen Streichungen der diesbezüglich relevanten Passagen der «Gerechtigkeits­psalmen» (fälschlicherweise oft als «Fluchpsalmen» oder «Rachepsalmen» bezeichnet) im Stunden­gebet oder auch in den Antwortpsalmen ist deshalb abzulehnen und sollte rückgängig gemacht werden; vgl. zu dieser Problematik E. Zenger, Psalmen. Auslegungen 4, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg 2003.

[10] Vgl. den Überblick bei J.-M. Auwers, La composition littéraire du Psautier. Und état de la question (CRB 46), Paris 2000; E. ZENGER, Der Psalter als Buch. Beobachtungen zu seiner Ent­stehung, Komposition und Funktion, in: DERS. (Hg.), Der Psalter in Judentum und Christentum (HBS 18), Freiburg 1998, 1-57.

[11] Vgl. dazu besonders F.-L. Hossfeld/E. Zenger, Psalmen 51-100 (HThKAT), Freiburg 32007; dies., Psalmen 101-150 (HThKAT), Freiburg 2008; dies., Die Psalmen. Psalm 1-50 (NEB), Würzburg 1993.

[12] Vgl. dazu G. Braulik, Der Wochenpsalter des «Benediktinischen Antiphonale». Beobachtungen zur Bauweise und Thematik seiner Stundenliturgie, in: N.C. SCHNABEL OSB (Hg.), Laetare Jerusa­lem, Münster 2006, 566-594.

[13] N. Lohfink, Psalmengebet und Psalterredaktion: ALw 34 (1992) 5.

[14] N. Lohfink ebd. 12; zur lectio currens von Psalm 1-3 vgl. u.a. B. Weber, «Herr, wie viele sind ge­worden meine Bedränger …» (Ps 3,2a). Ps 1-3 als Ouvertüre des Psalters unter besonderer Berück­sichtigung von Psalm 3 und seinem Präskript, in: E. BALLHORN/G. STEINS (Hg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegese, Stuttgart 2007, 231-251; zu den (zusätzlichen) Bedeutungsebenen von Psalm 1 in der Buchkomposition des Psalters vgl. besonders B. Janowski, Wie ein Baum an Wasserkanälen. Psalm 1 als Tor zum Psalter, in: ders., Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, Neukirchen-Vluyn 2008, 199-218.

[15] Vgl. dazu die Beiträge des Colloquium Biblicum Lovaniense 2008 in dem von mir heraus­gegebenen Band The Composition of the Book of Psalms (erscheint 2009 in der Reihe BETHL).

Hier der Text als pdf.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s