Karl Barth, Das Vaterunser nach den Katechismen der Reformation (1947): „Du, Unser Vater, Du lässest Dich nicht ein mit dem Bösen, Du kennst kei­nen Kompromiß mit ihm, Du zeigst ihm keine Duldsamkeit. Die Bedrohung des Nichtigen wird niemals eine Drohung sein, die von Dir kommt, sie wird nie­mals von Dir geduldet oder zugelassen werden. Im Gegenteil, wenn Du uns führst in Deinen Wegen, in den Wegen Deiner Gaben, Deiner Vergebung, wirst Du uns niemals zur Linken, wirst Du uns immer zur Rechten leiten.“

Das Vaterunser nach den Katechismen der Reformation

Von Karl Barth

EVZ Verlag Zürich

Die französische Originalausgabe erschien bei Delachaux & Niestle S. A. Neuchâtel unter dem Titel «La priere»

Die Übersetzung besorgte Helmut Goes

© 1965

für die deutsche Übersetzung

EVZ-Verlag, Zürich

Gesamtherstellung

Curt Mohnhaupt

Bruchsal/Baden

Vorwort des Übersetzers

Karl Barth hat viel über das Gebet nach­gedacht und geschrieben, und er hat es auch geübt. Im Jahr 1936 hat er zu einer Calvinfeier die Äußerungen Calvins über das Vaterunser übersetzt und zusam­mengestellt (Theol. Existenz heute, Heft Nr. 37). In der Kirchlichen Dogmatik hat er in III/3 in § 49,4 unter dem Titel „Der Christ unter der Weltherrschaft Gottes des Vaters“ ausdrücklich vom Gebet gehandelt (S. 301-326). Er hat in IV/3, in § 72,4 unter dem Titel „Der Dienst der Gemeinde“ unter den zwölf Diensten auch dem Gebet seinen gewichtigen Platz angewiesen (S. 1011-1014). Er hat auch in den beiden letzten Jahrzehnten zu jeder seiner Predigten die Gebete schriftlich vorbereitet und neu geformt („Fürchte dich nicht!“ 1949, „Den Gefangenen Befreiung“ 1959, „Ge­bete“ 1963). Er hat endlich die Absicht gehabt, in KD IV/4 die Lehre vom Ge­bot Gottes des Versöhners im Licht des Vaterunsers darzustellen. Es scheint ihm nicht vergönnt zu sein, diese Absicht  noch durchzuführen, obwohl er in seinen Vorlesungen noch die Anrufung („Die Kinder und ihr Vater“) und die beiden ersten Bitten („Der Eifer um die Ehre Gottes“ zur ersten Bitte und „Der Kampf um menschliche Gerechtigkeit“ zur zwei­ten Bitte) behandelt hat.

Das vorliegende Büchlein enthält die Übersetzung einer Arbeit, die es bisher nur im Französischen gab, und zwar mit dem Titel „La prière“. Der Text wurde von Herrn Roulin hergestellt nach Stenogrammen in drei Seminaren, die Professor Barth in Neuchâtel im Januar 1947 und 1948 und im Septem­ber 1949 gehalten hat. Roulin schreibt in seinem Vorwort, es sei immer heikel, an die Gedanken eines anderen zu rüh­ren. „Und wenn man es mit dem Pro­fessor von Basel zu tun hat, lädt das Unternehmen noch mehr zur Vorsicht ein.“ So ist es noch einmal, wenn dann wieder ein anderer die nur auf Fran­zösisch gehaltenen und nur stenogra­phisch festgehaltenen Vorlesungen über­setzt. Trotzdem habe ich es riskiert, das kleine Werk „in mein geliebtes Deutsch zu übertragen“, weil ich meine, gerade diese frische, unmittelbare Darlegung werde manchen deutschen Lesern Freude machen und auch von solchen gerne ge­lesen werden, denen die vielleicht prä­ziseren, vielleicht aber auch schwerer verständlichen Ausführungen der Kirch­lichen Dogmatik nicht recht zugänglich sind.

Für die Erlaubnis zur Drucklegung die­ses „kleinen Vaterunsers“, die Karl Barth mit einigem Kopfschütteln erteilt hat, danke ich ihm herzlich und möchte ihn zugleich bitten, doch noch — seinen Bedenken zum Trotz — auch die Anfänge des „großen Vaterunsers“ (und die Taufl ehre) zu veröffentlichen, wenn es auch ein Torso ist. „Am Römerbrief lernt man eben nicht aus“ hat er einmal geschrieben. Am Vaterunser auch nicht. Dem lieben und verehrten Lehrer wünsche ich, es möchte ihm nach seiner Krank­heit „um den Abend licht sein“ (Sach. 14,7).

Stuttgart-Uhlbach, im Januar 1965                                                               Helmut Goes

Inhalt

Vorbemerkungen                                                                  11

  1. Das Gebet                                                                         19
  2. Das Problem des Gebets                                              19
  3. Das Gebet als Geschenk Gottes                                   25
  4. Das Gebet als Tat des Menschen                                 34
  5. Erklärung des Herrngebets nach den Reformatoren       40
  6. Die Anrufung                                                               40
  7. Die Bitten des Herrngebets                                          47
  8. Die drei ersten Bitten                                               55
  9. Die drei letzten Bitten                                              76
  10. Der Lobpreis — die Doxologie                                   112

Vorbemerkungen

Ehe wir uns dem Thema selbst zuwen­den — dem Gebet nach den Katechismen der Reformation — halten wir es für nützlich, einige Beobachtungen darzu­stellen, die sich bei diesen Texten auf­gedrängt haben.

1. Die Reformatoren der Kirche haben gebetet. Die Reformation stellt sich uns als ein großes Zusammenspiel dar: als eine Arbeit von Studien, Gedanken, Pre­digten, Diskussionen, Kämpfen und Organisationen. Aber sie war mehr als das alles. Nach allem was wir wissen, war sie auch ein Akt beständigen Ge­bets, eine Anrufung und — fügen wir noch hinzu — eine Tätigkeit der Men­schen, bestimmter Menschen, und gleich­zeitig eine Tat der Erhörung von Seiten Gottes.

Wir finden in Luthers Großem Katechis­mus einen bemerkenswerten Abschnitt. Daraus seien einige Sätze zitiert:

„Das sollen wir wissen, daß all unser Schirm und Schutz allein im Beten besteht. Denn wir sind gegenüber dem Teufel samt seiner Macht und seinem An­hang viel zu schwach. Darum müssen wir zu den Waffen greifen, mit denen die Christen gerüstet sein sollen, um den Kampf gegen den Teufel zu bestehen. Denn was, meinst du, hat bisher so Großes ausgerichtet und hat unserer Feinde Planen und Vorhaben gewehret oder gedämpfet, wodurch der Teufel uns samt dem Evangelium zu unterdrücken gedacht hat, wenn nicht etlicher frommer Leute Gebet als eine eiserne Mauer auf unserer Seite dazwischengekommen wäre? Unsere Feinde können ihren Spott haben über uns. Wir aber wollen den­noch ihnen und dem Teufel gegenüber allein durch das Gebet Manns genug sein, wenn wir nur fleißig anhalten und nicht laß werden. Denn wir wissen, wo irgendein frommer Christ bittet: ‚Lie­ber Vater, laß doch Deinen Willen ge­schehen‘, so antwortet ihm Gott: Ja, liebes Kind, so soll es sein und gesche­hen, dem Teufel und aller Welt zum Trotz.‘“

Es gibt Geheimnisse in den Ereignissen des 16. Jahrhunderts. Aber wir berüh­ren hier einen besonders wichtigen Punkt. Vielleicht sind die Fehler und Schwächen, die wir an anderen Augen­blicken in der Geschichte sehen, der Tatsache zuzuschreiben, daß man nicht mehr wußte, was solche Worte besagen wollten, wie wir sie eben aus dem Mund Luthers vernommen haben.

2. Die Reformatoren waren sich einig über die Wichtigkeit und Bedeutung des Gebetes. Wenn man die Texte der ver­schiedenen Katechismen liest und ver­gleicht, dann unterscheidet man ziemlich deutlich vorherrschende Hauptanliegen, wie sie für Luther, für Calvin und für die Verfasser des Heidelberger Katechis­mus eigentümlich sind.

Aber es wäre schwierig, ja unmöglich, Widersprüche zu entdecken, die den Glauben berühren. Einer von ihnen legt zum Beispiel besonders darauf Gewicht, daß das Beten ein Gehorchen gegenüber einem Gebot Gottes ist: man muß beten, weil Gott es so will. Man möchte wohl erwarten, es sei Calvin, der so spricht. Nun ist es aber just Luther, der diese strenge, fast militärische Vorstellung hat: Gott befiehlt und man muß gehorchen. Ein anderer legt auf die Tatsache Ge­wicht, daß das Gebet auf die Fürsprache Jesu Christi bei seinem himmlischen Vater gegründet ist. Man möchte erwar­ten, das sei Luther, und nun ist es Calvin, der so spricht.

Calvin betont auch die Notwendigkeit, sich allein an Gott zu wenden und nicht an die Heiligen oder die Engel. Wir er­kennen den Reformator von Genf auch noch wieder, wenn er von der Rolle des Heiligen Geistes im Gebet spricht. Ande­rerseits ist es interessant hervorzuheben, daß das ins Auge gefaßte Gebet als ein Akt der Dankbarkeit im Heidelberger Katechismus erwähnt wird.

Notieren wir auch noch, daß das Beispiel und die Wirklichkeit des Gebets in allen diesen Texten übereinstimmen. Man müßte das in den Diskussionen zwischen Lutheranern und Calvinisten, die noch heute in Deutschland weitergehen, be­denken. Da die Reformatoren sich einig waren in dem, was das Gebet betrifft, waren sie über den Grund der Dinge im Einklang. Und wenn man gemeinsam beten kann, müßte man auch gemeinsam zum Abendmahl gehen können, denn die Unterschiede der Lehrmeinungen kön­nen dann nur zweitrangige Unterschei­dungen sein.

3. Was man in diesen Texten nicht fin­det. Es ist der Mühe wert, das zu unter­streichen: diese Texte erwähnen keiner­lei Unterscheidung zwischen dem persön­lichen Gebet und dem gemeinschaftlichen Gebet in der Versammlung. Für die Ver­fasser der verschiedenen Katechismen ist die Sache sehr einfach: sie sehen wohl die Kirche, das „Wir“, das heißt die Glieder der Gemeinschaft, die ein Gan­zes bildet. Aber sie unterscheiden auch die Personen, die dieses Ganze aus­machen. Man kann sich nicht die Frage stellen, ob es die Christen sind, die beten, oder wohl eher die Kirche. Diese Alternative gibt es nicht; denn es sind die Christen, das heißt die Kirche; es ist die Kirche, also die Christen. Es kann da keinen Widerspruch zwischen den beiden geben.

Vielleicht ist dies das Zeichen einer Krankheit in der Kirche, wenn Fragen wie diese auf tauchen können: Wie soll ich in meinem Kämmerlein für meine geistlichen Bedürfnisse beten? Und die Kirche ihrerseits, wie soll sie beten? Und man fängt an, ein Sonderinteresse an dem Gebet in der Kirche, an der „litur­gischen Frage“ zu hegen! Ist da nicht ein Anzeichen von Krankheit?

Für die Reformatoren gibt es keine „liturgische Frage“; man betet in der Kirche und man betet im Haus. Ihre Hauptbeschäftigung ist nicht, zwischen dem privaten Gebet und dem gemein­schaftlichen Gebet eine Unterscheidung zu machen. Was sie interessiert, ist die Notwendigkeit, zu beten und recht zu beten. Das möchte vielleicht ein Wink zur Zurückhaltung sein. Sobald man zweitrangige Dinge zu sehr betont, ist dies das Zeichen einer gewissen geist­lichen Schwäche.

4. Eine andere Frage, die in diesen Tex­ten beiseite gelassen wird: Soll man „aus dem Herzen“ oder nach einem For­mular beten? Weder Luther noch Calvin haben auf diese Frage achtgegeben, die so viele Zeitgenossen so stark beschäf­tigt. Sie haben die Tatsache betont: es muß sein, es ist gut und notwendig, daß das Herz des Menschen betet. Sie haben darauf gedrungen, daß das Gebet auf­richtig sei, im Gegensatz zu einem Ge­plapper der Lippen. Sie wußten, was das freie Gebet war; aber sie wußten auch, daß das wahre Gebet nicht eine Ange­legenheit der Phantasie sein kann, es muß zuchtvoll sein.

Jesus Christus hat nicht nur gesagt, daß wir beten sollen; er hat uns im Vater­unser auch noch gezeigt, wie man beten soll. Man täte gut daran, sich an diese Regel zu halten. Es muß dabei Inbrunst im Gebet sein, aber diese Inbrunst kann für unseren Geist kein Vorwand sein, um freiweg umherzuschweifen. Die freien Gebete, die Calvin am Schluß seiner Pre­digten sprach, sind bemerkenswert durch ihre majestätische Einförmigkeit. Er er­laubte sich keine ungeordneten Ergüsse. Es sind immer dieselben Grundgedanken, die wiederkehren: Anbetung der Maje­stät Gottes und des Heiligen Geistes; aber es sind keine abgestempelten, ver­brauchten Redensarten.

Die Reformatoren haben das Beten nicht leicht genommen, und ich weiß nicht, ob sie gerne von einem Geschenk des Ge­bets gesprochen hätten. Sie sagen: Betet, und betet gut! Das ist’s, was zählt. Seid zufrieden, im Vaterunser ein Muster von Gebet zu haben, aber lasset euer Gebet in der Freiheit des Herzens geschehen!

5. Die Reformatoren sprechen nicht von einem Unterschied zwischen dem expli­ziten Gebet (das sich nach außen wen­det, zu einer bestimmten Stunde ge­schieht und gewisse Worte ausspricht) und dem impliziten Gebet (das sich nicht in Worten ausdrückt, sondern in Gefüh­len und einer fortdauernden Haltung des Herzens, des Gewissens, des Gedan­kens).

Das „Betet ohne Unterlaß“ von 1. Thess. 5,17 wird in keinem Katechis­mus jener Zeit zitiert. Was diese Ver­fasser vor allem beschäftigt, scheint wohl das explizite (das mit ausdrücklichen Worten gesprochene) Gebet zu sein. Je­doch sagt Calvin, daß die Sprache dabei nicht immer notwendig sei. Ganz allgemein kann man so viel sagen: die Erklä­rungen, die die Reformatoren geben, die Aussagen in ihren Werken, Predigten und Taten zeigen uns, daß für sie das Gebet gleichzeitig Wort, Gedanke und Leben ist.

I. Das Gebet

Wir wollen das Thema unter drei Ge­sichtspunkten ins Auge fassen: zuerst das Problem des Gebets; dann das Gebet als ein Geschenk Gottes; endlich das Gebet als eine Tat des Menschen.

1. Das Problem des Gebets.

Welcher Platz wird in diesen Katechis­men dem Gebet angewiesen? Wenn wir sie durchblättern, bemerken wir, daß Luther zuerst die Gebote behandelt hat, dann das Credo, das heißt die Darle­gung des Glaubens. Calvin seinerseits hat mit dem Credo (mit dem Glaubens­bekenntnis) begonnen, dann kommen die Gebote. Er spricht also zuerst vom Glauben, dann vom Gehorsam.

Wir sind also hier, wir Christen, als Glaubende und Gehorchende betrach­tet, und als solche sind wir einem neuen Problem gegenübergestellt, näm­lich dem des Gebets. Ist es wirklich ein neues Problem? Jenseits von Glaube und Gehorsam? Es scheint wohl so. Calvin sagt, im Gebet handle es sich um unser Leben und um unsere Beziehung zu den Ansprüchen dieser Welt. Die Frage ist folgende: kann ich, der ich ein Christ bin, wahrhaftig nach dem Wort des Evangeliums und des Gesetzes, nach mei­nem Glauben und im Gehorsam leben? Kann ich so mitten in den Bedürfnissen meiner Existenz leben? — Ja, es ist mög­lich, in der Heiligkeit des Gehorsams zu leben, gemäß dem Evangelium, das uns zum Leben gegeben ist und das wir leben müssen. Dazu müssen wir hören, was uns über das Gebet gesagt ist und Gott selber bitten, daß er uns zu Hilfe komme, daß er uns unterweise, daß er uns die Möglichkeit gebe, auf diesem Weg zu gehen. Diese Erforschung muß geschehen, auf daß wir leben können. Diese Erforschung — das ist das Gebet.

In Luthers Katechismus wird diese Lage des Menschen im Gegenüber von Glaube und Gehorsam näher geprüft. Was soll man sagen, was tun angesichts der Tat­sache, daß niemand vollkommen dem Ge­setz gehorcht, während doch das Gesetz einen vollkommenen Gehorsam fordert und jeder, der es nicht vollkommen er­füllt, es überhaupt nicht erfüllt? Trotz­dem sind wir Glaubende, das heißt Leute, die einen Anfang von Glauben haben. Der Glaube ist tatsächlich nicht etwas, das man in der Tasche hat, das man als Eigentum besitzt. Gott sagt mir: Setze dein Vertrauen auf mich, glaube an mich! Und ich gehe vorwärts, ich glaube; aber indem ich vorwärtsschreite, sage ich: Hilf meinem Unglauben! Und das Leben ist da vor uns mit seinen Schwierigkei­ten und seinen Anforderungen; und das Gesetz ist auch da, das den Gehorsam verlangt, trotz unseren Schwächen und trotz den Hindernissen, die sich vor uns auftürmen. Und ich gehe vorwärts mit einem Glauben, der nur ein armseliger Anfang ist. Und es ist von mir verlangt, vorwärtszugehen, vollkommen gehor­sam zu werden und den Weg des Glau­bens fortzusetzen nach diesem ersten Schritt, den ich schon getan habe.

Auf der einen Seite gibt es unser inneres Leben, schwache und böse Menschen, auf der anderen Seite ist unser äuße­res Leben in dieser Welt mit all seinen Rätseln und Schwierigkeiten. Es gibt auch das Urteil Gottes, das uns trifft und das uns jeden Augenblick sagt: Dies ge­nügt nicht. Und da komme ich vielleicht dazu, mich zu fragen: Bist du im Grunde eigentlich ein Christ? Was bedeuten vor deinem kleinen Glauben und deinem kleinen Gehorsam für dich diese Worte: „Ich glaube, ich gehorche“? Der Abgrund ist ungeheuer; alles stellt uns in Frage, selbst wenn wir glauben und gehorchen so gut wir eben können. Beten in dieser Lage (und das ist die Lage eines jeden Christen) bedeutet: zu Gott gehen, ihn bitten, daß er uns gebe, was uns fehlt, die Möglichkeit, die Kraft, den Mut, die Heiterkeit und die Klugheit; daß er uns gebe, dem Gesetz zu gehorchen, die Ge­bote zu erfüllen. Und dann, daß er uns gebe, fortzufahren im Glauben, noch­mals zu glauben und daß er unseren Glauben erneuere.

Eine solche Bitte kann nur an Gott ge­richtet werden. Calvin sagt: Es handelt sich hier um eine Ehre, die wir seiner Gottheit schuldig sind; eine Ehre, die wir dem schulden, der sich uns durch sein Wort geoffenbart hat (Heidelberger Katechismus). Denn es ist das Wort Got­tes, das uns in dieser Lage festhält, in der das Gebet eine Notwendigkeit wird.

Beten heißt, sich an den wenden, der schon im Evangelium und im Gesetz zu uns gesprochen hat. Ihm gegenüber sind wir so dran, daß wir uns geplagt finden von der Unvollkommenheit unseres Ge­horsams, von der Unbeständigkeit unse­res Glaubens. Seinetwegen ist’s, daß wir in der Not sind. Gott allein ist imstande, hier Abhilfe zu schaffen. Wir beten, um ihn zu bitten, er möge es tun.

Calvin hebt hervor, daß wir nicht allein in dieser schwierigen Lage sind. Es gibt christliche Brüder und Schwestern. Wir können auch ihre Weisungen und Er­mutigungen bekommen. Aber was die Menschen in dem Elend unserer Situation beitragen können, ist nur ein Dienst, nur eine Austeilung der Güter Gottes. Gott selbst erweist ihnen diese Ehre, daß er sie dazu benützt, um uns seine Güter mitzuteilen, und durch das macht er uns zu ihren Schuldnern (denen wir dann verpflichtet sind). Das Gebet kann uns also in keinem Fall von den Menschen entfernen; es kann uns nur vereinigen, weil es sich da um eine Frage handelt, die uns alle angeht.

Vor dem Beten suche ich also zuerst die Gesellschaft anderer Menschen. Ich weiß, daß ihr alle dieselben Schwierig­keiten kennet wie ich. Beraten wir also einander und geben einander, was wir uns geben können! Trotzdem können wir unser Vertrauen nicht auf das Ge­schöpf setzen. Was wir brauchen, kann nur sein, daß es Menschen gibt, die fähig sind, uns etwas davon zu sagen, uns ge­wisse Winke zu geben. Aber das Ge­schenk selbst kann nur von Gott kom­men. Wir können nicht zu den Menschen beten. Zu den heiligen so wenig wie zu den anderen.

Im 16. Jahrhundert war es wichtig zu sagen, daß die Heiligen der Kirche, die Verstorbenen, nicht die Möglichkeit haben, uns zu helfen. Indessen könnte man vielleicht ein Fragezeichen hinter eine so kategorische Behauptung setzen. Ich bin nicht so sicher, ob die Heiligen der Kirche uns nicht helfen können, die Reformatoren zum Beispiel und die Hei­ligen, die auf Erden sind. Wir leben in Gemeinschaft mit der Kirche der Ver­gangenheit und wir bekommen davon eine Hilfe. Aber das ist sicher: weder die lebenden, noch die schon gestorbenen Menschen können das für uns sein, was nur Gott für uns ist: eine Hilfe in dieser großen Not, die unsere Not ist angesichts des Evangeliums und des Gesetzes. Man kann dasselbe sagen im Blick auf die Engel, die uns helfen können, die man aber nicht anrufen kann.

So ließ sich für die Reformatoren alles auf diese Frage zurückführen: Wie kann ich Gott begegnen? Ich habe sein Wort gehört, ich will es aufrichtig hören, und da bin ich mit meiner Unzulänglichkeit. Sie übersahen nicht, daß es noch andere Schwierigkeiten gibt als diese eine, aber sie wußten, daß sie alle eingeschlossen sind in folgender Wirklichkeit: Ich stehe vor Gott mit meinen Wünschen, meinen Gedanken, meinem Elend; ich muß mit ihm leben, denn leben will nichts ande­res sagen, als mit Gott leben. Da bin ich hineingestellt zwischen die großen oder kleinen Forderungen des Lebens und die Notwendigkeit zu beten. Die Reforma­toren sagen uns: das erste ist — beten.

2. Das Gebet als Geschenk Gottes.

Das Gebet ist eine Gnade, ein Angebot Gottes.

Wir wollen, den Reformatoren folgend, nicht mit einer Beschreibung dessen be­ginnen, was der Mensch tut, wenn er betet. Er tut natürlich etwas, er handelt; aber um dieses Handeln zu verstehen, muß man mit dem Ende beginnen, das heißt, zuerst von der Erhörung des Ge­bets sprechen. Man kann sich darüber wundern, denn nach der Logik müßte man sich zuerst fragen: was heißt beten? Und dann erst: werden wir erhört, wenn wir beten? Nun aber ist für die Reformatoren der springende Punkt und die Grundlage von allem diese Gewiß­heit: Gott erhört das Gebet. Das ist das erste, was man wissen muß. Calvin sagt es ausdrücklich: Wir erlangen, was wir verlangen. Unser Gebet ist auf diese Zu­sicherung gegründet.

Treten wir dem Thema näher, indem wir von der Tatsache ausgehen, daß Gott er­hört. Er ist nicht stumm, er hört; mehr als das, er handelt. Er handelt nicht auf dieselbe Weise, ob wir beten oder ob wir nicht beten. Es gibt einen Einfluß des Gebets auf das Handeln, auf die Existenz Gottes. Das ist es, was das Wort „Erhörung“ bedeutet.

In der Frage 129 des Heidelberger Kate­chismus heißt es, die Erhörung unserer Gebete sei viel sicherer als das Fühlen von den Dingen, die wir erbitten. Es scheint, als gebe es nichts Gewisseres als das Fühlen dessen, was wir erbitten; aber der Katechismus sagt, die Erhörung von Seiten Gottes sei noch viel gewisser. Es ist nötig, daß wir auch diese innere Zusicherung haben. Vielleicht zweifeln wir an der Aufrichtigkeit unseres Gebets und an dem Wert unseres Ansuchens? Aber eines steht außer Zweifel, das ist die Erhörung, die Gott gibt. Unsere Ge­bete sind schwach und arm. Indessen das was zählt, ist nicht, daß unsere Gebete stark sind, sondern, daß Gott sie ver­steht. Deshalb beten wir.

Wie erhört uns Gott? Wir müssen uns hier an den Artikel aus dem Katechis­mus Calvins über Jesus Christus erin­nern. Man kann die Erhörung Gottes nicht besser verstehen, als wenn man diesem Gedanken folgt: Jesus Christus ist unser Bruder, wir gehören ihm, er ist das Haupt des Leibes, dessen Glieder wir sind, und er ist gleichzeitig der Sohn Gottes, Gott selbst. Er ist es, der uns als Mittler, als Anwalt vor Gott gegeben ist. Wir sind nicht getrennt von Gott und — das ist noch wichtiger — Gott ist nicht getrennt von uns. Es mag sein, daß wir ohne Gott sind (daß wir Gott-los) sind, aber Gott ist nicht ohne die Men­schen. Das muß man wissen und das ist wichtig. Angesichts von Gott-losen gibt es Gott, der niemals ohne die Menschen ist, weil in Gott der Mensch, die Men­schen, wir alle gegenwärtig sind. Wenn Gott den Menschen kennt, wenn er ihn sieht und richtet, dann geschieht das immer in der Person Jesu Christi, seinem eigenen Sohn, der gehorsam war und der der Gegenstand seiner Freude ist. Durch ihn ist die Menschheit gegenwärtig in Gott. Gott betrachtet Christus und in ihm betrachtet er uns. Wir haben einen Vertreter vor Gott.

Calvin sagt sogar, daß wir durch seinen Mund beten. Jesus Christus spricht durch das, was er gewesen ist, durch das, was er gelitten hat im Gehorsam und in der Treue gegenüber seinem Vater. Und wir, wir bitten gleichsam durch seinen Mund, sofern er uns Zutritt und Gehör gewährt und für uns einsteht. Also ist unser Ge­bet im Grunde schon getan, noch ehe wir es formulieren. Wenn wir beten, können wir dieses Gebet nur wieder aufnehmen, das in der Person Jesu Christi schon ausgesprochen ist und das immer wiederholt, weil Gott nicht ohne den Menschen ist.

Gott ist der Vater Jesu Christi, und dieser Mensch, Jesus Christus, hat gebe­tet und betet noch. Solches ist die Be­gründung unseres Gebetes in Jesus Christus. Das heißt, daß Gott selbst sich zum Bürgen unserer Bitte gemacht hat, daß er selbst der sein wollte, der unsere Gebete erhört, weil alle unsere Gebete in Jesus Christus zusammengefaßt sind. Gott kann nicht die Gebete nicht erhören, weil es Jesus Christus ist, der sie betet.

Die Tatsache, daß Gott den Bitten des Menschen nachgibt, daß er seine Absicht ändert und dem Gebet des Menschen Folge leistet, bedeutet keine Schwäche. Er selbst in seiner Majestät, in dem Glanze seiner Macht, hat es so gewollt und will es so. Er will Gott sein, der Mensch geworden ist in Jesus Christus. Das ist seine Ehre, seine Allmacht. Er verkleinert sich also nicht, indem er unserem Gebet nachgibt; im Gegenteil, so gerade zeigt er seine Größe.

Wenn Gott selbst mit dem Menschen in Verbindung kommen, ihm nahe sein will wie ein Vater seinem Kinde, dann gibt es da keine Schwächung seiner Macht. Gott kann nicht größer sein als er es ist in Jesus Christus. Wenn Gott unser Ge­bet erhört, ist es also nicht nur, weil er uns hört und weil er unseren Glauben vermehrt (in dieser Art hat man manch­mal die Wirksamkeit des Gebetes er­klärt), sondern weil er Gott ist, Vater, Sohn und Heiliger Geist, der Gott, des­sen Wort Fleisch geworden ist.

Kommen wir jetzt auf Luther zurück, der uns einlädt, zu beten, ja der es uns verschreibt. Nicht beten hieße, sich keine Rechenschaft darüber geben, daß wir vor Gott stehen. Das hieße verkennen, was er ist. Eine solche Haltung würde uns unfähig machen, die Tatsache zu ergrei­fen, daß Gott uns in Jesus Christus be­gegnet. Wenn wir nun aber dieses Ge­heimnis verwirklichen, dann müssen wir beten. Jesus Christus ist da, er, der Sohn Gottes, und wir, die wir ihm gehören, wir, die keine andere Möglichkeit haben, als ihm zu folgen und durch seinen Mund zu sprechen, wir sind mit ihm. Der gute Weg ist gefunden, und jetzt handelt es sich darum, darauf zu gehen. Auf dieser Bahn sind Evangelium und Gesetz, die Verheißung und die Gebote Gottes ein und dasselbe. Gott eröffnet uns diesen Weg, er gebietet uns, zu beten. So ist es nicht möglich, zu sagen: Ich werde beten oder ich werde nicht beten, wie wenn es sich da um eine Tat nach Belieben han­delte. Christ sein und Beten ist ein und dasselbe, eine Sache, die nicht unserer Laune ausgeliefert werden kann. Das ist ein Lebensbedürfnis, eine Art notwendi­ger Atmung, um zu leben.

Der Heidelberger Katechismus bestimmt noch genauer. Das Gebet — so versichert er — ist ganz einfach der erste Akt von Anerkennung im Blick auf Gott. Das Wort „Anerkennung“ ist deutlicher als das Wort „Dankbarkeit“, denn es be­deutet: handeln entsprechend dem, was wir kennen (wieder-er-kennen). Jeder Mensch, der Gott kennt, muß ihm gegenüber wieder erkenntlich sein. Er erkennt wieder, was Gott ist und was er für ihn getan hat in Jesus Christus. Er tritt ein in die Stellung, die uns in Chri­stus gegeben ist; und in dieser Stellung betet der Mensch.

Luther fügt sogar hinzu, daß Gott in Zorn geriete, wenn wir nicht beten, denn das hieße, das Geschenk, das er uns macht, verachten. Da doch Er uns gehei­ßen hat, zu beten, wie dürften wir ver­säumen, es zu tun? Die Reformatoren erinnern uns so daran, daß man nicht betet, wann es einem paßt; daß viel­mehr das Gebet im Leben des Christen eine wesentliche, notwendige und selbst­verständliche Tat ist.

Übrigens läßt Gott, weil er unser Gott ist, unser Gebet aus seiner Gnade her­vorgehen. Wo es die Gnade Gottes gibt, da betet der Mensch. Gott sorgt für uns, denn wir wissen nicht zu beten, wie sich’s gebührt. Es ist der Geist Gottes, der uns anlockt, der uns fähig macht, zu beten, wie es sich gebührt. Wir sind nicht geschickt genug, um zu beurteilen, ob wir würdig oder fähig sind, zu beten, ob wir genügend Eifer haben, um es zu tun. Die Gnade in sich selber ist die Ant­wort auf diese Frage. Wenn wir durch die Gnade Gottes getröstet werden, dann beginnen wir zu beten, mit oder ohne Worte.

Gott zeigt uns auch einen Weg, um uns im Gebet in Pflicht zu nehmen. Das Gebet ist keine willkürliche Handlung, auch nicht blindlings ein Schritt ins Dunkle. Wenn wir beten, können wir nicht nach unserer Phantasie auf diesen oder jenen Weg, in das erste beste An­sinnen ausschweifen. Denn es ist Gott, der dem Menschen gebietet, ihm zu fol­gen und den Platz einzunehmen, der ihm gegeben ist. Dies ist eine durch Gott, nicht durch unsere Initiative geregelte Angelegenheit.

Wie soll man beten? Nicht zufällig hat Jesus im Vaterunser ein Muster gegeben, um die Menschen zu lehren, recht zu beten. Gott unterweist uns selbst, wie wir beten sollen, denn wir haben so viele Dinge zu erbitten! Und wir glauben, daß das, was wir wünschen, immer so wichtig ist! (Es ist übrigens nötig, daß wir das glauben.) Aber damit unser Tun ein wahres Gebet werde, müssen wir das An­gebot, das Gott uns macht, annehmen. Wir können nicht aus uns selber beten, und wenn wir Enttäuschungen im Gebet erleben, müssen wir annehmen, daß Gott uns den Weg des wahren Ge­bets zeigt. Er stellt uns also mit unse­ren Anliegen und Problemen auf einen bestimmten Weg, wo wir alles zu ihm bringen können; aber man muß sich auf diesen Weg einlassen. Diese Zucht ist für uns notwendig. Sollte sie fehlen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir ins Leere schreien, statt daß wir uns in dem Gebet befinden, das schon erhört ist.

Seien wir zufrieden, daß wir dieses Mu­ster des Vaterunsers besitzen, sagen die Reformatoren, damit wir, indem wir so beten, die Lehrzeit des wahren Gebets durchmachen können. Calvin erklärt mit Recht, daß wir auch für das Gebet nicht wie Fremdlinge handeln können, sondern daß wir als Bürger der Gottesstadt auch ihre Verfassung, ihre Ordnung und ihre Regeln anzunehmen verpflichtet sind. Nur unter dieser Bedingung gibt es Erhörung und Antwort auf die Probleme unseres Lebens.

Weil er unser Gott in Jesus Christus ist, treibt uns Gott selbst an, vor ihm eine Haltung anzunehmen, die auf den ersten Blick kühn und verwegen erscheint; er nötigt uns, ihm mit einer gewissen Kühnheit zu begegnen: „Du hast uns Versprechungen gemacht, Du hast uns geboten, zu beten; und hier bin ich, ich komme, nicht mit meinen frommen Ge­danken, oder weil ich gern bete (viel­leicht bete ich nicht gern) und ich sage das, was Du mich geheißen hast, zu sa­gen: Hilf mir in den Nöten meines Le­bens! Du mußt es, ich bin da“. Luther hat recht; die Stellung des betenden Men­schen verlangt gleichzeitig die größte Demut wie auch eine Haltung von Kühn­heit und Mannhaftigkeit. Es gibt eine Demut, die gut ist; sie besteht darin, in der Freiheit diesen Platz, den wir in Jesus gegenüber Gott haben, einzunehmen. Wenn wir unserer Sache sicher sind und wenn wir nicht auf Grund unserer guten Absichten zu Gott kommen, dann kommt diese Freiheit von selbst.

So ist der Wille Gottes zu unseren Gun­sten, sein Erbarmen in Jesus, ein entschei­dendes Element in der Frage, die uns beschäftigt. Der Heidelberger Katechismus versichert in Frage 117, „daß wir diesen festen Grund haben, daß Gott unser Ge­bet, ob wir auch dessen unwürdig sind, doch um unseres Herrn Jesu Christi wil­len gewißlich wolle erhören“.

3. Das Gebet als Tat des Menschen

Nach dem Vorhergehenden ist das Ge­bet der ganz einfache Akt, mit dem wir das göttliche Angebot annehmen und Gebrauch von ihm machen; ein Akt, in welchem wir diesem Befehl der majestäti­schen Gnade gehorchen, die mit dem Willen Gottes übereinstimmt. Der Gnade gehorchen, dankbar sein, bedeutet, daß das Gebet auch eine Tat des Menschen ist, der sich als Sünder kennt und der die Gnade Gottes herbeiruft. Er befindet sich dem Evangelium, dem Gesetz und der Schwäche seines Glaubens gegenüber, selbst wenn er es nicht bemerkt. Wir empfinden gleichzeitig eine gewisse Traurigkeit und eine gewisse Freude. Aber wir haben noch nicht verstanden, daß wir Sünder sind, daß wir den Ge­horsam nicht vollkommen verwirklichen. Wir wissen noch nicht, daß wir unter einem Schleier sind. Man muß ihn auf­decken. Wenn wir beten, wird uns unsere menschliche Beschaffenheit entschleiert, wissen wir, daß wir in dieser Not und in dieser Hoffnung sind. Gott ist’s, der uns in diese Lage bringt; aber zu gleicher Zeit kommt er uns zu Hilfe. Das Gebet ist so die Antwort des Menschen, wenn er seine Not versteht und wenn er weiß, daß ihm eine Hilfe kommt.

Es ist nicht erlaubt, im Gebet ein gutes Werk, das man tut, eine gute, fromme, anständige und schöne Sache zu sehen. Das Gebet kann für uns nicht ein Mittel sein, um etwas zu schaffen, um Gott und uns selbst ein Geschenk zu machen; wir sind in der Stellung eines Menschen, der nur empfangen kann, der verpflichtet ist, jetzt zu Gott zu sprechen, weil nie­mand sonst da ist, an den er sich wen­den kann. Luther hat gesagt: Wir müs­sen ganz arm sein, denn wir sind vor einer großen Leere und haben alles von Gott zu empfangen und zu lernen.

Sofern das Gebet eine Tat des Menschen ist, kann es nicht ein Geschwätz, nicht eine Reihe von Phrasen oder Gemurmel sein. Die Reformatoren haben auch dar­auf Gewicht gelegt. Sie hatten in der römischen Kirche viele Beispiele solcher Art von Gebet, die sie bekämpften. Die Sache ist einfach und wichtig auch für uns, die wir nicht römisch sind. Das Ge­bet muß ein Akt von Zuneigung sein; es ist nicht nur eine Angelegenheit der Lippen, denn Gott verlangt die Anhänglichkeit unseres Herzens. Wenn das Herz nicht dabei ist, wenn es nur eine Form­sache ist, die mehr oder weniger korrekt erfüllt wird, was ist es dann? Nichts! Alle Gebete, die nur allein mit den Lip­pen verrichtet werden, sind nicht nur überflüssig, sondern sie mißfallen Gott; sie sind nicht nur nutzlos, sondern sie sind eine Beleidigung Gottes. Zu diesem Thema ist es auch wichtig, mit Calvin zu bemerken, daß das Gebet in einer Sprache, die man nicht versteht, oder die die betende Versammlung nicht versteht, eine Verspottung Gottes ist, eine ent­artete Heuchelei, denn das Herz kann nicht dabei sein. Man muß in einer ver­ständlichen Sprache, die einen Sinn für uns hat, denken und sprechen.

Möge unser Gebet geschehen nicht nach unserem Belieben, weil es da sonst von unserer Seite nur unordentliche Wünsche ergäbe! Möge unser Gebet geschehen, in­dem es der Regel folgt, die der gegeben hat, der unsere Bedürfnisse besser kennt als wir selber! Er hat uns zuerst verord­net, daß wir uns ihm unterwerfen und so ihm unsere Bitten vorbringen. Um uns nach dieser Ordnung zu richten, müssen wir in unseren Gebeten all solche Fra­gen wie etwa ‚Hört uns Gott?‘ aus­schließen. Calvin ist über diesen Punkt sehr eindeutig: „Ein solches Gebet ist kein Gebet“. Es ist nicht erlaubt, zu zweifeln, denn das versteht sich von selbst, daß wir erhört werden. Schon vor dem Gebet muß man in der Haltung eines Menschen sein, der erhört ist.

Wir sind nicht frei, zu beten oder nicht, oder nur zu beten, wenn wir Lust haben, denn das Gebet ist keine Tat, die uns natürlich ist. Es ist eine Gnade, und wir können diese Gnade nur von dem Heili­gen Geist erwarten. Diese Gnade ist da, mit Gott und seinem Wort in Jesus Christus. Wenn wir zu dem allem Ja sa­gen, wenn wir empfangen, was Gott gibt, dann ist alles getan, alles geregelt, nicht als Wirkung unseres guten Willens, son­dern in der Freiheit, die wir haben, ihm zu gehorchen.

Vor allem dürfen wir uns nicht einbilden, der Mensch sei passiv, er befinde sich in einer Art von farniente, in einem Klub­sessel, und könne sagen: Der Heilige Geist wird für mich beten … Niemals! Der Mensch wird getrieben, zu beten. Er muß es tun. Beten — das ist eine Tat und zugleich ein demütiges Flehen zum Herrn, er wolle uns in die Verfassung bringen, die ihm angenehm ist. Das ist eine der Seiten des Problems von Gnade und Freiheit: Man wirkt, aber man weiß zur selben Zeit sehr wohl, daß es Gott ist, der unser Werk verwirklichen will; man ist in dieser menschlichen Freiheit, die durch die Frei­heit Gottes nicht zertreten wird; man läßt den Heiligen Geist walten, und dennoch schlafen während dieser Zeit unser Geist und unser Herz nicht. So be­schaffen ist das Gebet, sofern man es unter dem Blickwinkel einer Tat des Menschen betrachtet.

Unsere Beteiligung an dem Werke Gottes ist der Akt, der darin besteht, unsere Zu­stimmung zu diesem Werke zu geben. Es ist eine große Sache, zu predigen, zu glauben, unseren kleinen Gehorsam ge­genüber den Geboten Gottes zu ver­wirklichen. Aber in allen diesen Gestal­ten des Gehorsams und des Glaubens ist es das Gebet, das uns in Verbindung mit Gott bringt, das uns erlaubt, mit ihm zusammenzuarbeiten. Gott lädt uns ein, mit ihm zu leben. Und wir, wir ant­worten: „Ja, Vater, ich will mit Dir le­ben.“ Dann sagt er zu uns: „Bete! Rufe mich an! Ich höre dich, ich werde mit dir leben und regieren.“

Die Reformation ist nicht entstanden ohne diese Menschen, die Calvin und Luther und noch anders hießen. Gott arbeitete, indem er sie an seinem Werk teilneh­men ließ. Nicht durch den Glanz ihrer Tugenden, ihrer Weisheit, ihrer Frömmig­keit vollendete er sein Werk mit ihnen, sondern durch das in gleicher Weise de­mütige und kühne Gebet. Und wir sind eingeladen, an diesem ihrem Gebet teil­zunehmen in direkter Begegnung mit Gott und in der Gemeinschaft unter­einander. Solches Gebet ist zugleich Akt der Erniedrigung und des Sieges. Dieser Akt ist uns befohlen, indem uns die Freiheit gegeben ist, ihn zu vollziehen.

II. Erklärung des Herrngebets nach den Reformatoren

1. Die Anrufung

Wir sind eingeladen, zu beten. Das setzt all das voraus, was wir vorher über das Gebet im allgemeinen gesagt haben. Aber nun ist wichtig, daß wir ermahnt werden, zu beten: „Unser Vater in dem Himmel“. Es ist Jesus Christus, der uns einlädt, daß wir uns an Gott wenden und ihn unseren Vater nennen; Jesus Chri­stus, welcher der Sohn Gottes ist, der sich zu unserem Bruder gemacht hat und der uns zu seinen Brüdern macht. Er nimmt uns mit sich, um uns mit sich zu verbinden, um uns an seine Seite zu stellen, damit wir leben und handeln als seine Brüder und als Glieder seines Lei­bes. Er sagt uns: Folget mir nach!

Das Vaterunser ist nicht eine Form von beliebiger Bitte, wobei es gleichgültig wäre, für wen. Das „Wir“ in dem „Unser Vater“, setzt einen Vater voraus, der das für uns auf eine ganz besondere Weise ist. Dieses „Wir“ ist geschaffen durch die Anordnung Jesu Christi, ihm zu folgen. Es schließt die Gemeinschaft des Menschen mit ein, der mit Jesus Christus betet, sein Dasein in der Bru­derschaft der Kinder Gottes. Jesus lädt ihn ein, erlaubt und befiehlt ihm, sich ihm anzuschließen, ganz besonders in sei­ner Fürsprache bei Gott, seinem Vater. Jesus Christus lädt uns ein, befiehlt uns, erlaubt uns, mit ihm zu Gott zu sprechen, mit ihm sein Gebet zu beten, uns ihm in dem Herrngebet anzuschließen, also Gott anzubeten, Gott zu bitten, ihn zu loben aus einem Munde, mit einer Seele, mit ihm, vereint mit ihm.

Das „Wir“ bedeutet weiter die Gemein­schaft des betenden Menschen mit all denen, die mit ihm sind und die — wie er — eingeladen sind, zu beten; mit denen, die dieselbe Einladung empfangen haben, denselben Befehl, dieselbe Erlaubnis, an der Seite Jesu Christi zu beten. Man betet „Unser Vater“ in der Gemeinschaft die­ser Versammlung, dieses Ordens, den wir „Kirche“ nennen (wenn wir diesen Ausdruck in dem ursprünglichen Sinn von ecclesia = Versammlung nehmen).

Aber indem wir ganz in der Gemein­schaft der Heiligen sind, in der ecclesia derer, die durch Jesus Christus versam­melt sind, sind wir auch in Gemeinschaft mit denen, die vielleicht noch nicht be­ten, für die aber Jesus Christus betet, weil er für die ganze Menschheit betet.

Die Menschheit ist der Gegenstand die­ser Fürbitte, und wir, wir treten in diese Gemeinschaft mit der ganzen Mensch­heit ein. Wenn die Christen beten, sind sie sozusagen die Stellvertreter all derer, die nicht beten; und in diesem Sinn sind sie mit ihnen auf dieselbe Weise ver­bunden, wie Jesus Christus sich mit dem sündigen Menschen, mit der verlorenen Menschheit solidarisch macht.

Unser Vater, der Du uns erzeugt und zuvor erschaffen hast, durch Dein Wort und Deinen Geist; Du, der Du unser Vater bist, weil Du unser Schöpfer bist, der Herr des Bundes, den Du mit den Menschen hast schließen wollen. Du, der Du in und mit unserer Erschaffung be­gonnen hast und der Du das Ziel unse­res Daseins bist.

Unser Vater, der Du Dich für unsere ganze, zeitliche und ewige Existenz verantwort­lich gemacht hast; Du, Gott Vater, des­sen Herrlichkeit unser Erbe ist und bei dem wir freien Zutritt haben, wie Kin­der bei ihrem Vater.

Unser Vater, der Du von Natur ganz einfach bereit bist, uns anzuhören, uns zu erhören … und wir, wir vergessen es immer … Gott kann verleugnet werden, aber er kann uns nicht vergessen noch verleugnen; indem Er Vater ist, ist Er treu von Natur. Er, dessen Überlegenheit und dessen guter Wille gegen uns un­wandelbar sind.

Siehe, das ist Gott für uns. Aber wir müssen wohl sagen, daß wir keinerlei Recht haben, ihn so anzurufen, seine Kinder zu sein, ihn auf diese Weise an­zureden. Er ist unser Vater, und wir sind seine Kinder kraft der natürlichen Be­ziehung, die zwischen ihm und Jesus Christus besteht, kraft dieser Vaterschaft und dieser Sohnschaft, die in der Person Jesu Christi wirklich war; und für uns ist sie wirklich in ihm. Wir sind seine Kinder, er ist unser Vater, kraft dieser neuen Geburt, die an Weihnachten, Kar­freitag und Ostern verwirklicht wurde, verwirklicht zur Zeit unserer Taufe. Eine neue Geburt, das heißt, ein wirklich neues Dasein, ein anderes Leben als das Leben, das aus unseren menschlichen Möglich­keiten und unseren Verdiensten ent­stehen kann.

Gott, unser Vater, das bedeutet: unser Vater des Erbarmens. Wir, wir sind ver­lorene Söhne und werden es immer sein, verlorene Söhne, die sich auf kein ande­res Recht berufen können als auf das, welches uns in der Person Jesu Christi gegeben ist.

Das bedeutet keine Verminderung des­sen, was über die göttliche Vaterschaft gesagt worden ist. Die Klarheit und Gewißheit, ja selbst die Größe und die Majestät unseres Vaters erscheinen in der Tatsache, daß wir uns vor ihm ohne Vermögen, ohne Verdienste, ohne eige­nen Glauben, mit leeren Händen, vor­finden. Und trotzdem sind wir in Jesus Christus Gottes Kinder. Die Wirklich­keit dieser Kindschaft wäre nicht mehr sicher, wenn man dabei irgend etwas, das von uns käme, sei es was es sei, hinzufügen könnte. Die göttliche Wirk­lichkeit, sie allein, ist die Fülle der gan­zen Wirklichkeit.

Jesus Christus ist der Geber und der Bürge der göttlichen Vaterschaft und unserer Kindschaft; das ist der Grund, warum diese Vaterschaft und diese Kindschaft unvergleichlich höher sind als jede andere, als alles, was wir zwischen uns Vater, Sohn und Kinder nennen. Diese menschlichen Beziehungen sind nicht das Urbild, wobei denn die andere Beziehung Abbild oder Sinnbild wäre. Das Urbild, die wahre Vaterschaft und die wahre Kindschaft bestehen in diesen Bindungen, die Gott zwischen sich und uns geschaffen hat. Alles, was zwischen uns existiert, ist nur das Abbild dieser ursprünglichen Kindschaft. Wenn wir Gott unseren Vater nennen, verfallen wir nicht in den Symbolismus, son­dern dann sind wir in der vollen Wirklichkeit dieser zwei Worte: Vater und Sohn.

Der Du bist im Himmel. Der Himmel! Er ist ein Teil der geschaffenen Welt, der Teil, der oben ist, der unnahbare und unbegreifliche Teil der Schöpfung. Das heißt: Gott, der höher ist als der Him­mel, der jenseits des Himmels ist und der auch der Vater Jesu Christi ist, der ist’s, der die Welt in Jesus Christus lieb hat. Wenn man von Gott sagt: er ist unbegrenzt, unbegreiflich, frei, unum­schränkt, ewig, allmächtig, überlegen, so beziehen diese Ausdrücke ihren eigent­lichen Sinn nicht aus einer Idee, einem abstrakten Begriff, wie wenn man ihn verständlich machen wollte als das Gegenteil dessen, was begrenzt, begreif­lich und zeitlich ist. Das alles bekommt erst seinen Sinn von der Güte des himm­lischen Vaters, der sich zu unserem Va­ter in Jesus Christus gemacht hat. Das ist mit seiner „Transzendenz“, seiner „Existenz jenseits des Himmels“ gemeint. Keine Philosophie, weder die von Ari­stoteles noch die von Kant oder Plato, kann die Transzendenz Gottes erreichen, denn die Philosophen kommen nur bis zu den Grenzen des Unbegreiflichen, dessen, was höher ist als wir. Die ganze Philosophie dreht sich um den Himmel; das Evangelium allein spricht uns von dem, der im Himmel, ja jenseits des Him­mels ist. Kein Spiritualist, Idealist oder Existenzialist kann uns zu der Wirklich­keit Gottes führen, zu seiner Transzen­denz, die eine andere Sache ist als Geist und Unsichtbarkeit. Seine Transzendenz wird erwiesen, enthüllt, verwirklicht in Jesus Christus, in der Tiefe seines all­mächtigen Erbarmens.

Er ist im Himmel, auf seinem Throne, das ist seine höchste Existenz. Da ist er unseren Wünschen, unseren gro­ßen und kleinen Sorgen gegenüber, gegenüber unseren Idealen und Prinzipien, unserer Klugheit und unserer Dummheit; gegenüber unserem Humanismus und unserem „Animalismus“ (dem Mensch­lichen und dem Tierischen in uns). Da ist der Richter, der König, der über uns verfügt, der regiert, zuweilen gegen uns, in jedem Falle immer über uns. Er ist immer derselbe und dennoch niemals derselbe, weil immer jeden Morgen neu. Er ist uns in jeder Minute gegenwärtig; und er ist nur ewig, indem er uns gegen­wärtig ist. Er ist die freie Gnade und die gnädige Freiheit, die Person, der alles unterworfen, alles anvertraut ist, in deren Händen alles dienen kann und muß, gedient hat und dienen wird. Seht, das ist in einigen Worten der, an den wir uns wenden, nicht aus unserem eige­nen Antrieb, sondern weil wir ein­geladen und aufgerufen sind, es zu tun. Wir haben die Freiheit, uns an ihn zu wenden. Diese Freiheit wird uns ge­schenkt; sie gehört nicht einfach zu unse­rer Natur. Es ist die Freiheit der Kinder Gottes, die Freiheit des Wortes und des Geistes.

2. Die Bitten des Herrngebets

Versuchen wir zunächst, sie in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Bemerken wir, daß die Einteilung dieser Bitten in einem gewissen Sinn der der Zehn Gebote ent­spricht. Es besteht ein sehr deutlicher Unterschied zwischen den drei ersten und den drei letzten Bitten. Die drei ersten Bitten stimmen mit den vier ersten Geboten zusammen und die drei letzten Bitten mit den Geboten vom fünften bis zehnten.

In den drei ersten Bitten handelt es sich um die Ehre Gottes; damit beginnt das Vaterunser. So ist es uns erlaubt, ja sogar geboten, uns für die Sache Gottes zu interessieren, zu beten, daß diese Sache Gottes — sein Name, sein Reich, sein Wille — siegreich werde, daß sie zu ihrer Vollendung gelange. In Jesus Christus hat Gott sich als ein Gott geoffenbart, der, obwohl er vollkommen frei und ganz sich selber genug ist, dennoch nicht allein sein will. Er will nicht ohne den Menschen handeln, existieren, leben, sorgen, arbeiten, kämpfen, siegen, regie­ren und triumphieren. Er will also nicht, daß seine Sache allein die seinige sei; er will, daß sie auch die Sache des Men­schen werde.

Gibt es wahrhaftig Atheisten, Menschen ohne Gott? Selbst wenn es Menschen ohne Gott gibt, so gibt es doch auf keinen Fall im christlichen Sinn Gott ohne Menschen. Es ist sehr wichtig, das zu verstehen. Gott war mit uns, er ist mit uns: Immanuel! Er erlaubt uns, er gebietet uns, für das Gelingen seiner Sache zu beten, wie wir in diesen drei ersten Bitten zu tun eingeladen sind. Er lädt uns ein, an seinem Werk teilzuneh­men, an seinem Regiment über Kirche und Welt. Wenn wir beten: ‚Dein Name … Dein Reich … Dein Wille …‘, stellen wir uns an die Seite Gottes, nicht weniger als das. Gott lädt uns ein, daß wir uns seinen Absichten und seiner Tätigkeit anschließen. Und merken wir uns, daß diese Einladung am Anfang kommt und daß sie am Schluß in der Doxologie wiederaufgenommen wird.

Von diesen drei ersten Bitten hängen die Freiheit, die Freude, die Munterkeit und die Gewißheit der anderen Gesuche ab. Alles, was wir vorbringen, setzt voraus, daß wir bitten, an der Sache Gottes An­teil zu bekommen. Wer immer sich des­sen weigern wollte und kein Interesse an der Sache Gottes hätte, könnte auch weder um die Vergebung seiner Sünden noch um das tägliche Brot beten; er ver­stünde nicht, worum es sich handelt. Wir können nur mit Gott leben, wenn wir einverstanden sind mit seinen Absichten, mit seiner Sache, die die unsrige und alle anderen mit einschließt. Sonst wäre es so, wie wenn ich mich aufrecht in der Luft halten wollte. Man braucht den Erdboden, um zu gehen. Man geht im Gebet auf dem Boden dieser drei ersten Bitten. Es ist nicht verwunderlich, daß so viele Gebete ins Leere verhallen, und daß sie weder angehört noch erhört werden. Dennoch wäre alles ganz ein­fach, wenn man verstehen wollte, daß man mit diesem Anfang anfangen muß und daß man andernfalls nicht beten kann.

Die drei letzten Bitten betreffen uns direkt und sehr real. Es handelt sich da um unseren Wohlstand, unser Wohler­gehen, unser leibliches sowie unser geist­liches und himmlisches Heil. Weil Gott in Jesus Christus unsere Sache — die großen und kleinen Probleme unseres Lebens — mit seiner Sache vereinigt hat, ist es uns erlaubt, ja sogar geboten, jetzt ganz einfach zu unseren Gunsten einen Anruf zu tun. Und hier tritt unser ganzes Leben ins Spiel. Es ist nicht nur eine Erlaubnis, sondern ein Auftrag, bei Gott unser ganzes Gepäck niederzulegen und ihm anzuvertrauen; denn man kommt mit einem sehr umfangreichen Gepäck an, wenn man in dieser Welt reist. Wir können es Gott anvertrauen, dieses zeit­liche, stoffliche, weltliche, ewige, christ­liche, kirchliche und theologische Ge­päck.

In Jesus Christus wird das menschliche Wesen offenbar. In ihm wird es das Ge­schöpf par excellence (katexochén), recht eigentlich zu dem Geschöpf, das nicht allein sein, existieren und handeln kann. Es kann nicht leben ohne Gott: weder essen noch trinken, weder lieben noch hassen; es kann sich nicht rechtfertigen, nicht sich erretten; nicht traurig sein oder fröhlich, hoffen oder verzweifeln, Erfolg oder Mißerfolg haben. Wir ver­danken es Gott, daß wir unter seinen Geschöpfen existieren. Also gibt es in Wahrheit keine Menschen ohne Gott. Es gibt Personen, die diese Idee haben, die Atheisten zu sein glauben; das ist eine fixe Idee. Aber das ändert schlechterdings nichts; der Mensch als solcher ist nicht ohne Gott. Er kann sich betragen wie ein böses Kind, das schreit und seine Mutter anbrüllt. Aber die Mutter ist doch da.

Dies ist kein philosophischer Gedanke. Ich weiß nicht, wie man diesen Satz: es gibt keinen Menschen ohne Gott, auf eine überzeugende Weise außerhalb des Glaubens an Jesus Christus erklären könnte. Aber sobald man Jesus Christus verstanden hat, hat man den Menschen verstanden, seine Natur, seine von Gott untrennbare Bestimmung. Und weil es keinen Menschen ohne Gott gibt (der Atheismus ist eine lächerliche Erfindung), gebietet uns Gott, zu beten, nimmt Gott Anteil an unseren Angelegenheiten und Bedürfnissen, an unseren Sorgen und Nö­ten, an unseren Erwartungen, an allem. Indem wir beten: ‚Gib uns unser Brot‘, tun wir nichts anderes, als daß wir fest­stellen, was die Wirklichkeit unseres Lebens ist; wir lassen das gelten, was ist, nämlich zu wissen, daß wir ohne Ihn nichts sind. Und dieses Gebot, diese Ein­ladung, Ihn zu bitten, unsere Sache mit der seinigen zu vereinen, ist eine einfache Feststellung dessen, was ist: Gott lädt uns ein und gebietet uns, uns an die Seite Jesu Christi zu stellen, der geruht hat, Menschlichkeit anzunehmen. Er war Gott und hat sich zum Menschen ge­macht. So hat er sich für alle die großen und besonders für alle die kleinen Dinge, die uns beschäftigen, interessiert.

Diese Sache des Menschen — seine mate­riellen Bedürfnisse und sein Heil — kommt nach der Sache Gottes. Aber man merke sich wohl, daß es sich da nicht um unverbindliche Bitten handelt. Die ersten Bitten bestünden sicher nicht, wenn es nicht die drei letzten gäbe, die unent­behrlich sind wie die anderen. Der Mensch, der nicht fortfahren wollte, die drei letzten Bitten zu beten, würde nicht aufrichtig beten; denn er muß auch sei­nen Platz haben, da es sich um seine Sache handelt, um das, was er ist, mit seinem Charakter, seinen Nerven und allem übrigen. Er ist nicht nur für die Sache Gottes da; er muß wirklich auch die seinige mitbringen, indem er sie in die Sache Gottes eintreten läßt. Es wäre also gefährlich, die drei letzten Bitten wegzulassen, denn dann hätte man einerseits einen kirchlichen, theolo­gischen, metaphysischen Bereich und andererseits einen Bereich, wo es sich ums Geld, um das Geschlecht, um die Geschäfte, um den Nächsten handelt. Man hätte dann diese zwei Schubladen. Nun aber gibt es, ob man will oder nicht, nur eine Schublade. Nichts ist so gefährlich, wie das Trugbild der zwei Schub­laden. Sie wissen, wie man sich in den Pfarrhäusern oft einbildet, die zwei Schubladen zu haben: diese Dialektik zwischen der Sache Gottes und unserer Sache. Doch sie sind verbunden; man betet für beide zusammen. Das ist so, weil Jesus Christus uns einlädt, mit ihm zu beten, weil in ihm diese zwei Sachen nur eine Sache ausmachen. Es ist also wichtig, im Vaterunser den Unterschied zwischen den beiden Teilen, aber auch ihre Einheit zu verstehen.

Erinnern wir uns, daß Luther in seinem Kleinen Katechismus in einer interessan­ten und einleuchtenden Weise dieses Paradox betont hat: Gott handelt in dem Sinn, in welchem wir beten; er hei­ligt seinen Namen, sein Reich kommt, sein Wille ist geschehen, er gibt uns unser Brot, er vergibt uns, er tut all das, bevor wir ihn darum bitten. Wir wenden uns an den, der uns gehört hat, noch bevor wir ihm irgend etwas ge­sagt haben. Vergessen wir’s in der Tat nicht — und Luther hatte recht, es zu sagen —: Jesus Christus ist’s, der betet und wir schließen uns seiner Fürbitte an. Er ist’s, den Gott erhört, und sein Gebet ist erhört seit Anbeginn der Welt, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Alles ist schon in Ordnung. Im ersten Teil dieser Arbeit habe ich im Gefolge von Calvin und Luther auf die Begründungen des Gebets und auf die Erhörung Gewicht gelegt. Fangen wir an, dies zu begreifen: Wir sind erhört im Namen Jesu Christi. Alles ist schon da, wenn wir uns an Gott wenden.

Luther sagt anläßlich des Vaterunsers: Wir müssen Partei ergreifen in dem Handeln Gottes. Gott ist am Werk zu seinem Ruhm und zu unserem Heil; und wir sollen Vorteil ziehen aus sei­nem Handeln, nicht als Zuschauer, noch indem wir uns die Rolle von unent­behrlichen Mitarbeitern zulegen, sondern indem wir beten und uns für ihn, für das, was er tut, interessieren. Das ist die echte Mitarbeit. Er lädt uns ein, uns an ihn zu wenden und zu verstehen, daß seine und unsere Sache innig vereinigt sind, daß unsere Sache in der seinigen mit inbegriffen ist. Und wir Menschen kommen, wir sind da vor ihm, bereit dazu, in dem großen Zusammenspiel die­ser beiden Sachen zu leben. Alles ist eingeschlossen in die Freiheit Gottes, in seine Oberherrschaft. Das ist nicht eine Art von Anánke, eine Art Schicksal und Verhängnis, sondern Gott ist unser Va­ter, und er will, daß wir mit ihm seien.

a. Die drei ersten Bitten

Dein Name werde geheiligt

Wenn man von Gott spricht, so bedeutet der Name (ónoma) die glorreiche Dar­stellung Gottes in der geschaffenen Welt. Nicht einfach und unmittelbar gleich­bedeutend mit Gott selbst — ist doch der Name die Vertretung Gottes. Weil die geschaffene Welt der Schauplatz der Herrlichkeit Gottes ist (Calvin), ist die Welt nur Geschöpf; sie kann (aber nicht in einem philosophischen Sinn), unter ge­wissen Bedingungen, die nicht von ihr abhängen, Trägerin des Namens Gottes werden. Es ist möglich, daß es in der Welt so etwas wie Inschriften des Na­mens Gottes gibt, die die Gegenwart Gottes selbst anzeigen. Wenn das der Fall ist, dann könnte man sagen, daß diese Inschriften nicht unsichtbar sind, sondern daß sie durch die Offenbarung beleuchtet werden, wie die Reklame­schilder in unseren Städten.

Unsere Augen sind geöffnet, damit wir sie, diese Inschriften, sehen mögen. Die Welt ist die Welt Gottes. Darum kann sein Name darin eingeschrieben sein. Das Weltall kann sein Lob singen. Alles was Schöpfung Gottes ist, kann den Namen seines Schöpfers tragen.

Nun stellen wir die Frage: Wird die­ser Name sichtbar? Wird er offenbar? Werden diese Inschriften beleuchtet? Werden unsere Augen und Ohren geöff­net? Wird dieser Name geheiligt? Wir verstehen, daß es sich da um eine Erfül­lung handelt, die nicht in den Möglich­keiten des Geschöpfes liegt; es ist un­fähig, aus sich selber heraus sich zur Trä­gerin des Namens Gottes zu machen. Die Welt als solche hat nicht das Vermögen, Gott zu offenbaren; und der Mensch als solcher ist nicht fähig, eine Offenbarung zu empfangen, weder mit seinen Augen noch mit seinen Ohren noch mit seinem Verstand. Gott ist’s, der recht von Gott spricht (Pascal). Es geschieht durch eine objektive und subjektive von ihm voll­endete Tat, daß Gott sich sehen läßt, daß er gesehen, wiedererkannt und an­erkannt wird, und daß es uns geschenkt wird, in dieser Welt im Angesicht sei­ner Gegenwart zu leben, indem wir ihn kennen, ihn wiedererkennen. Diese Tat Gottes wird für uns wirklich im Gebet.

Die Bitte „Dein Name werde gehei­ligt“ schließt ein, daß der Name Gottes dem, der betet, bekannt ist. Man betet nicht für etwas, das man nicht kennt. Das setzt voraus, daß der Name Gottes schon geheiligt ist (Luther). So wollen wir in dieser besonderen Lage derer, die das Vaterunser mit Jesus Christus beten, seinem Gebot gehorchen, ihm auch im Ge­bet nachzufolgen. Und wenn man mit Jesus Christus betet, ist man nicht ohne Kenntnis der Heiligung des Namens Got­tes in Vergangenheit und Gegenwart.

Dieses Gebet ist also eine Erhörung, be­vor wir es formulieren. Wir wären keine Christen, die mit Jesus Christus beten, wenn unser Gebet bedeutete, daß wir von dieser Heiligung nichts wissen. In der Tat beten wir, daß das, was sich durch Gottes Tun schon ereignet, weiter­gehe und zu seinem Ziele gelange.

Man muß also diese Worte „Dein Name werde geheiligt“ in folgendem Sinn um­schreiben: Dieser Name ist schon gehei­ligt. Diese Voraussetzung ist die Grund­lage des Gebets. Unser Vater in dem Himmel, Du hast zu uns gesprochen. In Deinem Sohn hast Du Dich zum Wort gemacht, hast Du Dich wahrnehmbar und zugänglich für uns ins Fleisch, in diese Welt begeben. Die Zeichen Dei­nes Namens ermangeln nicht des Lich­tes. Wir sind nicht allein in dieser Welt. Du hast ein menschliches Antlitz ange­nommen, Du zeigst es uns, wir können verstehen, was Du uns dadurch sagst. Wir leben nicht in einer Welt ohne Gott.

Deine Propheten und Apostel sind auf demselben Plan, wo auch wir leben. Wir hören ihnen zu. Deine Kirche, die Versammlung derer, die Du zusammengeru­fen hast und die zu versammeln Du fort­fährst, Deine Kirche, die auf der Erde lebt und die in so viel Jahrhunderten, inmit­ten von so viel Erschütterungen, in Schrecken und Schwachheit, überlebt hat — trotz allem, was es über ihre Fehler zu sagen gibt —, wir haben durch sie, durch ihr Werk hindurch Deine Stimme gehört.

Wir sind getauft, wir existieren in die­ser Kirche unter Deinen Kindern, indem wir selber Deine Kinder sind; wir exi­stieren unter Deinen Sendboten, die Du beauftragt hast, Dein Wort zu verkündi­gen, und man kann nicht Gottes Kind sein, ohne Sendbote zu sein. Wir haben die Freiheit, zu glauben, zu wollen, zu gehorchen. Das bedeutet, daß die Welt — diese Welt, in der wir leben, und unser eigenes Leben mit seinen Gren­zen, seinen Hindernissen, Schwierigkei­ten, Verwicklungen und mit denen un­serer Nächsten —, daß das alles für uns nicht ein völliges Geheimnis bleiben kann. Es gibt viel Geheimnis, aber wir leben nicht in einem absoluten Geheim­nis; wir sind nicht in das Nichts ein­geschlossen. Die Lehre von Sartre und Heidegger ist nicht wahr, diese Lehre, die wieder ins Heidentum zurücksinkt. Wir wissen, daß es in dieser Welt, in dieser Menschheit, in dieser Geschichte, eine sichere Sache gibt: die Zeichen Dei­ner Gegenwart sind leuchtend; Jesus Christus ist für uns gestorben und auf­erstanden, und nicht allein für uns, son­dern für die ganze Welt. So steht die Hoffnung der Menschen in dieser Tat­sache: Gott hat die Welt geliebt. So beschaffen, zeigt sich die Wirklichkeit in Tod und Auferstehung des Herrn. Und wir leben in der Erinnerung an die­ses Geschehen und in der Erwartung der allgemeinen Auferstehung. In diesem Sinn sagen wir: Der Name Gottes ist schon geheiligt. Das ist die christliche Einstellung. Der Schlüssel des Geheim­nisses ist in unseren Händen.

Verfolgen wir diese Linie weiter! Weil dieser Schlüssel uns gegeben ist, weil der Name Gottes schon geheiligt ist, haben wir um so mehr Gründe zu bitten: Dein Name werde geheiligt! Das will sagen: Möge doch uns und der Welt geschenkt werden — dieser Welt, die weder schlech­ter, noch besser ist als wir, in deren Mitte wir Geschöpfe das Vorrecht ha­ben, Dich zu kennen und zu Deinem Dienst berufen zu sein — möge es uns doch geschenkt werden, dieses unver­gleichliche Angebot von Deiner Seite nutzbar zu gebrauchen; möchte es doch nicht vergeblich sein, daß Du zu uns in Deinem Sohne gesprochen hast; möchte doch Deine Kirche ihre Existenz geltend zu machen wissen, möchte sie doch be­freit werden von jeder römisch-machen-wollenden Reaktion und von jedem un­gezügelten Amerikanismus, befreit von Furchtsamkeit und Kleinmut, vom Geist des Hochmuts, von Aufschneiderei! Daß wir doch aufhören möchten, die Bibel nur durchzublättern, statt sie zu lesen! Daß wir doch unsere Sucht, die Bibel zu zitieren, ein wenig mäßigten, statt mit ihr zu leben und sie reden zu lassen! Daß wir doch beten möchten, die Bibel wolle nicht aufhören, uns zu interessie­ren! Daß doch die Bibel nicht anfange, uns gähnen zu lassen und daß Dein Wort in allen seinen Teilen nicht in un­seren Gehirnen und Mündern eine lang­weilige Angelegenheit, daß es doch nicht schlechte Predigt, schlechter Katechis­mus, schlechte Theologie werden möchte! Das alles ist sehr einfach, aber auch sehr nötig.

Luther hat ausführlich erklärt, daß diese Heiligung sich in der Verkündigung kundtun müsse. Eine schlechte Predigt ist das Gegenteil von dieser Heiligung. Möge das Wort Gottes für uns jeden Tag wieder zum Wort Gottes werden! Es sei doch nicht eine Wahrheit, ein Prinzip, eine Sache, die man auf den Tisch stellt, sondern eine lebendige Person, das große Geheimnis und die große Einfalt! Möchten doch die Zeichen die­ses Wortes Gottes, dieses Namens Got­tes wieder sichtbar gemacht werden von uns, in unserer Mitte, durch die Ernst­haftigkeit und Heiterkeit unseres Lebens, unserer Sitten und Gewohnheiten! Wir beten darum, es möchte uns geschenkt werden, diese große Freude und diesen großen Frieden, von denen wir so oft sprechen, auch sehen zu lassen. Möge man diese Freude und diesen Frieden auch bemerken! Wir beten, daß die christliche Anmaßung und Unwissenheit und der Unglaube, womit wir Dich alle Tage entehren, ein wenig aufgehalten, ein wenig unterdrückt werden möchten.

Möchte doch dieser Schlüssel, der wie­der in unsere Hände gelegt ist, ein ganz klein wenig gedreht werden, damit sich eines schönen Tages die Tür öffnen kann! Das ist die Heiligung Deines Namens. Wir sehen, daß es da etwas zu bitten gibt, um diese Güter und diese Erfüllung, damit es geschehe, was noch geschehen muß und was nicht von uns getan werden kann. Damit dies alles geschehe, muß Gott selbst eingreifen; seine Sache ist im Spiel. Wir, die wir verantwortlich sind, wir sind so wenig geeignet, um diese Sache zu stützen.

Wie ungeheuer wichtig ist es für uns, in dieser Angelegenheit verantwortlich zu sein, und wie sehr ist es unbedingt nötig, daß Gott selbst eingreift, damit wir nicht unter jenen törichten Jung­frauen seien, die kein Öl mehr hatten!

Dein Reich komme

Wir müssen ein wenig weiter gehen als die Reformatoren, die — hier wie anderswo — den eschatologischen Wesenszug jener Wirklichkeit des Rei­ches Gottes nicht genauer unterschieden haben. Wir versuchen also eine etwas verbesserte Darstellung ihrer Lehre.

Das Reich Gottes ist im Neuen Testa­ment das Leben und das Ziel der Welt, wie sie den Absichten des Schöpfers ent­sprechen. Es ist die wirksame und end­gültige Abwehr gegen die Drohung, die der Sünde folgte und folgen mußte, gegen die tödliche Gefahr, gegen die Vernichtung, die der Welt auflauerte, weil sie nur Geschöpf ist. Das Reich Gottes ist der letzte Sieg über die Sünde. Es ist die Versöhnung der Welt mit Gott (2. Kor. 5,19). Und hier nun die Folge dieser Versöhnung: Es gibt eine neue Welt, einen neuen Äon, einen neuen Himmel und eine neue Erde, die neu sind, weil sie in den Frieden Gottes eingetreten und von ihm umschlossen sind.

Das Reich Gottes ist die Gerechtigkeit Gottes, die Gerechtigkeit des Schöpfers, des Herrn, der rechtfertigt und trium­phiert. Das Ende und das Ziel der Welt ist das Kommen des Königreichs: Dein Reich komme! Es ist klar, daß wir uns aufs neue einer Erfüllung gegenüber be­finden, die unsere Möglichkeiten unend­lich überschreitet, da alles was wir sind und was wir tun können, selbst unter den besten Bedingungen, von einer und derselben Gefahr bedroht ist. Wir brau­chen selber jene Befreiung, jenen Sieg, jene Versöhnung und Erneuerung. Das Kom­men des Königreiches vollzieht sich gänz­lich unabhängig von unserer Macht. Wir sind ebenso unfähig, irgend etwas für sein Kommen zu tun wie für die Schöpfung selbst, die der Raum unserer Existenz und unseres Könnens ist. Das Kommen des Reiches kann nur der Gegenstand unseres Gebetes sein. Gott allein, der die Welt ge­schaffen hat, kann sie vollenden in jener erfüllenden Tat, in jener letzten Rechtferti­gung seiner selbst und des Gekreuzigten. Es handelt sich um den Frieden und die Gerechtigkeit der Welt, die zu ihrer Voll­kommenheit gebracht wird; und das kann nur das Ergebnis seines Werkes sein. Man muß also beten: Dein Reich komme! Laß diese Glocke ertönen, um die Stunde des Ereignisses anzukündigen!

Aber wenn man zu Gott sagt: „Dein Reich komme!“, so setzt das voraus, daß der, der so betet, dieses Reich, dieses Leben, diese Gerechtigkeit, diese Neu­heit, diese Versöhnung kennt, daß ihm das alles nicht fremd ist. Er muß es ken­nen, und es muß da, wo man so betet, das Königreich schon gekommen sein. Wir befinden uns noch einmal in dieser außergewöhnlichen Lage derer, die „Unser Vater“ in der Bruderschaft Jesu Christi und der Seinigen beten. Dein Reich komme! bedeutet soviel wie: Dein Reich ist schon gekommen, Du hast es schon aufgerichtet mitten unter uns. „Das Reich Gottes ist mitten unter uns“ (Luk. 17,21). Du hast alles erfüllt in Jesus Christus. Du, Gott Vater, Du hast die Welt mit Dir versöhnt in Jesus Christus:

Der Apostel Paulus spricht von dieser Versöhnung nicht wie von einem zukünf­tigen Ereignis. Er sagt: „Gott hat ver­söhnt.“ Das ist geschehen. In Jesus Chri­stus hast Du endgültig die Sünde und alle ihre Folgen vernichtet. In ihm hast Du alle fremden und feindlichen Gewalten aufgehoben: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ (Luk. 10,18). Du hast die tödliche Ge­fahr unter der Drohung, in der wir leb­ten, beseitigt. Du, Gott, bist in Jesus Christus der neue Mensch geworden, der nicht mehr sterben wird. Das ist ge­schehen. In ihm ist Dein Reich gegenwär­tig geworden in dieser Welt, in der gan­zen Tiefe, in der Totalität seiner Herr­lichkeit, ohne jede Verkürzung, ohne jedes Verschweigen. Die Welt hat in Jesus Christus ihr Ende und ihr Ziel er­reicht. Also der Jüngste Tag, das Gericht, die Auferstehung der Toten, alles ist schon in ihm geschehen. Es ist nicht nur ein Ereignis, auf das wir warten, es ist hinter uns. Man muß verstehen, daß es — in ihm! — auch ein vergangenes Ereignis ist. Wenn die Kirche von Jesus Christus spricht, wenn sie sein Wort verkündigt, wenn sie an das Evangelium glaubt, wenn sie zu den Heiden geht, um es be­kannt zu machen, wenn sie zu Gott betet, blickt sie zurück zu ihrem Herrn, der schon gekommen ist. Sie erinnert sich an Weihnachten, Karfreitag, Ostern und Pfingsten. Das sind nicht irgend welche historischen Ereignisse, denen wir nur eine religiöse Deutung geben könnten, indem wir uns etwa sagen: Es ist sehr gut, aber schließlich ist es nichts in sich. Nein! Das ist nicht nichts, das alles ist eingetroffen und ist hinter uns. Wir ver­kündigen das Fleisch gewordene Wort und wir verkündigen das Reich Gottes, das gekommen ist. Die Kirche kann nicht stehen und sie steht auch nicht, wenn sie nicht jauchzende, ihrer Sache sichere Kirche ist. Die traurige, düstere Kirche ist nicht die Kirche! Denn die Kirche ist erbaut auf dem, der Fleisch geworden ist, auf dem, der gekommen ist, um das letzte (nicht das vorletzte) Wort zu sprechen. Dieses letzte Wort ist schon ausgesprochen. Wir leben über diesem Ereignis. Es gibt nichts mehr daran zu ändern. Man kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen, deren Beginn Weihnachten und Ostern ist.

Was bedeutet das, wenn wir es ver­stehen, wenn wir es leben? Das schließt in sich, daß wir um so mehr Grund haben zu beten: Dein Reich komme! Es gibt da keinen Widerspruch. Der, für den diese Dinge wahr sind, weiß das wohl. Des­halb betet er.

Das bedeutet auch, daß diese große Bewegung Gottes zugunsten des Men­schen, die an Weihnachten, Ostern und Pfingsten begonnen hat, wieder aufgenommen werden muß. Damit es nicht nur vergangen, nicht nur hinter uns sei, weil wir nicht nur leben, in­dem wir zurückblicken, sondern indem wir auch vorwärts schauen. Das muß kommen, daß die Zukunft das Merk­mal der Vergangenheit trägt, daß un­sere Vergangenheit unsere Zukunft wird, und daß der Herr, der gekommen ist, wiederkommt.

Wir bitten, daß diese Decke weggezogen werde, die jetzt alle Dinge bedeckt, wie die Decke, die einen Tisch zudeckt. Der Tisch ist darunter. Wir sehen ihn nicht. Aber es genügt, die Decke wegzuziehen, damit man ihn sieht. Wir bitten, daß die Decke, die die Wirklichkeit der Königs­herrschaft noch verhüllt, weggezogen werde, damit die Wirklichkeit aller in Jesus Christus schon veränderten Dinge sich sehen lasse. Die ganze Tiefe Gottes ist da. Das ist das Ereignis, mit dem nichts sich messen könnte. Unser per­sönliches Leben und das unserer Familie, das Leben der Kirche, die politischen Ereignisse — das alles ist die Decke. Die Wirklichkeit ist dahinter. Wir sehen noch nicht von Angesicht zu Angesicht, wir sehen wie in einem Spiegel undeut­liche Reflexe. Man kann seiner Sache nicht sicher sein, wenn man die Zeitun­gen liest, bei den religiösen Zeitungen nicht sicherer als bei den anderen. Damit wir die Wirklichkeit sehen, muß Dein Reich kommen, muß Jesus Christus sicht­bar werden, so wie er an Ostern sichtbar war, so wie er sich seinen Aposteln ge­offenbart hat. Er wird sein, er ist schon das Haupt der neuen Menschheit, der neuen Welt. Wir wissen das, aber wir sehen es noch nicht. Wir warten darauf, es zu sehen; wir wandern im Glauben, noch nicht im Schauen.

Möge die Klarheit Gottes, die in Jesus Christus war, in seinem Leben, in seinem Tod und seiner Auferstehung, sich über uns, über unser ganzes Leben und über alle Dinge ausbreiten! Möge das Verbor­gene des irdischen Lebens enthüllt wer­den! Dieses Verborgene ist schon ent­hüllt, aber wir sehen es noch nicht. Da­her diese Unruhe, in der wir leben, diese Sorgen, diese Übertreibungen, diese Verzweiflungen. Wir verstehen nicht. Und wir bitten, daß es uns geschenkt werde, zu sehen und zu verstehen.

Jetzt wollen wir die Auslegung der Reformatoren wieder aufnehmen, wenn wir beten, es möge uns auch geschenkt werden, schon jetzt wenigstens die ersten Spuren dieser neuen Zeit, dieses Sieges, der schon errungen ist, zu sehen. Es möge der Schein des allumfassenden Mor­gens uns erlauben, uns selber und die anderen und die Ereignisse unserer Ge­schichte unter dem Blickpunkt dessen zu sehen, was uns entgegenkommt. Sie wird uns geschenkt werden, diese allgemeine Offenbarung, diese Apokálypsis (1. Petr. 1,3-12). Möge doch unser Glaube an den, der gekommen ist, lebendig werden!

Er kann es nur sein, wenn er auf das Er­eignis der Vergangenheit gegründet ist, und nur, wenn er dem entgegenblickt, der kommt, der die Universalität seines Werkes offenbaren wird. Möge es uns gegeben sein, diese Hoffnung zu leben! Man kann nicht sagen: „Dein Reich komme“ ohne Hoffnung für unsere Zeit, für heute und für morgen. Die große Zukunft, mit einem großen Z, ist auch eine Zukunft mit einem kleinen z. Das genügt, um uns wenigstens ein bißchen die völlige Ungenügsamkeit aller unse­rer Werke in der Gegenwart verstehen zu lassen. Es genügt, um uns die Klein­lichkeit so vieler Kämpfe, in denen wir uns miteinander verstreiten, verstehen zu lassen, besonders unserer persönlichen und psychologischen Konflikte, die sich im Grunde nicht rechtfertigen lassen. Aber um das zu begreifen, muß man die kommende Königsherrschaft sehen. Die Psychologen können uns nicht helfen. Eines Tages wird die Sonne kommen, wird die Erkenntnis geschenkt werden. Wir warten nur darauf, daß Ostern für die Welt ein allgemeines Ereignis wird. Dann haben wir keine Psychologen mehr nötig, weil das dann die Gesundheit sein wird (weil dann alle gesund sind). Es ist erstaunlich festzustellen, wie wir Schweizer — aber mit noch ein bißchen mehr Naivität als die anderen modernen Euro­päer — uns für die Psychologie interes­sieren. Wogegen zum Beispiel in Deutsch­land (1948!) alle diese Konflikte ver­schwunden sind, weil das Leben mit allen seinen Anforderungen da ist. Wenn das Leben da ist, gibt es keine Probleme der Psychologie mehr.

Wir bitten, daß es uns gegeben werde, die Nutzlosigkeit dieser ganzen Tragik zu sehen, die zu den Heiden paßt, aber nicht zu den Christen. Daß wir doch leben möchten zugleich in einer guten Stille, in gutem Humor und in der Liebe, die niemand bedrückt, sondern die die Welt ein wenig an sich zieht.

Eine andere Lesart des Vaterunsers im Text des Lukas (Codex D) fügt hinzu: Dein Heiliger Geist komme über uns und reinige uns! Interessante Variante, ob­wohl nur die klassischen Texte des Mat­thäus und Lukas echt sind. Immerhin ist sie ein Kommentar, der gut zu dem Texte paßt. Wenn man um das Kommen des Reiches Gottes bittet, bittet man auch, daß der Heilige Geist auf uns komme. Die Reformatoren haben die zweite Bitte ausgelegt, wie wenn sie Rücksicht auf diese Lesart genommen hätten. Sicher hatten sie recht, aber man kann es nur tun, wenn diese Worte „Dein Reich“ als etwas ganz anderes verstanden werden denn als eine voll­kommene Kirche; nur wenn sie verstan­den werden als das Ende von allem was jetzt ist und als der Anbruch eines neuen Standes der Dinge. Glücklicherweise braucht man in der Königsherrschaft Gottes keine Kirche mehr, denn Jesus Christus wird dann vollendet haben, was er begonnen hat.

Man muß Gott noch bitten, weil es seine Sache ist, die in Frage steht. Seine Ge­bote erinnern uns unaufhörlich an die Ge­duld, die er mit uns hat. Wie nötig ist es während dieser beunruhigenden Zeit seiner Geduld, die uns von dem Kommen seines Reiches noch trennt — wie nötig ist es da, daß Gott sein Wort sagt, daß er diese Glocke ertönen läßt! Ja, es muß zur Vollendung kommen! Daß doch Gott seine Verheißungen erfülle, und daß doch wir sie ergreifen möchten als die Verheißungen Gottes! Daß doch Dein Reich komme, dieses Reich, das schon gekommen ist! So kommen wir mit dieser einfachen, uns so geläufigen Bitte ihm ganz nahe.

Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel

Wir kehren in die Gegenwart zurück, die ebenfalls wie das vergangene Ereignis der Bereich des Willens Gottes ist; der Bereich, wo der Plan ausgeführt wird, den er gefaßt hat, um sich auszu­weisen und sich selber als Schöpfer und Herr zu verherrlichen und gleichzeitig sein Geschöpf zu rechtfertigen und zu verherrlichen. Dieses Geschöpf, das im Vergleich mit ihm so klein, schwach und bedroht ist, so anfällig für Fehltritte, weil es durch die Sünde verseucht, ver­loren, vernichtet ist. Aber der Wille Gottes ist, sein Geschöpf zu halten, zu retten und sein Werk durch die Offenba­rung seines Königreiches zu vollenden.

Dein Wille … Daß doch diese Ausfüh­rung des Planes sich ereigne, daß sie doch jetzt stattfinde zwischen dem Anfang und dem Ende! Daß doch diese Zeit, in der wir leben, nicht vergeblich vorübergehe! Das ist eine Erfüllung, die nicht die unsrige sein kann. Nicht wir sind’s, die diesen Willen Gottes tun. Ihm gehören Plan und Ausführung, ihm auch die Zeit, das, was ist, wie auch das, was sein wird, der ganze Inhalt der Zeit. Also befinden wir uns ein drittesmal einem Gegenstand des Gebets gegenüber: Gott wolle ge­ruhen, sich mit uns und mit dieser Welt zu beschäftigen, er wolle nicht müde werden, nicht aufhören geduldig zu sein, er wolle fortfahren, bis an das Ende zu regieren. Aber indem wir so beten, müssen wir wissen, daß das geschieht, daß Gott im Begriff ist, sei­nen Willen zu tun, zu erfüllen. Wir sind solche, die das Vaterunser in Ge­meinschaft mit Jesus Christus beten und die folglich wissen, daß sein Wille schon geschehen ist.

Wie im Himmel … Ich hoffe, diese Worte nicht schlecht auszulegen. Er ist schon geschehen, Dein Wille, in Deiner Absicht, Du ewiger Gott. Das ist ge­schehen, es wird geschehen und es wird sich entwickeln in der Zeit. Aber vorher ist dieser Wille bei ihm geschehen in dem Geheimnis dessen, was sich in seiner Nähe ereignet hat und ereignet. Dieser Wille ist geschehen in der Schöpfung, in seiner Regierung der Welt seit Anbeginn; in der Geschichte seines Bundes, der treulich den Sinn aller Ereignisse aus­drückt. Dieses Bundes, so wie er verstan­den wurde von den Propheten und Apo­steln und dessen Zeugnis uns in Jesus Christus gegeben ist. Dein Wille — so wie Du ihn kennst, so wie Deine Engel ihn sehen, so wie er „zu Deiner Rech­ten“ ist; so wie wir ihn glauben, aber nicht sehen. Er ist geschehen und er ge­schieht ohne Aufhören im Himmel.

Er geschieht, wie er geschehen muß, in voller Erkenntnis der Sache; er ge­schieht, ohne Widerstände oder Hindernisse zu finden, in voller Freiheit, auf eine solche Art, daß die Gnade allein re­giert und daß ihr von Seiten des Geschöpfs eine Anerkennung antwortet. So ist der Wille Gottes geschehen in Jesus Christus. Im Himmel ist er vollkommen erfüllt. Und wir glauben daran in Jesus Christus, wir wissen es. Sein Geist lehrt und be­kräftigt es uns. Sein Wille ist geschehen und geschieht immer.

Es gibt also um so mehr Gründe zu bit­ten, daß er auf der Erde geschehe wie im Himmel. Daß seine Vollstreckung sich in unserer Welt verwirkliche und in unse­rem Leben, so wie wir es kennen, so wie es unseren Augen mit der Decke sicht­bar ist! Daß doch die Vollstreckung sei­nes Willens auf der Erde gleichförmig werde mit seiner Vollstreckung im Himmel: in terra sicut in caelo. Das will sagen: Daß doch das Hell-Dunkel, diese Mischung unserer Weltgeschichte und Kirchengeschichte, daß dieses Hell-Dun­kel, dieses Gemisch von Heiligkeit und Dummheit, von Weisheit und Gewöhn­lichkeit, was unsere Existenz so sehr charakterisiert, daß diese ganze Verwir­rung sich lichte! Im Himmel ist das voll­kommen geschehen. Warum nicht bei uns? Daß doch dieses Hell-Dunkel nicht ewig daure, daß wir doch aufhören möchten, Deine Absichten schlecht zu verstehen und zu durchkreuzen! Daß wir doch aufhören möchten zu widerspre­chen, immer von neuem das Evan­gelium zu verfälschen und eine Art neues Gesetz daraus zu machen! Daß wir darauf verzichteten, uns als schlechte Diener aufzuführen! Daß wir Deine Ge­duld benützen möchten, um uns zu be­kehren, statt in humanistischem Christen­tum und in christlichem Humanismus zu spielen und immer von neuem Deinen Zorn herauszufordern! Daß Du doch in Ausführung Deines Planes uns befreiest von dieser unendlichen Unvollkommen­heit unseres Gehorsams! Komm, uns die Freiheit zu geben und mach uns eines Tages los von diesen Widersprüchen, in denen wir uns befinden, wir, die wir wissen, daß Dein Wille geschehen ist und wie er geschehen ist im Himmel!

Noch einmal, es ist die Sache Gottes, die in Frage steht. Und wir nehmen teil an seiner Sache, wie er an der unsrigen teil­nimmt. Seine Sache kann uns nicht fremd sein. Wir sind in der Gegenwart, in der Zeit. Nun aber ist diese Zeit kurz, sehr kurz; das Leben vergeht so schnell. Es ist kein Augenblick zu verlieren … und wir verlieren so viele! Was soll man denn von der Welt erwarten, wenn wir, die Christen, so abstrakt weltlich sind, so zufrieden in unserer Unvollkommenheit, so ruhig, während es doch nicht möglich sein dürfte, ruhig zu sein? Gott regiert. Wir bitten ihn, uns mit ihm regieren zu lassen. Nicht weniger als das.

b. Die drei letzten Bitten

Einige Worte zur Einführung

Notieren wir zuerst die Veränderung der Haltung im zweiten Teil des Herrngebets, der mit dem Gesuch beginnt: Gib uns! In den drei ersten Bitten sind wir, die Betenden, in einer Art Gespräch mit dem himmlischen Vater. Unser Ge­bet ist wie ein Seufzer. Wir sind ver­blüfft von der Größe dessen, was uns be­schäftigt: der Name, das Reich, der Wille Gottes selber. Wir seufzen und beten in einem gewissen Abstand, auf eine gleich­sam indirekte Weise: Daß doch Dein Name, Dein Reich, Dein Wille… Mit den drei letzten Bitten gehen wir zu der eigentlich so genannten Bitte über. Aber diese wirkliche Änderung ist trotzdem, wie wir bemerken werden, im Sinn der drei ersten Bitten.

Wir wollen hier zwei Bemerkungen machen.

1. Das „Wir“ des Vaterunsers wird jetzt ausdrücklich und hörbar. Achtmal finden wir in diesen drei Verslein den Ausdruck „unser“ oder „uns“. Wir erinnern uns, daß dieses „Wir“ des Vaterunsers sozu­sagen geschaffen wurde durch die Ein­ladung, den Befehl Jesu Christi: Folget mir! Die „Wir“, das sind die, die mit Jesus Christus beten wollen.

Zu diesem „Wir“ notieren wir vier Punkte.

a) Das „Wir“ ist die Bruderschaft der Menschen, die sich mit Jesus Christus, dem Gott-Menschen, zusammenfinden, der ihnen erlaubt und gebietet, sich mit ihm zu verbinden, sich seiner eigenen Fürsprache bei Gott anzuschließen und mit ihm zu beten.

b) Das „Wir“ der Bruderschaft vereinigt zur selben Zeit, da sie mit Jesus Chri­stus vereinigt werden, die Menschen auch miteinander durch eben diese Erlaubnis und dieses Gebot. Es ist eine Bruder­schaft, die trotzdem nicht geschlossen ist; sie ist offen in dem Sinn, daß sie in Dienst genommen ist im Blick auf diese Welt, daß sie die Welt vertritt, wobei sie unter diesem Wort „Welt“ die Leute versteht, die die Einladung des Herrn noch nicht gehört und noch nicht ange­nommen haben.

c) Das „Wir“ dieser drei letzten Bitten ist das Wir einer vereinigten Gemein­schaft, die solidarisch denkt und han­delt, die aus tiefer Erfahrung das Elend der menschlichen Beschaffenheit kennt. Dennoch hat sie inmitten dieser Not, deren sie sich bewußt ist, die Freiheit, sich an Gott zu wenden in Gemeinschaft mit dem von den Toten auferweckten Jesus Christus und in einem gegenseiti­gen Einverständnis zwischen denen, die diese Gemeinsamkeit bilden; sie hat die Freiheit, sich an unseren Vater im Him­mel zu wenden, an den überlegenen Schöpfer, Herrn und Erlöser, um von ihm eine vollständige und endgültige Be­freiung zu erlangen, in dem Wissen dar­um, daß dieser höchste Herr sie ihr ge­währen kann und will.

d) Das „Wir“ sind diejenigen — weil sie vereint sind mit dem gekreuzigten Jesus Christus und weil sie die Freiheit haben, mit ihm als Glieder der Familie Gottes zu beten —, die deshalb als einzige wis­sen, was ihr Elend und das Elend der Welt, was die tiefe Bosheit und die un­heilbare Traurigkeit des menschlichen Daseins, der Fall und die Verderbnis des guten Geschöpfes Gottes ist. Sie kennen die Unmöglichkeit, in der sich der Mensch befindet, aus dieser Lage sich durch seine Entschlüsse und seine eigenen An­strengungen zu befreien; sie kennen die unbedingte Notwendigkeit, sich Gott selbst anzuvertrauen, sich auf ihn, auf Gott allein, zu verlassen; kurz, sie ver­stehen die Unmöglichkeit, die darin besteht, anderswie zu leben als in der freien Gnade.

Merken Sie sich gut, es sind diese „Wir“, die auf eine unhörbare Weise schon mit inbegriffen, bereits die ersten drei Bit­ten gebetet haben, in denen es sich um die Ehre, die Sache Gottes selber han­delt. In den drei letzten Bitten sind es dieselben „Wir“, die sich mit ihrer eige­nen Sache nach vorwärts wenden.

2. In diesen drei Bitten wird das Gebet jetzt ausdrücklich, direkt, gebieterisch (in der Befehlsform, dem Imperativ). Es ist eines, zu bitten: „Daß doch Dein Name … Dein Reich … Dein Wille … und wieder ein anderes: „Gib uns heute … Vergib uns … Führe uns nicht … Erlöse uns … Bemerket die Kühnheit, ich möchte fast sagen die Ver­wegenheit dieses Anrufs! Da ist der Mensch, der es wagt, Gott zu belästigen, daß er sich mit seinen, mit des Menschen Angelegenheiten beschäftige, der Mensch, der sich so eine gebieterische Sprache er­laubt. Wie kann das geschehen? Ant­wort: Wir sind die einzigen, denen es er­laubt, ja sogar geboten ist, in den ersten drei Bitten uns mit den Anliegen Gottes, mit der Heiligung seines Namens, dem Kommen seines Reiches und der Erfüllung seines Willens zu beschäftigen.

Geht uns das etwas an? Ja, gewiß. Das ist unsere Angelegenheit, es ist uns erlaubt, uns damit zu beschäftigen. Gott hat uns angenommen als Mitarbeiter, als Kolla­borateure (das ist ein biblischer Aus­druck). Er hat aus seiner Sache unsere Sache gemacht. Und jetzt wird als Folge dieser drei ersten Bitten unser Appell an Gott in den drei folgenden Bitten sozu­sagen natürlich. Wir sagen: Unser Vater, da sind wir, so wie Du uns findest, so wie wir sind, und anscheinend in dem Zu­stand, da Du uns begegnen willst. Da sind wir, vorbeschäftigt mit Deiner Sache (wir unterstellen, daß unser Gebet ernst­lich ist), entflammt von dem brennenden Wunsch, Deinen Namen geheiligt zu sehen. Es gibt für uns keine andere Aufgabe; das ist unsere Sorge. Es kommt für uns nicht in Frage, uns selber zu helfen. Alle Beschäftigung solcher Art könnte nur Untreue, Ungesetzlichkeit, Ungehorsam sein. Dir also stellen wir unsere Existenz anheim, Dir, der uns eingeladen und uns geboten hat zu beten und für Deine Sache zu leben. Hier sind wir. An Dir ist es nun, Dich mit unserer menschlichen Sache zu beschäftigen.

Von daher entspringt der kühne Appell dieser drei Bitten. Sie drücken diese Be­wegung aus. Indem wir Gott bitten, er möge geben, was wir äußerlich und innerlich zum Dasein nötig haben, richten wir uns nach seiner Forderung, ihm zu seiner Ehre zu dienen.

In den drei ersten Bitten wünscht Jesus Christus, daß wir uns seinem Kampf für die Sache Gottes anschließen, und zur gleichen Zeit lädt er uns ein, daß wir uns seinem Sieg über die Welt anschließen, seinem Sieg über alles, was die Verwirk­lichung der Seufzer, die sich in diesen Bitten ausdrücken, verhindern könnte. Jesus Christus hat gesiegt und lädt uns jetzt ein, an seinem Siege teilzunehmen. Um die Freiheit zu haben, diese Seufzer auszustoßen „Ach, daß doch Dein Name … Dein Reich … Dein Wille …“, machen wir uns die Einladung zunutze, die Jesus Christus an uns richtet, Anteil zu nehmen an seinem Siege. Das ist der richtige und gute Grund dessen, was ich die Kühnheit und Verwegenheit dieses Anrufs „Gib uns … Vergib uns .. ge­nannt habe; der Grund, aus dem wir es wagen, Gott auf diese Weise nahe zu tre­ten. Denn dieser Anruf ist erstaunlich, das wollen wir anerkennen. Er kann nur geschehen in der großen Freiheit, die von der Dienstverpflichtung der Kinder Got­tes, der Brüder und Schwestern Jesu Christi, herkommt.

Das sind die zwei wesentlichen Gesichtspunkte dessen, was ich die Änderung der Haltung zwischen den beiden Teilen des Vaterunsers nenne. Diese Änderung ist letzten Endes nichts anderes als die Kon­sequenz der Freiheit, die den ersten Teil des Vaterunsers beherrscht.

Gehen wir jetzt an die Erklärung. Doch vergessen wir nicht, daß jede Ent­wicklung nur ein Versuch sein kann. Wir folgen derselben Ordnung wie im Vor­hergehenden: zuerst die Erläuterung der Begriffe; dann die Art und Weise, wie Gott diese Bitte erhört und schon erhört hat; endlich werden wir die Bitte selbst aufmerksam betrachten.

Wir müssen uns erinnern, daß unsere Re­formatoren Luther und Calvin nicht auf­gehört haben, auf diesen Punkt Gewicht zu legen: Gott hat uns schon erhört; darum haben wir die Freiheit zu beten; darum bekommen wir auch das Gebot zu beten. Man kann keine Bitte des Vater­unsers auf eine andere Art verstehen.

Unser täglich Brot gib uns heute

In „unser Brot“ haben einige unserer Reformatoren (und wir können es mit ihnen tun) all das mit hineingenommen, was wir nötig haben, um zu leben.

Wer den Kleinen Katechismus Luthers kennt, erinnert sich an die berühmte Liste, die er aufstellt, um den Sinn des Wortes „Brot“ zu erklären: Essen, Trin­ken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Äcker, Vieh, Geld, Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und ge­treue Oberherren, gut Regiment, gut Wetter (nicht zu heiß und nicht zu kalt!), Gesundheit, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn. Das sind nicht wenig Dinge! Man findet in dieser Liste die Notwen­digkeiten und Lebensbedingungen des bürgerlichen deutschen Bauern aus dem XVI. Jahrhundert wieder. Und nichts hindert uns, diese Liste entsprechend den Bedürfnissen • unserer Zeit und unserer besonderen Situationen auszulegen und zu vervollständigen. Es ist sicher erlaubt, an das tägliche Brot in diesem weiten Sinn des Worts zu denken. Ich lege trotz­dem Wert darauf zu unterstreichen, daß es sich empfiehlt, das ursprüngliche Wort „Brot“ in seiner ganzen Einfachheit nicht aus den Augen zu verlieren. In der bib­lischen Sprache hat das Brot zwei Be­deutungen.

1. „Brot“ ist das, was schlechthin uner­setzlich ist um zu leben, das Mindestmaß an Nahrung, das selbst der Arme nicht entbehren kann, das Existenzminimum für den Bettler, den Landstreicher. Es ist entgegengesetzt dem Begriff „Hun­ger“. Gott bitten, er wolle uns das Brot geben, das bedeutet: Zuflucht nehmen zu seiner freien Gnade, die uns am Rand des Abgrundes von Hunger und Tod hält und erhält. Werden wir dieses Minimum, das uns erlaubt, heute zu leben, auch morgen haben? Das ist die Lebensfrage. Jetzt leben wir davon. Aber morgen? Niemand weiß es. Es gibt keine Garantie, wenn Gott uns nicht das nötige Brot und mit unserem Brot das Leben gibt. Die Kinder Gottes kennen diese Unsicherheit unseres Daseins und der menschlichen Lage im allgemeinen. Ob sie arm oder reich sind, sie wissen, daß wir ein Volk in der Wüste sind. Wir sind dieses Volk Israel, schon zuvor beschäftigt mit der Sache Gottes. Darum wagen wir es, ihn zu bitten, er wolle uns vom Hunger, vom Tod erretten. Wir bitten ihn unter dieser ganz und gar primitiven Gestalt ums Brot, denn es ist nicht selbstverständlich, daß wir es morgen haben werden.

2. Im Alten und Neuen Testament ist das Wort „Brot“ auch das zeitliche Zei­chen der ewigen Gnade Gottes. Dieses Wort hat dort auf einmal einen viel ein­facheren, natürlicheren und materielleren Sinn und gleichzeitig einen tieferen und erhabeneren Sinn als wir denken. Dieses Natürliche und dieses Erhabene sind innig verbunden. Sie sind ein Zeichen Gottes, das diesem Volk in der Wüste gegeben wird, den Armen, den Niedergeschlagenen, denen, die Hunger und Durst haben, die sich im Rachen des Todes befinden. Auf Grund dieser Bedeutung ist das Brot eine geheiligte Sadie. Das Brot ist die Verheißung und nicht nur die Ver­heißung, sondern auch die geheimnis­volle Gegenwart dieser Nahrung, die ernsthaft und für immer ernährt. Dieser Nahrung, die, nachdem sie verbraucht ist, nicht wieder ersetzt zu werden braucht. In der Bibel ist jede Mahlzeit, die be­scheidenste wie die festlichste, eine ge­heiligte Sache, denn sie ist die Verhei­ßung eines Festmahls, eines ewigen Freudenmahls. In der Bibel ist das leib­liche und zeitliche Leben geheiligt, weil es die Verheißung des unsterblichen, ewigen Lebens ist.

Dieses Wort „Brot“ ist, wie wir gesehen haben, dem Wort „Hunger“ gegenüber­gestellt. Aber das ist es auch in jener Fülle des Lebens, die wir in dem neuen Äon, in der kommenden Welt kennen­lernen werden. Dieses wirkliche Brot, das wir essen, ist das Pfand und auch das Zeichen, und zur gleichen Zeit wie das Zeichen die Gegenwart dieser Fülle. Das ist’s, was hier „unser Brot“ genannt wird. „Gib uns unser Brot“ bedeutet also: Gib uns dieses für die Gegenwart nötige Mindestmaß; und gleichzeitig: Gib es uns als Zeichen, als vorausgenom­menes Unterpfand unseres Lebens. Nach Deiner Verheißung empfangen wir, in­dem wir es in dieser Zeit empfangen, auch die Gegenwart Deiner ewigen Güte, die Zusicherung, daß wir mit Dir leben werden.

Eine große Diskussion hat sich erhoben über den Ausdruck „täglich“. Dieses Wort stellt allerlei Rätsel und Probleme, die ich hier nicht aufrühren will. Epioúsios (täglich) bedeutet: für jeden Tag, für den Tag, der kommt. Gib uns heute unser Brot für jeden Tag, das Brot, das wir morgen nötig haben. Wir leben in der Gegenwart, aber werden wir in der nächsten Minute leben? am nächsten Tag? Werden uns bis dahin Hunger und Tod verschonen? Das ist die konkrete Frage, die uns mit der Unsicherheit un­serer Lage konfrontiert. Wir erinnern uns an Matthäus 6, wo Jesus uns auf for­dert, nicht für unser Leben zu sorgen, was wir essen und was wir trinken wer­den. Calvin hat sicher recht, wenn er in seinem Kommentar hinzufügt, man müsse freilich arbeiten, um die Nahrung für den morgigen Tag zu sichern.

Aber auf diese Frage: „Werden wir mor­gen leben?“ können weder die Unruhe noch die Arbeit eine Antwort geben. Das Gebet ersetze die Unruhe und be­gründe unsere Arbeit für morgen! Die Kinder Gottes beunruhigen sich nicht um die Arbeit. Sie arbeiten, weil sie beten. Aber muß nicht hier der andere Sinn des Wortes „Brot“ eingreifen? Die Unruhe um den zeitlichen anderen Morgen bil­det im voraus die Unruhe um den ewigen anderen Morgen ab. Denn diese zeitliche Unsicherheit kann sich nicht der Un­sicherheit des menschlichen Geschicks gleichstellen. Quid sum miser tunc dicturus? Was soll dann ich Armer sagen? — wie es im Requiem heißt. Diese Furcht verwandle sich und werde zu einem Ge­bet! Die Kinder Gottes, die die Unge­wißheit des menschlichen Lebens und alles, was für uns Gegenstand der Furcht in Zeit und Ewigkeit ist, kennen — die Kinder Gottes hoffen, heute (jawohl, heute!), mit dem Brot und unter der Ge­stalt des irdischen Brotes das Unterpfand, ja sogar die Erstlinge des Brotes zu empfangen, das sie ewig nähren wird, das sie nähren wird an jenem eschatologischen anderen Morgen.

Sehen wir jetzt nach dem Sinn dieses Wortes! Wenn wir Gott bitten, er möge uns unser irdisches und himmlisches, stoffliches und überstoffliches Brot ge­ben, so setzt das voraus, daß wir Gott in seiner Eigenschaft als Geber kennen. Wir haben’s schon gesagt: um Gott in Kenntnis der Sache zu bitten, muß man in der Gewißheit der Erhörung bitten. Auf’s Abenteuer hin beten, ohne diese Gewißheit zu haben, ist nicht beten. Es muß also unser Gebet mit diesem Vorverständnis beginnen: Du gibst uns unser Brot für morgen, ja, Du gibst es uns heute. Du, Du bist unser treuer Schöpfer und Du hörst nicht auf, es zu sein, keinen Augenblick, keine Minute. Wir sind ein Volk in der Wüste, und doch finden wir uns umgeben von dem Glanz und dem Reichtum der Schöpfung und aller Kreaturen und von diesem Bund der Gnade, den Du zwischen Dir und uns stiften wolltest. Du willst nicht unseren Tod, Du willst unser Leben.

Von Deiner Seite, in dem, was Dich be­trifft, kann gar nichts fehlen. Es gibt Überfluß an Brot für uns und für alle, die sich uns in dieser Bitte anschließen könnten, Überfluß an Brot für jedermann. Keiner soll Gefahr laufen, daß der Hun­ger oder der Tod uns überrasche. Du bist bereit, alle die zu erhalten, die Du berufen wolltest, Deiner Ehre zu dienen. Alles was Du uns gibst, ist wahrhaftig das Unterpfand einer lebendigen Nah­rung, jene Fülle, in der wir ewig leben werden. Wir wissen es, weil Du unser Vater im Himmel, unser Vater in Jesus Christus bist. Mit ihm leben wir, mit ihm, der uns berufen hat, ihm nachzu­folgen, ihn zu begleiten, noch fern für den Augenblick, aber wir begleiten ihn trotzdem. Und da Du sein Vater bist, bist Du auch der unsere; deshalb wissen wir, daß Du uns das Mahl bereitet hast, das vollständige, zeitliche und ewige Festmahl. Und wir hören auf Deine Stimme, die uns einlädt, Gäste an Dei­nem Tisch zu sein. Wir haben’s nötig, diese Stimme zu hören, die uns ruft, und wir können sie nicht vergessen: „Kommet, denn es ist alles bereit“. Das ist’s, was uns antreibt, zu beten und was uns die Freiheit gibt, zu Gott zu sagen: Gib uns heut unser täglich Brot!

Wir müssen auch sagen: Mach es so, daß Du uns nicht vergebens gibst, daß wir wirklich dieses Brot empfangen, das Du auf Deinem Tisch im Abendmahl bereitet hast, daß wir es aus Deinen Händen nehmen, dieses Brot, das Du für uns ge­schaffen hast und das Du uns gibst. Hilf uns doch, erleuchte uns! Daß wir uns nicht verhalten wie satte Spießbürger oder wie Feinschmecker in dem Augen­blick, da Du uns von neuem dieses un­begreifliche und unvergleichliche Geschenk gibst, dieses Geschenk Deiner Geduld und unserer Hoffnung! Mach es so, daß wir dieses Geschenk nicht vergeuden, nicht zerstören! Schaffe, daß jeder ohne Streit und ohne Klage sein Brot emp­fange! Schaffe, daß, wenn jemand Über­fluß an diesem Brote hat, er sich durch diese Tatsache selbst als ein Diener und Verwalter Deiner Gnade eingesetzt wisse; und daß er zu Deinem Dienst und zum Dienst an anderen da sei! Schaffe, daß die, die besonders vom Hunger, vom Tod und von jener Unsicherheit der menschlichen Beschaffenheit bedroht sind — daß diese Menschen da Brüdern und Schwestern begegnen, die offene Augen und Ohren haben und die sich zur Rück­sicht auf sie verpflichtet fühlen. Welch eine Schande ist doch unsere soziale Un­dankbarkeit und Ungerechtigkeit! Welch eine Dummheit und Stumpfsinnigkeit, daß in dieser Menschheit, die von Dei­nen Gaben umgeben und von Reich­tümern erfüllt ist, es noch Leute gibt, die vor Hunger krepieren!

Mach es so, daß wir die Nahrung emp­fangen, die uns nötig ist, daß wir sie empfangen, wie Du sie uns gibst, das heißt als ein Zeichen und eine Verhei­ßung! Und indem wir uns über dieses Zeichen freuen und Dich loben (lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß keine seiner Wohltaten!), freuen wir uns im voraus über die Gegenwart der Dinge, die Du uns verheißest, und darüber, daß wir schon heute Anteil bekommen an diesem Festmahl, bei dem Du von Ewig­keit zu Ewigkeit den Vorsitz führen wirst!

Wir sehen, es gibt etwas zu beten! Ja, es ist unsere Sache, die im Spiel ist. Da sind wir gänzlich in der Abhängigkeit von Gott. Er muß wohl unsere Sache zu der seinigen machen, damit sie unter­stützt und siegreich werde. Und wir, wir sind da mit der Freiheit, ihn ohne Furcht anzurufen, in der Gewißheit, daß er hört. Und was wir ihn bitten, das hat er immer getan und das wird er immer tun.

Vergib uns unsere Beleidigungen (offenses)

Was wir übersetzen mit dem Ausdruck „unsere Beleidigungen“, bedeutet wört­lich: unsere Fehler, unsere Schulden, das heißt das, worin wir versagen in unse­rer Beziehung zu Gott, in dem, was wir ihm schuldig sind. Wir haben ihm gegen­über eine Schuld. Und wenn wir nicht bezahlen können, dann bleiben wir in Schulden. Wenn man eine Schuldigkeit, die einem obliegt, nicht erfüllt, dann ist man in Schulden. Man kann gerecht sein und ist trotzdem schuldig. Es ergibt sich, daß wir den beleidigen, dem gegenüber wir fehlerhaft, unzuverlässig sind.

Wir sind die Schuldner Gottes. Wir schulden ihm nicht irgend etwas, weder wenig noch viel, sondern ganz einfach unsere Person in ihrer Ganzheit, uns sel­ber als Geschöpfe, die von seiner Güte gehalten und ernährt werden. Wir, seine Kinder, von seinem Wort gerufen, zum Dienst seiner Verherrlichung zugelassen, wir Brüder des Menschen Jesus Christus, wir versagen in dem, was wir Gott schul­dig sind. Was wir sind und tun, ent­spricht keineswegs dem, was uns gege­ben ist. Wir sind seine Kinder und wir verstehen nicht ihn anzuerkennen. Cal­vin sagt: Jeder, der sich weigert, zu be­kennen, daß wir Gott beleidigen wie Schuldner, die nicht bezahlen, der schließt sich von der Christenheit aus. Und Luther: Vor Gott ist jeder gezwungen, seine Eitelkeit abzulegen. So erkennt man in der Christenheit diesen Stand der Dinge an. Und wir sind unfähig, hier Wandel zu schaffen. Während wir von seiner Einladung Gebrauch machen und uns be­mühen, zu gehorchen, indem wir diese Dinge tun, vermischen wir, die wir beten, damit unsere eigenen Ideen, unsere eige­nen Zwecke, unsere Moral, unsere Re­ligion, und wir befinden uns in der Ver­pflichtung, immer von neuem anzuerken­nen, daß wir unwürdig sind, ihm zu die­nen und daß wir, sofern wir auf uns blicken, ohne Hoffnung vor seinen Augen sind.

Denn selbst indem wir als Christen leben, vermehren wir unsere Schuld, er­schweren wir den Wirrwarr unserer Lage. Das steigert sich von Tag zu Tag. Und ich denke, je älter man wird, desto mehr zieht man die Bilanz, daß es von unse­rer Seite keine Hoffnung gibt. Die Dinge werden schlimmer und schlimmer. Wir finden uns ganz auf den Anfang des Vaterunsers zurückgeworfen und dieser Frage gegenübergestellt: Wie können wir die Kühnheit haben, uns Gott zu nähern? Wenn wir in unserem Eifer für seine Sache darauf unsere eigenen Bedürfnisse vor ihm ausbreiten — wer sind wir, um den Anspruch zu stellen, Gottes Mit­arbeiter zu sein? und zu Gott zu sagen: Beschäftige dich mit mir, mit uns! Gib uns! Uns, die wir Deine Beleidiger sind! Alles scheint noch einmal in Frage ge­stellt zu sein.

Was bedeutet „vergeben“? In dem rei­nen, idealen Fall bedeutet das: unseren Schuldner so betrachten, wie wenn er uns gar kein Unrecht getan hätte. Ihm seine Verfehlung nicht anrechnen, ihm die Härte dieser Straffälligkeit, worin er sich befindet, worin er sich selber sieht, nicht vorhalten. Im Gegenteil, mit ihm auf einer weißen Seite wieder anfangen. Ihm 93 eine neue Chance geben. Vergib uns!

Diese Bitte schließt jede Art von An­spruch unsererseits aus. Sie schließt für uns jedes, auch das kleinste Recht, aus, vor Gott etwas zu beanspruchen, was es auch sei. Weder die Beleidigung des Menschen noch der Mensch selbst als Beleidiger können entschuldbar sein. Der Mensch ist unverzeihlich. Er hat kein Recht, den Nachlaß seiner Schuld zu be­anspruchen. Das Recht, Schuldige wieder in die Stellung von Kindern Gottes ein­zusetzen, kann nur dem gehören, den wir beleidigt haben; dies kann nur das Recht des Gläubigers oder Herrschers sein, dieses Königs, den wir hintergangen haben, in dessen Dienst wir uns verfehlt haben und immer verfehlen. Dieses Recht kann nur das der freien Barmherzigkeit Gottes sein. Wir bitten also Gott, er wolle gegen uns von diesem Recht Ge­brauch machen, das in seiner Gnade be­steht. Wir können uns ihm anvertrauen. Aber ohne den völligen Verzicht auf irgendein Recht unsererseits wüßte man nicht zu beten, wie sich’s gebührt.

Wie auch wir vergeben denen, die uns beleidigt haben

Ist das eine Art Vorbedingung, die wir uns selber zu stellen hätten, um die Ver­zeihung Gottes zu erlangen? Nein. Das ist ein notwendiges, entscheidendes Kennzeichen, ein Kriterium, um die Ver­zeihung Gottes zu verstehen. Denn jeder, der weiß, daß er der Barmherzig­keit Gottes ausgeliefert ist, daß er nicht ohne göttliche Vergebung existieren kann, jeder, der eine solche Erfahrung erlebt hat, kann nicht anders tun, als den anderen, die ihn beleidigt haben, ver­zeihen. Wir sind gegeneinander alle Be­leidiger, Schuldiger, und wir sind das jeden Tag. Und selbst wenn die Schul­den unserer Beleidiger uns sehr groß er­scheinen, sind sie doch immer noch un­endlich leichter als die unsrigen gegen­über Gott. Wir, die wir so große Schuld­ner sind — wie könnten wir die gött­liche Vergebung für uns erhoffen, wenn wir nicht diese kleine Sache tun wollten, nämlich denen verzeihen, die uns belei­digt haben? Die Hoffnung, die man für sich selber hat, öffnet notwendig das Herz, das Gefühl, das Urteil im Blick auf die anderen. Das ist kein Verdienst, keine moralische Anstrengung oder eine Art von Tugend, verzeihen zu können. Sie sind aufreizend, diese Leute mit dem ewigen Lächeln, die einem nachlaufen, um einem zu verzeihen.

Die menschliche Verzeihung ist eine schöne Sache, eine fast zur Natur gehörige Notwendigkeit. Da sehen wir diese armen Geschöpfe, unsere Beleidiger, im Licht der göttlichen Vergebung und denken selbst in den schwierigen Fällen: Es ist nicht so schwerwiegend. Richten wir uns nicht häuslich ein in den Beleidigungen, die uns angetan worden sind, gefallen wir uns nicht darin! Be­wahren wir ein wenig Humor im Blick auf unsere Beleidiger! Haben wir doch für die anderen diese kleine Bewe­gung der Vergebung, der Freiheit! Man muß in dieser Tat nicht gleich ein Stück moralischer Aufrüstung eines guten christlichen Ritters sehen. Es ist weder ein Helm noch ein Säbel, die uns stolz und stark machen könnten, sondern etwas, das natürlich sein muß. Wer nicht diese ganz kleine Freiheit hätte, wäre für die göttliche Vergebung nicht zugänglich. Man müßte von ihm sagen: Er versteht nicht zu beten, er kann also auch nichts empfangen. So stehen wir nicht einer Er­mahnung gegenüber: Auf! Vergebet! sondern vor einer schlichten Feststellung: wenn die Vergebung Gottes empfangen ist, macht sie fähig, zu vergeben. Die Vergebung Gottes ist etwas, das sich auf der göttlichen Ebene ereignet. Man kann keinen Vergleich ziehen mit dem, was sich auf der menschlichen Ebene ereignet; aber es muß sich doch diese kleine Sache auf der menschlichen Ebene der Ver­gebung von Beleidigungen verwirklichen. Wie könnte ich etwas für mich erhoffen, wenn ich das nicht selber meinem Näch­sten gewähre?

Ich kann mich nicht der Verpflichtung entziehen, dieses kleine Stück zu geben. Indem ich es tue, kann ich mich nicht würdig machen, die Vergebung Gottes zu empfangen; ich werde nur ganz ein­fach meine Hoffnung und mein Gebet für rechtsgültig erklären.

Man muß wohl verstehen, was die Ver­gebung Gottes ist. Es handelt sich da nicht um eine ungewisse Hoffnung, um ein Ideal, das man sucht oder sich ein­bildet. Es ist eine Tatsache. Ehe ich darum bitte, hat Gott schon seine Ver­gebung gewährt. Wer das nicht wüßte, würde vergeblich beten. Die Vergebung ist schon geschenkt; das ist die Wirklich­keit, von der wir leben.

Unser Vater in dem Himmel… Ja, Du hast uns unsere Beleidigungen vergeben. Ehe ich sage: „Vergib mir“, hast Du schon Dein Recht der Barmherzigkeit, die Gerechtigkeit Deines Erbarmens, Dein Recht, nicht unsere Schulden zu betrachten und uns nicht als Beleidiger zu betrachten, aufgestellt und angekündigt. In Deinem Sohn hast Du die Rollen zwischen Dir, dem heiligen und gerechten Gott, und uns, den verräterischen und ungerechten Menschen, vertauscht. Du hast Dich an unseren Platz gestellt, um die Ordnung zu unseren Gunsten wiederherzustellen. Du hast gehorcht und gelitten für uns, Du hast unsere Schuld, die Schulden der ganzen Menschheit aufgehoben. Und Du hast es ein für allemal getan.

Du hast diese Schulden, die uns seit un­serer Geburt und bis zu unserem Tode begleiten, getilgt, und ebenfalls die, die wir jeden Tag und in jedem Augenblick auf die eine oder andere Art begehen. Diese Fehler, die wir nur zu gut kennen, und die anderen, die wir nicht sehen können, die aber eines Tages enthüllt werden, wenn das Buch der Abrechnung aufgeschlagen wird. Wir werden uns dann so sehen, wie wir Dir gegenüber sind. Du hast alle diese Schulden getilgt, Du hast zuvor einen neuen Menschen ge­schaffen (ein neues „Wir“ und ein neues „Ich“) ohne Fehl, ohne Sünde, einen Menschen, der Dir gefällt, der in Deinen Augen gerecht, rein und ohne Flecken, ohne Tadel ist. Du hast ihn zuvor geschaffen, diesen Menschen, und Du hast uns versammelt um ihn, um das Kreuz Deines Sohnes, damit wir Zeu­gen unseres Urteils seien; denn wir müssen uns diesem Urteil unterzie­hen, diesem Tod, den er an unserer Stelle übernommen hat, um uns zu be­freien.

Du hast uns Deinen Heiligen Geist ge­geben, damit das Werk dieser Schöpfung, das Du in diesem neuen Menschen Jesus Christus erfüllt hast, in uns eine leben­dige Sache werde; damit Deine Gnade, die sich in diesem Ereignis erweist, unser werde. Weil Du das alles in Deinem Sohn getan hast und weil Du durch Dei­nen Heiligen Geist handelst, erlaubst Du uns nicht mehr, zu zweifeln, noch auch in der Ungewißheit und im Unbehagen angesichts unserer Sünden zu bleiben. Unsere Schulden sind künftig Deine An­gelegenheit, nicht die unsrige. Du ver­bietest uns, rückwärts zu blicken, Du ver­bietest uns, daß wir uns niedergedrückt und gleichsam angekettet an unsere Ver­gangenheit fühlen, an das, was wir heute sind und tun und sogar an das, was wir morgen sein und tun werden.

Diese Art und Weise, immer die Blicke auf unsere Sünde zu richten, statt zu Dir aufzublicken, ist vergangen. Du hast uns von dieser Vergangenheit abgeschnitten. In Jesus Christus hast Du aus mir eine neue Kreatur gemacht, da erlaubst und gebietest Du mir, im Blick nach vorwärts zu leben. Nicht, indem wir leichtsinnig nehmen, was wir sind und tun oder was wir gewesen sind und getan haben, auch nicht, indem wir unsere Zuversicht auf das setzen, was wir sein oder tun werden. Sondern im Gegenteil, indem wir immer auf der Hut sind, indem wir wis­sen, daß wir Gerichtete sind und sein werden; aber auch, indem wir uns auf Dich und das, was Du getan hast, ver­lassen, auf dieses Urteil, das Du gefällt, auf diesen Tod, den Du für uns gelitten hast. Es handelt sich um etwas, das voll­bracht ist (tetélestai, Joh. 19,30). In­dessen ist diese Vollendung auch für uns eine Zukunft, die Du uns vorher ver­schafft hast. Wir haben nur zu gehen auf der Bahn, die in Richtung auf unsere Zu­kunft eröffnet ist. Indem Du uns ver­gibst, hast Du uns die Freiheit gegeben, diese Bahn zu durchlaufen.

Aber wir müssen wohl verstehen, daß es uns nicht möglich ist, ernsthaft so zu Gott zu sprechen, oder seine Vergebung zu erlangen, ohne daß wir bitten: Vergib uns unsere Sünden! Es handelt sich jetzt darum, auf diese vollbrachte Zukunft zu­zugehen. Es ist an uns, zu glauben und diesen durch den Tod Jesus Christi in Gang gekommenen Anfang zu verwirk­lichen.

Daß wir doch also unser Leben leben möchten so wie es ist, nämlich vereinigt mit dem seinigen; daß wir unseren Platz da einnähmen, wohin Er uns gestellt hat, wo wir in Wirklichkeit sind, wo Er für uns gelitten, gehorcht und gelebt hat. Daß wir diesen neuen Menschen, den Gott in Christus zuvor geschaffen hat, wieder anzögen! Daß wir doch lebten, nicht gleichgültig wie, sondern in der Wirk­lichkeit dessen, was Gott für uns getan hat! Daß wir dem Heiligen Geist doch nicht widersprächen, wenn er uns doch versichert, daß wir Deine Kinder sind, daß wir es sind, nicht, weil wir es verdienen, sondern um Deiner freien Barmherzigkeit willen, weil Du die Sünde im Fleisch besiegt und Deine armen Ge­schöpfe zur Höhe des Himmels erhoben hast! Daß doch Deine Vergebung uns mehr und mehr heilige, trotz allem, was wir waren und noch sind und sein wer­den! Wir wissen, daß unsere Heiligkeit niemals eine andere Sache sein wird als Deine Heiligkeit, und daß sie über unsere Angst und Not, über unsere ganze Un­reinheit triumphieren wird. Ja, daß doch Deine Vergebung uns heilige bis zu je­nem Tage, da Du in der Wiederkehr Dei­nes Sohnes alles, worin wir gefehlt ha­ben, unsere Schandtaten, unsere Schul­den, alles was wir verheimlicht haben, zum letzten Mal, ausgebreitet unter Dei­nem Licht, offenbaren wirst. Aber — noch größere Sache! — Du wirst uns Dein Recht, uns zu verzeihen, Du wirst uns die Gerechtigkeit Deines Erbarmens, die über unser Elend die Oberhand gewonnen hat, offenbaren. Vergib uns: gib uns heute und für die Tage, die Deine Ge­duld uns noch gönnt, in der Freiheit die­ser Vergebung, die Du uns geschenkt hast, zu leben!

Ja! Es gibt etwas zu beten! Und wenn wir nachdenken über die Vergebung, die wir den anderen gewähren müssen, wie­viel mehr fühlen wir da, daß man beten muß. Denn wenn wir uns weigern, diese kleine Geste zu erfüllen, sind wir weit davon entfernt, die göttliche Vergebung begriffen zu haben.

So bekennen wir in dieser fünften Bitte unseren Bankrott, und wenn einer das nicht tun will, muß er darauf verzichten, Gott um Vergebung zu bitten. Wir müs­sen anerkennen, daß unsere eigene Sache verloren ist. Wenn wir es anerkennen, wird sie für uns eine siegreiche Sache, denn sie ist dann in der Hand dessen, der vergeben hat und noch vergibt.

Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen

Hier ist die Rede von der großen Ver­suchung. Es handelt sich nicht nur um das Übel, sondern um das Böse (und den Bösen).

Es gibt kleinere Versuchungen, Sünden, die nicht zum Tode führen. Ich möchte fast sagen: vorläufige Versuchungen, die Gott uns alle Tage schickt, und die ver­schieden sind nach unserem Alter; es gibt solche für die Jugend, für die weni­ger Jungen und für die Alten. Gott schickt sie uns, weil sie uns nötig sind. Das sind Versuchungen, denen man widerstehen kann. Im Jakobusbrief steht sogar geschrieben, daß sie ein Gegen­stand der Freude sein können: „Haltet es für lauter Freude, wenn ihr in man­cherlei Versuchungen fallet“ (1,2); „Se­lig ist der Mann, der die Versuchung geduldig erträgt“ (1,12). Es gibt Übel, die sind eine Ursache zum Leiden inner­lich und äußerlich, die sind vielleicht schwer und sehr unerwünscht; dennoch sind sie, aus der Nähe betrachtet, er­träglich. Man kann sogar mit Paulus sa­gen, daß sie „denen, die Gott lieben, zum Besten dienen“ (Röm. 8,28). Man soll nicht bitten, um jeden Preis von den Versuchungen, von diesen Übeln, ver­schont zu bleiben. Man hätte Unrecht, wenn man zu Gott sagen wollte: Laß mich nicht da hinein kommen, wohin Hiob und David und alle Deine Heiligen hineinkommen mußten, wie Du in Deiner Absicht, die immer gut ist, es gewollt hast. Man täuscht sich, wenn man schreit: Erlöse uns von allem, was für uns eine Gefahr oder ein Grund zu Kummer sein könnte. In der sechsten Bitte des Vaterunsers ist nicht die Rede von Übeln dieser Art, von diesen kleineren Ver­suchungen, die einen bedingten und er­träglichen Charakter haben.

Aber es gibt die große, die eschatologische Versuchung, die ohne Zweifel in einer kleineren Versuchung sich kundtun kann, die aber an sich eine andere Sache ist, nämlich das Werk des Bösen. Die moralischen und körperlichen Prüfungen können in der Tat mit diesem Werk Zu­sammentreffen, sie können der Ausdruck der unheilvollen Aktion des Bösen sein. Aber man muß unterscheiden. Es han­delt sich da nicht um eine gewöhnliche Drohung, deren man sich klar bewußt wäre und der man Widerstand leisten könnte. Es ist vielmehr die Rede von der unendlichen Bedrohung des Nichtigen, das sich Gott selber entgegenstellt; von einer Bedrohung, die für das Geschöpf nicht nur eine vorübergehende Gefahr, eine Zerstörung von zweitrangiger Be­deutung, eine augenblickliche Verderbnis nach sich zieht, sondern den vollständigen Sturz, die endgültige Vertilgung. Das ist die äußerste Versuchung. In ihr gibt es nichts Gutes, nichts das uns nützlich sein könnte. Sie ist ohne Frucht, und wenn sie uns erreicht, kann man nicht von ihr sagen: Freuet euch darüber. Sie ist ohne Hoffnung. Es gibt ein unerträgliches, unausstehliches Übel, das nicht im Wettbewerb mit dem Guten ist. Diese Bedrohung existiert; sie macht ihre Ge­genwart kund. Dieses äußerste und unermeßliche Übel gehört nicht zur Schöp­fung. Es gibt Übel, die zur Schöpfung gehören; wir haben gesagt, sie sind re­lativ und erträglich. Aber dieses da hat nicht Anteil an den Dingen, die Gott gewollt und geschaffen hat. Es ist an der Grenze seiner Schöpfung zur Linken, wie Gott selbst deren Grenze zur Rechten ist. Dieses absolute Übel drängt sich der Schöpfung auf unter der Gestalt, die wir alle kennen: als die Sünde und der Tod. Es erscheint in der unrechtmäßigen, un­begreiflichen und unerklärlichen Ober­herrschaft dessen, den die Schrift den Teufel nennt. Das Geschöpf ist ohne Verteidigung gegenüber dieser Bedro­hung. Gott ist ihr überlegen, aber nicht das Geschöpf. Einmal am Platz, übt der Teufel Verwüstungen ohne Ende aus, gegen die wir außerhalb des Schutzes, den Gott gibt, nichts vermögen. Da, wo Gott abwesend, wo Er nicht der Meister ist, ist es der andere, der herrscht. Es gibt keine andere Wahl.

Unsere Reformatoren, Luther wie Cal­vin, kannten nicht nur die kleinen Ver­suchungen, sondern auch die große. Sie wußten, daß sie es mit dem Bösen zu tun hatten. Sie hatten für ihn keinen Respekt, denn er ist nicht respektabel. Aber sie wußten, daß er existiert. Sie haben nicht nur mit der Bosheit der Menschen gerechnet, mit dem Papst und mit all denen, die sich ihrer Tä­tigkeit widersetzten. Nein, sie wußten, daß es nicht nur die Opposition der Menschen gibt. Es gibt den Bösen, der alle jene Dinge, die uns beunruhi­gen und mit Sorge erfüllen, schlecht macht. Der Feind Gottes ist auch der Feind seines Geschöpfes. Um diese letzte Bitte gut zu beten, muß man wissen, daß die Reformatoren richtig gesehen haben.

Fern liegt mir der Gedanke, den Teufel zu predigen. Man kann ihn nicht predi­gen und ich habe keineswegs die Ab­sicht, Ihnen Angst zu machen. Aber es gibt doch eine Wirklichkeit, über die wir modernen Christen allzu leicht hin­weggehen. Es existiert ein überlegener, unausweichlicher Feind, dem man nicht widerstehen kann, wenn Gott uns nicht zu Hilfe kommt. Ich liebe die Dämono­logie, eine Lehre von den Dämonen, nicht, noch auch die Art, wie man sich heute in Deutschland und vielleicht auch anderswo damit beschäftigt. Stellen Sie mir keine Fragen über die Dämonen! Ich bin kein Kenner. Trotzdem muß manwissen, daß der Teufel existiert, aber dann muß man alsbald sich beeilen, sich von ihm zu entfernen.

Wir bitten Dich, unser Vater, Du wol­lest uns so leiten, daß es uns gegeben werde, diese Grenze zur Linken, diese Verderben bringende Grenze zu vermei­den. Leite uns, Deine Kinder, die Ge­retteten Jesu Christi, führe uns! Erspare uns — nicht den Kampf (ihn muß man annehmen), nicht die Leiden (sie muß man wohl erleiden), aber erspare uns die Begegnung mit diesem Feind, der stärker ist als alle unsere Kräfte, listiger als unsere Klugheit (mit Einschluß der Klugheit, die wir in unserer Theologie einsetzen!), gefährlicher gefühlvoll — denn der Teufel ist auch gefühlvoll — als wir selbst dessen fähig sind. Er ist frömmer (ja, der Teufel ist auch fromm!) als unsere ganze christliche, alte und moderne oder theologische Frömmigkeit. Bringe uns in Sicherheit vor einer Möglichkeit des Bösen, vor der wir uns nicht bewahren könnten, und die uns gründlich und endgültig abstumpfen würde!

Das ist für uns nicht eine Versuchung unter vielen anderen, ein bißchen trau­riger oder finsterer, sondern das ist die äußerste Versuchung, wo das Unmögliche möglich wird.

Erlöse uns von dem Bösen

Wir konstatieren und empfinden seine Macht. Offen gestanden ist sie nur eine Pseudo-Macht, eine Lügen-Macht. Sie ist keine wirkliche Macht. Schrecklich ist, daß sie handelt, obgleich sie unwirklich ist. Es nützt nichts, sie deshalb zu baga­tellisieren, weil sie unwirklich ist. Die Gefahr besteht darin, daß sie eine heimtückische, hinterlistige Macht ist. Aber sie herrscht in einem Sinn, der nur allzu wirklich ist. Sie hat Gewalt über uns, weil wir Sünder sind. Wir haben ihr nachgegeben. Wir befinden uns im Rachen des Todes. Wir beklagen uns darüber, wir leiden darunter, aber wir können uns nicht davon befreien.

Das griechische Wort rhýsai bedeutet nicht nur: Erlöse uns, sondern reiß‘ uns heraus aus diesem Rachen! Die Psalmen im Alten Testament hallen von Anfang bis Ende wider von diesem Schrei: Reiß‘ uns heraus! Und die Christenheit nimmt in der sechsten Bitte diesen Schrei wieder auf. Denn sie kennt diesen Feind, weil sie Jesus Christus kennt. Sie weiß, daß Er nicht nur dem bösen Willen des Men­schen, sondern auch dem Feind Gottes und seines Geschöpfes Trotz geboten hat. Es brauchte den Sohn Gottes dazu, um die unheimliche Bösartigkeit des Fein­des zu entlarven. Deshalb vollendet sich das Vaterunser mit diesem De profundis. Wenn unser Gebet nicht mit diesem De profundis endigt, antwortet es nicht auf das, was Jesus Christus uns gelehrt hat. Aber diese letzte Bitte setzt auch voraus, daß wir noch besser als über jene Ge­fahr zur Linken folgendes wissen: Gott hat schon getan, was wir ihn bitten. Er hat’s getan, ehe wir daran dachten, so zu bitten, ehe wir diese Bitte formulier­ten: Führe uns nicht in Versuchung! Gott stößt uns wahrhaftig nicht in diese Versuchung. Nein, das tust Du nicht, Du, unser Vater. Wie könntest Du das tun, der Du Dich geoffenbart hast in Deinem Sohne? Du hast nicht ein doppeltes Ge­sicht. Deine Haltung in Hinsicht auf die große Versuchung ist nicht zweideutig, sie ist eindeutig. Der Widerstand, den Du ihr entgegenstellst, ist klar und deutlich. So ist es seit dem ersten Tag der Schöp­fung, seit Du gesagt hast: Es werde Licht! Du, Unser Vater, Du lässest Dich nicht ein mit dem Bösen, Du kennst kei­nen Kompromiß mit ihm, Du zeigst ihm keine Duldsamkeit. Die Bedrohung des Nichtigen wird niemals eine Drohung sein, die von Dir kommt, sie wird nie­mals von Dir geduldet oder zugelassen werden. Im Gegenteil, wenn Du uns führst in Deinen Wegen, in den Wegen Deiner Gaben, Deiner Vergebung, wirst Du uns niemals zur Linken, wirst Du uns immer zur Rechten leiten. Wir können sicher sein, wenn wir Deinem Worte fol­gen, werden wir nicht in die große Ver­suchung geführt werden. Wenn wir dem Weg folgen, den Du für uns bereitet und in Deinem Sohne geoffenbart hast, wer­den wir immer vor dieser Verirrung ge­schützt sein. Du wirst uns von dem Bösen erlösen.

Bist du nicht Gott der Befreier? Ein einziger ist imstande, auf eine entschei­dende Weise zu befreien. Das bist Du. Wir wissen jetzt, daß Du der große Be­freier bist. Du hast Dich persönlich dem Bösen entgegengestellt, diesem Thron­räuber, dessen Regiment abgeschafft werden muß, weil es in Deiner Schöp­fung nichts zu tun hat. Du bist vorge­rückt, um die Mächte dieser Herrschaft des Teufels zu zerstören. Du hast den Satan vom Himmel fallen lassen wie einen Blitz, wir haben ihn fallen sehen. Du hast über die Finsternis triumphiert in der Auferstehung Deines Sohnes. Du hast Deinen Sieg durch so viele Zeichen und Wunder angekündigt; und Du kün­digst ihn noch unter uns an durch die Taufe auf den Namen Deines Sohnes und durch die Gegenwart seines Leibes und Blutes im Abendmahl.

Du, Du hast uns schon herausgerissen aus jenem Rachen. Dir sei die Ehre! Wir ha­ben uns keinen Eindruck mehr machen zu lassen durch die Bedrohung des Bösen noch haben wir sie zu fürchten. Und darum bitten wir: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen! Sei mit uns gegenwärtig, Du, der treue und unfehlbare Führer, der Du uns den Weg zeigst und vor unseren Schrit­ten eröffnest. Du bist der siegreiche Hauptmann, vor dessen Angesicht der Böse nur ein Dummkopf ist, ein lächerli­ches Gespenst, ein Nichts.

Wir wissen, daß es ohne Dich nicht so wäre. Unsere Wege wären nicht der gute Weg. Und unsere moralischen und religiösen Unternehmungen könnten niemals gelingen. Ohne Dich würden unsere Unternehmen, um die Versuchung, das Böse und den Teufel zu besiegen, die Lage nur erschweren. Nur Dir allein kommt es zu, uns zu beschützen, uns aus dieser Stellung herauszureißen. Noch einmal, Dir gebührt die Ehre, Dir, auf den wir unser Vertrauen setzen. Siehe, das ist die letzte Freiheit, die Gott uns gewährt.

Es gibt etwas zu beten. Ohne diese letzte Bitte des Vaterunsers und ohne die Erhörung, die unserer Bitte vorangeht, wä­ren wir nicht nur gefechtsunfähig und in gerichtet, sondern ins Nichtige zurückgeworfen. Dein sei die Ehre! Du hast den vernichtet, der uns vernichten wollte. Du hast uns geliebt, Du liebst uns. Und Deine Liebe ist wirksam. Sie erlöst end­gültig.

3. Der Lobpreis — die Doxologie

Wir wollen nur kurz davon sprechen. Diese Worte: „Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“ gehören nicht zu dem ur­sprünglichen Text des Evangeliums. Sie sind nicht echt; es gibt in dieser Bezie­hung keinen Zweifel. Es ist eine Hin­zufügung, eine Erweiterung, die für den liturgischen Gebrauch des Vaterunsers eingeführt wurde. Die ganze Gemeinde­versammlung sprach oder sang diese Worte als Antwort auf die von dem den Gottesdienst haltenden Diener gespro­chenen sechs Bitten. Aber das hindert uns nicht, nach dem Sinn dieser Worte zu fragen. Woran dachte man in der Urkirche des zweiten Jahrhunderts, wenn man zum Abschluß des Vaterunsers diese Doxologie, diesen Lobpreis, sprach oder sang? Man kann darin eine Beziehung zu der sechsten Bitte erblicken: Erlöse uns von dem Bösen. In der Tat, das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit gehören Gott, nicht dem Teufel, nicht der Sünde oder dem Tod oder der Hölle.

„Denn“ bedeutet: deshalb bitten wir Dich, uns von dem Bösen zu erlösen, weil ja Dir das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit gehören. Oder in anderen Ausdrücken: Zeige, beweise, daß Du der König bist, mächtig und herrlich, indem Du uns von dem Bösen befreist!

Es gibt eine andere Erklärung, die aber die erste nicht zwangsläufig ausschließt. Diese Schlußworte würden das Gebet in seiner Gesamtheit umschließen. Der Ge­danke wäre dann der: Es ist notwendig, zu beten, weil Dir das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit gehören und gar nicht uns, den Menschen, den Christen, den frommen Leuten. Alle diese Dinge, die wir Dich bitten, können nur von Dir getan werden. Darum wenden wir uns an Dich. Der Heidelberger Katechismus erklärt so (Frage 128): Du bist unser König und aller Dinge mächtig, der Du uns alles Gute geben kannst und willst, auf daß dadurch nicht unser Name oder der Name der Christenheit oder der Kirche, sondern Dein heiliger Name ge­priesen werde.

Amen.

Es genügt, an das zu erinnern, was Luther und der Heidelberger Katechismus sagen. Luther bekräftigt, daß es eine gute Sadie ist, „Amen“ zu sagen. Das heißt, daß wir lernen, nicht zu zweifeln, wenn wir bitten, sondern zu glauben, weil „Amen“ bedeutet: So sei es! Das Gebet ist nicht ein dem Zufall ausgeliefertes Unternehmen, nicht eine Reise ins Blaue. Es muß endigen, wie es begonnen hat, mit der Überzeugung: Ja, so soll es ge­schehen!

Der Heidelberger Katechismus seiner­seits erklärt (Frage 129): Amen bedeu­tet, daß die Gewißheit der göttlichen Erhörung viel größer ist als die Gewiß­heit, die wir über unsere Bedürfnisse und unsere Wünsche in uns selber fühlen. Nicht, was wir begehren, ist die ge­wisseste Sache in unserem Gebet, son­dern was von Gott kommt: die Er­hörung.

Hier der Text als pdf.

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