Im Angesichte der Juden. Christliche Theologie nach Auschwitz
Von Johann Baptist Metz
Ich habe mich schon früher zum Verhältnis von Christen und Juden nach Auschwitz geäußert[1]. Dabei habe ich einen hohen, einen scharfen, für manche christlichen Ohren radikalen Ton angeschlagen. Hier kann ich dieses früher Gesagte nicht einfach wiederholen, ich möchte davon aber auch nichts zurücknehmen, sondern es bei dieser Gelegenheit fortzuführen suchen.
Sören Kierkegaard: Um zu erfahren und zu verstehen, was dies heißt, nämlich ein Christ zu sein, bedarf es immer der Wahrnehmung einer bestimmten geschichtlichen Situation. Ich gehe davon aus, daß Kierkegaard recht hat (ohne daß ich dies hier im einzelnen erläutern könnte). Die Situation, ohne deren Wahrnehmung christliche Theologie nicht weiß, wovon sie redet, heißt für uns hierzulande jedenfalls immer auch und geradezu in erster Linie: «nach Auschwitz». Ich möchte meine folgenden Überlegungen in einigen Thesen vorlegen.
1. These:
Christliche Theologie nach Auschwitz muß endlich von der Einsicht geleitet sein, daß Christen ihre Identität nur bilden und hinreichend verstehen können im Angesichte der Juden.
Dieser kleine Satz hat eine große biblische Rückendeckung in Röm 9-11 und in all dem, was gegenwärtig christliche Theologie (in der Nazizeit selbst vor allem schon bei Bonhoeffer, auch bei Barth, danach dann bei Theologen wie Eichholz, Iwand und dem Kreis um die Rheinische Synode und auf katholischer Seite bei Theologen wie Thoma, Mußner, Zenger als Exegeten) und was auch neuere kirchliche Dokumente beider Konfessionen aus ihm heraushören. Gleichwohl scheint mir dieser Satz auch heute noch innerhalb der christlichen Theologie in seinen eigentlichen Konsequenzen kaum hinreichend gewürdigt.
Zunächst möchte ich schon einmal darauf aufmerksam machen, daß die These nicht davon spricht, wir hätten im Angesichte «des Judentums» unsere christliche Identität zu bilden und zu vergewissern, sondern «im Angesichte der Juden». Diese Unterscheidung treffe ich hier absichtsvoll. Gerade gegenüber den Juden sollten wir uns endlich vor allen subjektlosen Systemkennzeichnungen hüten. «Das Judentum» hat kein Antlitz, keine Augen, in deren Gegenwart man sich selbst bestimmt bzw. an die man sich erinnern könnte. «Das Judentum» kann man immer noch und immer wieder von christlicher Seite, also vom «Christentum» zu einer überholten heilsgeschichtlichen Voraussetzung der Christentumsgeschichte herabdeuten und vergegenständlichen, geradezu «versachlichen», so daß die gegenwärtigen Juden weder als Partner noch auch (nur) als Opponenten – auch Opponenten haben schließlich ein Antlitz! – in den Blick kommen müssen. Aber sie müssen es doch! Um Auschwitz willen müssen sie in den Blick kommen: die zerstörten Antlitze dort, die verkohlten Augen, von denen man nur erzählen, die man nur erinnern, aber nicht etwa in Systembegriffen rekonstruieren kann.
Diese kleine linguistische Beobachtung zu unserer Theologensprache enthält schon eine entschiedene Forderung. Diese Forderung richtet sich gegen den Gebrauch von Systembegriffen und zielt auf den entschiedenen Gebrauch von Subjektbegriffen in der Theologie. Dieses Postulat einer subjektbezogenen und nicht systembezogenen Art des christlichen Theologietreibens ist nicht Ausdruck einer privatistischen oder individualistischen Form des theologischen Bewußtseins. Es ist die natürliche Konsequenz des uns im Angesicht von Auschwitz abverlangten, zugemuteten und vergönnten «geschichtlichen Bewußtseins» in der Theologie. Schon diese erste Forderung mag zeigen, daß es hier, im Blick auf Auschwitz, nicht nur um eine Revision der christlichen Theologie des Judentums geht, sondern um eine Revision der christlichen Theologie selbst.
Um der historischen Forderung nach dem Übergang von Systembegriffen zu Subjektbegriffen zu entsprechen, müssen die Christen und speziell die christlichen Theologen in einer neuen Weise selbst Ich sagen lernen und dürfen deshalb ihre geschichtliche Unempfindlichkeit nicht mehr mit einer objektiven Systemsprache tarnen. Als christlicher Theologe angesichts von Auschwitz «Ich» sagen: dies dient nicht etwa der Stilisierung der theologischen Individualität, sondern der Sensibilisierung für die konkrete Verantwortung, für die konkrete Krisensituation, in der gegenwärtige christliche Theologie steht und sich um die Findung und Bezeugung der Wahrheit des Evangeliums – nach Auschwitz – müht. Diese Art von Ich-sagen ist unbedingt zu lernen; sie ist keineswegs subjektivistisch, keineswegs unkritisch und nicht unpolitisch. Sie ist in meinen Augen das Lernziel christlicher Theologie nach Auschwitz. Schließlich ist die Zeit der situations- und subjektlosen Systeme — als privilegierter Orte der theologischen Wahrheit – vorüber, und dies zumindest seit der Katastrophe von Auschwitz, die doch niemand ohne Zynismus ignorieren oder in einem objektiven Sinnsystem verschwinden lassen darf.
Ich möchte Ihnen nun kurz an drei Bereichen erläutern, was dies für mich bedeutet: ich zu sagen im Angesichte der Juden, im Angesichte der Katastrophe von Auschwitz. Zunächst einmal im Blick auf das Milieu, aus dem ich selbst komme. Ich komme vom Land, aus einer erzkatholischen bayerischen Kleinstadt. Juden kamen in ihr eigentlich nicht vor, sie blieben auch nach dem Krieg eine augenlose Größe, ein vages Klischee; Anschauungen für «die Juden» holte man sich bei uns aus – Oberammergau! Die Katastrophe von Auschwitz, die schließlich zu einer Katastrophe unseres Christentums wurde, blieb außerhalb; sie drang nicht durch – obwohl meine kleine Heimatstadt kaum 50 km von jenem Konzentrationslager entfernt ist, in dem Dietrich Bonhoeffer, nicht zuletzt wegen seiner Einstellung gegenüber den Juden, sein Leben lassen mußte. Das kirchliche Milieu der Kleinstadt, aus der ich komme, und auch das der Nachbarstadt, in der ich mein Abitur machte, hat mich nicht an Auschwitz erinnert.
Ich-sagen lernen im Angesicht der Katastrophe von Auschwitz ist vor allem eine Aufgabe für die Theologie selbst. Ich hatte das Glück, die in meinen Augen beste katholische Theologie dieser Zeit lernen zu dürfen, und ich verdanke ihr auch nahezu alles, was ich selbst theologisch vermag: nämlich die Theologie Karl Rahners. Irgendwann freilich — sehr langsam und umständlich, gewiß viel zu langsam – wurde mir bewußt, daß selbst in dieser Theologie Auschwitz nicht vorkam. So begann ich kritisch zu fragen und nach zusätzlichen Gesichtspunkten theologischer Identität zu suchen – in Konfrontation mit dieser Katastrophe. Waren wir nicht immer noch in einer Art Geschichtsidealismus befangen? Hatte der Logos der christlichen Theologie nicht einen viel zu hohen Apathiegehalt? Viel zu viel Verblüffungsfestigkeit gegenüber den Abgründen geschichtlicher Katastrophen? Redeten wir am Ende (gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit) vielleicht nicht deswegen so viel von der «Geschichtlichkeit» des Glaubens und der Theologie, um die realen Widersprüche der geschichtlichen Erfahrung durch diesen Formalismus zu überdecken? Schlug hier nicht immer noch ein allzu steiler, vermeintlich christologisch motivierter Geschichtstriumphalismus durch, ein übersteigerter «idealistischer» Sinnoptimismus gegenüber der Geschichte, der uns blind machte gegenüber den realen Bedrohungen unserer christlichen Hoffnung? Wußten wir nicht, vor jeder christlichen Praxis, zu viel über den Sinn der Geschichte, der uns jede Katastrophe nur wie den Nachhall eines abziehenden Gewitters erscheinen läßt? Und blieb uns nicht der Gedanke ganz und gar fremd, daß wir zum Begreifen der eigenen Geschichte und der eigenen Verheißungen auf einen nichtchristlichen geschichtlichen Partner, auf unsere Opfer, kurzum auf die Juden von Auschwitz, angewiesen sein könnten?
Gerade im Blick auf Auschwitz wurde mir deutlich, daß eine adäquate Scheidung zwischen systematischer Theologie und historischer Theologie, zwischen Wahrheit und Geschichte beim besten Willen nicht möglich ist. Und das betrifft, je auf ihre Art, beide Seiten, sowohl die systematischen Theologen wie die historischen Theologen. Auch die historischen Theologen können sich nicht einfach umstandslos einem Wissenschaftswissen unterwerfen, welches das Geschichtswissen gegen das Erinnerungswissen definiert. Die Katastrophe von Auschwitz kann nicht einfach historisch rekonstruiert, sie muß geschichtlich erinnert werden. Und unsere historischen Theologen müssen deshalb den «Kampf um die Erinnerung», um das subjektbezogene Erinnerungswissen in das öffentliche Geschichtsverständnis erneut einführen. Gerade historische Theologen (mit dem Akzent auf «Theologen») müssen auf das Szenarium der Geschichte mit den Augen der Opfer zu schauen suchen; sie müssen sich als die von der Gesellschaft bestellten Pflichtverteidiger für die Toten begreifen (wie das so ähnlich H. Oberman formulierte), als Vermittler zwischen Demokratie und Tradition, indem sie die Demokratie nicht nur räumlich, sondern zeitlich interpretieren, d. h. sie nach rückwärts auszudehnen suchen und sich damit um die Stimmzettel der Toten bemühen (wie das so ähnlich G.K. Chesterton postulierte). Welches Bild unserer jüngsten Geschichte hätten wir dann? Geschichtliches Bewußtsein und geschichtliches Gewissen bewähren sich nicht in erster Linie im Umgang mit Erfolgen und Siegen, sondern im Umgang mit Niederlagen, mit Katastrophen. In ihnen nämlich begegnet uns, was die Geschichte allen an der Natur abgenommenen «evolutionistischen» Deutungsmustern entzieht; die Diskontinuität, der Schmerz der Negativität, das Leiden, und in allem: die Katastrophe als praktische Herausforderung der eigenen Hoffnung.
So gibt es für mich keine Wahrheit, die ich mit dem Rücken zu Auschwitz verteidigen könnte. Es gibt für mich keinen Sinn, den ich mit dem Rücken zu Auschwitz retten könnte. Und es gibt für mich keinen Gott, den ich mit dem Rücken zu Auschwitz anbeten könnte. Als mir das deutlich wurde, versuchte ich, keine Theologie mehr zu treiben mit dem Rücken zu den unsichtbaren oder gewaltsam unsichtbar gemachten Leiden in der Welt: weder mit dem Rücken zum Holocaust noch mit dem Rücken zu den sprachlosen Leiden der Armen und Unterdrückten in der Welt. Das war wohl der persönliche Anstoß zur Ausbildung einer sog. Politischen Theologie.
Lassen Sie mich das Ich-sagen im Angesicht der Juden auch noch kurz andeuten im Blick auf die Religion bzw. die religiöse Praxis. In der religiösen Praxis, die ich (als Junge während der Nazizeit) praktiziert habe, kamen die Juden auch nicht vor. Wir haben mit dem Rücken zu Auschwitz weitergebetet und Liturgie gefeiert. Erst spät begann ich mich zu fragen, was denn dies für eine Religion sei, die man ungerührt mit dem
Rücken zu einer solchen Katastrophe weiterpraktizieren kann. Dies wurde für mich einer der Anlässe, um kritisch vom Christentum als «bürgerlicher Religion» zu sprechen. Auch dazu wäre vieles zu bemerken. Ich gehe aber nun gleich zur nächsten These über.
2. These:
Durch Auschwitz ist der Satz «Christen können ihre Identität nur bilden und angemessen verstehen im Angesichte der Juden» verschärft zu der Aussage: «Christen können ihre Identität nur wahren vor und mit der Glaubensgeschichte der Juden.»
Diesen Zusammenhang öffentlich bewußt zu machen, ist Aufgabe einer christlichen Theologie nach Auschwitz. Lassen Sie mich zunächst einen Blick auf die Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden in der Nachkriegszeit werfen. Es lassen sich da verschiedene Phasen und Dimensionen dieser Erneuerung unterscheiden. Einmal das Stadium eines diffusen Wohlwollens, das seinerseits wenig stabil und krisenfest ist, leicht anfällig und verdrängbar (und das sich auch kaum Rechenschaft darüber gibt, daß solch diffuser Philosemitismus leicht eine verkappte Form von Antisemitismus sein und bleiben kann). Dann die Phase der theologischen Diskussion des Übergangs «von der Mission zum Dialog» zwischen Christen und Juden. Drittens schließlich Ansätze zu einem bewußten theologischen Umdenken, Entwicklung einer christlichen Theologie des Judentums post Christum, mit Anerkennung der bleibenden messianischen Würde Israels, der «wurzelhaften» Bedeutung Israels für die Kirche (wie das schon bei Bonhoeffer und Barth reklamiert wurde). Als vierte Phase schließlich ließe sich die hier angezielte kennzeichnen: die Einsicht nämlich der Christen in die konkrete glaubens geschichtliche Abhängigkeit von den Juden, d. h. im Sinne der These, daß sich Christen selbst in ihrer eigenen Identität nicht mehr ohne die Juden definieren können.
Hier wird mit «Auschwitz als Ende» theologisch ernst gemacht, und zwar nicht etwa als Ende für eine bestimmte Phase der jüdischen Geschichte, sondern als Ende für jene Art von Christentum, das sich weigert, seine Identität im Angesichte der Juden und mit den Juden zu bilden.
Schließlich, um es nochmals zu sagen, geht es — im Blick auf Auschwitz – nicht nur um eine Revision der christlichen Theologie des Judentums, sondern um eine Revision christlicher Theologie überhaupt. Das habe ich schon in einem früheren Text andeutungsweise erläutert. Aus ihm wiederhole ich: Was ich persönlich mit Auschwitz als Ende und Wende für uns Christen meine, möchte ich durch eine Gesprächserinnerung verdeutlichen. Ende 1967 fand in Münster eine Podiumsdiskussion zwischen dem tschechischen Philosophen Milan Machovec, Karl Rahner und mir statt. Gegen Ende des Gesprächs erinnerte Machovec an Adornos Wort «Nach Auschwitz gibt es keine Gedichte mehr», und er fragte mich, ob es denn für uns Christen nach Auschwitz noch Gebete geben könne. Ich hatte schließlich geantwortet, was ich auch heute antworten würde: Wir können nach Auschwitz beten, weil auch in Auschwitz gebetet wurde. Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück; über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz. Das ist in meinen Augen die Wurzel der jüdisch-christlichen Ökumene. Die Wende im Verhältnis zwischen Juden und Christen entspricht der Radikalität des in Auschwitz hereingebrochenen Endes. Nur wenn wir ihm standhalten, werden wir erkennen, was es um das «neue» Verhältnis zwischen Juden und Christen ist oder doch sein könnte.
Diesen Zusammenhang möchte ich hier noch verschärfen und verdeutlichen durch die Erörterung der sog. Theodizeefrage angesichts von Auschwitz, d. h. durch die Gottesfrage angesichts dieser unsäglichen Leiden. Was damit gemeint ist für uns Christen und unser Selbstverständnis, das möchte ich erläutern durch Bemerkungen zu einem inzwischen berühmten, sehr bekannten, weil eben doch einzigartigen Text von Elie Wiesel in seinem Buch «Night». Der Text ist schon prototypisch geworden; er wird inzwischen ja auch von vielen christlichen Theologen zitiert. Gerade deshalb kann ich an ihm meine Intention am ehesten erläutern. «Das Lagerkommando weigerte sich, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer übernahmen die Rolle. Drei Hälse wurden in einem Moment in drei Schlingen gesteckt. ‹Es lebe die Freiheit!› schrieen die Erwachsenen. Aber das Kind sagte nichts. ‹Wo ist Gott? Wo ist er?› fragte einer hinter mir. Die drei Stühle kippten zu Boden … Wir marschieren vorbei… die zwei Männer lebten nicht mehr … aber das dritte Seil bewegte sich noch… das Kind war leichter und lebte noch … Hinter mir hörte ich denselben Mann frage: ‹Wo ist Gott jetzt?» Und in mir hörte ich eine Stimme, die ihm antwortete: ‹Wo ist er? Hier ist er – er hängt am Galgen.› In dieser Nacht schmeckte die Suppe nach Leichen.»
Ich möchte diesen Text nur unter einer Hinsicht kommentieren. Wer eigentlich darf die hier angedeutete Antwort auf die Gottesfrage – «Wo ist Gott? – Hier ist er. Er hängt am Galgen.» – zu geben versuchen? Wer, wenn überhaupt, kann das sagen? Ich meine, daß das nur der mit all den Kindern in Auschwitz zu Tode bedrohte Jude sagen darf, er ganz allein. Hier gibt es keine andere «Identifizierung» Gottes – weder so sublim wie etwa bei Jürgen Moltmann noch so zurückhaltend-bescheiden wie bei Dorothee Solle -, hier versagt m.E. jede christlich-theologische Identifizierung Gottes. Sie kann, wenn überhaupt, nur der im Abgrund mit seinem Gott zusammengepferchte Jude vornehmen, derjenige, der selbst in jener Hölle steht, «wo sich Gott und Mensch voller Entsetzen in die Augen schauen» (Elie Wiesel). Er allein, so meine ich, kann hier von einem «Gott am Galgen» sprechen, nicht wir Christen außerhalb von Auschwitz, die wir den Juden, so oder so, in eine solche Situation der Verzweiflung geschickt oder in ihr doch belassen haben. Hier gibt es für mich keinen «Sinn», den wir ohne die Juden bezeugen könnten. Hier sind wir, ohne die Juden in der Hölle von Auschwitz, zum Unsinn, zur Gottlosigkeit verurteilt.
Man sage nicht: Schließlich gibt es für uns Christen andere Gotteserfahrungen als die von Auschwitz. Gewiß! Aber wenn es für uns keinen Gott in Auschwitz gibt, wie soll es ihn dann für uns anderswo geben? Man sage auch nicht, eine solche Auffassung verstoße gegen den Kern des christlichen Selbstverständnisses, demzufolge den Christen die Nähe Gottes in Jesus Christus definitiv verbürgt ist. Es bleibt ja immerhin die Frage, für welches Christentum diese Zusage gilt. Für das antijudaistisch sich identifizierende Christentum etwa, das zu den historischen Wurzeln von Auschwitz gehört, oder eben für eines, das darum weiß, daß es seine eigene Identität nur bilden und verstehen kann im Angesicht der jüdischen Leidensgeschichte?
Daß wir in der Gottesfrage selbst vom Zeugnis der jüdischen Leidensgeschichte abhängen sollten: das scheint vielen Christen viel zu weit gegriffen. Für mich jedoch ist die Anerkennung dieser quasi heilsgeschichtlichen Abhängigkeit der Prüfstein dafür, ob wir Christen bereit sind, diese Katastrophe von Auschwitz wirklich als solche zu erfassen und sie als die Herausforderung, als die wir sie häufig moralisch Beschwören, theologisch auch wirklich ernst zu nehmen. Denn, ich wiederhole mich, es geht im Blick auf Auschwitz nicht nur um eine Revision der christlichen Theologie des Judentums, sondern um eine Revision christlicher Theologie überhaupt.
Freilich gibt es inzwischen genug Symptome, die deutlich machen, daß wir uns diese radikale Herausforderung durch Auschwitz nach Kräften vom Leibe zu halten versuchen:
Da ist einmal der Versuch, den Holocaust aus der spezifisch christlichen Kausalität überhaupt herauszunehmen. Man betrachtet ihn als ein rein nationalsozialistisches Verbrechen, das (wie z. B. das «Bonner Papier» betont) «ebenso antijüdisch wie antichristlich war»; oder man sieht diese Katastrophe nur als Resultat des «deutschen Geistes» (wogegen sich z. B. Heiko Oberman in seinem neuesten Buch wendet).
Oder, zweitens, man greift zu raschen Umbesetzungen der Katastrophe des Holocaust, d. h. man macht Auschwitz zu einem Typ bzw. Symbol für alle möglichen drohenden oder tatsächlichen Katastrophen in der Weit und vergißt dabei, daß die Allgemeingültigkeit der jüdischen Tragödie, des Holocaust, gerade in seiner Unübertragbarkeit, in seiner Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit liegt. So wie die Kirche einst durch eine gefährliche Substitutionstheorie das geschichtliche Schicksal Israels glaubte beerben oder ignorieren zu können («die Kirche als das eigentliche Israel» …), so gibt es heute auch profane Substitutionstheorien für Auschwitz, die in der Gefahr stehen, die Katastrophe von Auschwitz dadurch zu vergleichgültigen, daß sie sie einfach auf andere Leidenssituationen übertragen.
Eine dritte Form, die durch Auschwitz gegebene Herausforderung in der christlichen Gottesfrage zu entspannen, liegt in dem Versuch, den Namen von Auschwitz mit der Tragödie von Juden «und Christen» zu verbinden. So gewiß es auch Christen, ja heroische christliche Bekenner in Auschwitz gab, wird man doch zunächst einmal mit aller Entschiedenheit (gerade auch im Namen dieser Christen, die ja nicht selten wegen ihrer Solidarität zu den Juden nach Auschwitz kamen) daran festhalten, daß dieser Name für die schreckliche Tragödie des jüdischen Volkes steht. So habe ich auch bei der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1975) zu argumentieren versucht, als ich den von mir (innerhalb der zuständigen Kommission) vorformulierten Text «Unsere Hoffnung» zu präsentieren hatte. Ich konnte zwar mit meiner Argumentation nicht voll durchdringen (im Text ist von «Juden und Christen» die Rede), immerhin enthält diese Passage eines offiziellen Synodendokuments die wohl am weitesten vorgeschobene Aussage über das neue Verhältnis von Christen und Juden im Angesichte von Auschwitz. Es heißt dort wörtlich:
«Gerade wir in Deutschland dürfen den Heilszusammenhang zwischen dem altbundlichen und neubundlichen Gottesvolk, wie ihn auch der Apostel Paulus sah und bekannte, nicht verleugnen oder verharmlosen. Denn auch in diesem Sinn sind wir in unserem Land zu Schuldnern des jüdischen Volkes geworden. Schließlich hängt die Glaubwürdigkeit unserer Rede vom «Gott der Hoffnung» angesichts eines hoffnungslosen Grauens wie dem von Auschwitz vor allem daran, daß es Ungezählte gab, Juden und Christen, die diesen Gott sogar in einer solchen Hölle und nach dem Erlebnis einer solchen Hölle immer wieder genannt und angerufen haben.»
Ich möchte, viertens, auch noch kurz auf die «Handreichung der Rheinischen Synode» hinweisen, die ja ihrerseits mutig das Theodizeethema im Blick auf Auschwitz angeht. Freilich scheint mir die Empfehlung, hier die Gottesfrage «offenzuhalten», letztlich der Ausdruck einer falschen Bescheidenheit zu sein, die wiederum die Abhängigkeit in der Behandlung der Gottesfrage nach Auschwitz von der jüdischen Leidensgeschichte verbirgt. (Ich brauche ja wohl hier nicht eigens zu erwähnen, daß ich nicht auf eine spekulative Beantwortung dieser Theodizeefrage aus bin. Es geht mir allein darum, ob und wie wir Christen in einer glaubwürdigen Konstellation vom «Gott nach Auschwitz» sprechen können und dürfen.)
Bei all dem möchte ich nicht übersehen, daß Auschwitz nicht nur eine Frage der Theodizee enthält, sondern gewiß auch eine höchst dramatische Frage der Anthropodizee, worauf ja inzwischen sehr oft verwiesen worden ist, also eine Frage nach der Rechtfertigung des Menschen im Angesichte der Leiden von Auschwitz. In diesem Sinne ließe sich die von Elie Wiesel gestellte Frage durchaus auch auf diese Anthropodizee hin formulieren: «Wo war der Mensch in Auschwitz?» Viele Überlebende sind gerade an der Unbeantwortbarkeit dieser Frage bzw. an den Abgründen der Verzweiflung am Menschen zerbrochen. Wie kann man unter Menschen weiterleben, wenn man in Auschwitz erleben mußte, wozu sie fähig sind? Diese Frage öffnet, wie Sie wissen, die Tragödie von Auschwitz nochmals unter einem ganz anderen Gesichtspunkt, den ich hier jedoch nicht verfolgen kann. Ich wende mich der nächsten These zu.
3. These:
Christliche Theologie nach Auschwitz muß die jüdische Dimension in der christlichen Glaubensweise neu zur Geltung bringen und die gewaltsame Sperre des jüdischen Erbes im Christentum überwinden.
Diese These will nicht nur die spezifisch jüdische Existenz Jesu selbst der christlichen Theologie in Erinnerung bringen. Sie zielt auf die jüdisch geprägte Form christlichen Glaubens. Schließlich, um es nochmals zu sagen, geht es – gerade im Blick auf Auschwitz – nicht nur um eine Revision der christlichen Theologie des Judentums, sondern um eine Revision christlicher Theologie überhaupt. Die These spricht von «Glaubensweise». Damit nehme ich einen von Martin Buber eingeführten Sprachgebrauch («Zwei Glaubensweisen») auf, ohne freilich die bei ihm getroffenen Unterscheidungen einfach zu übernehmen. «Glaubensweise» soll hier die Verschränkung von Glaubens inhalt und Glaubensvollzug, von Subjekt und Objekt und von Glaubenstheorie und Glaubenspraxis, von Theorie und Praxis, kennzeichnen. Ich gehe dabei davon aus, daß es – im Gegensatz zu Buber – nicht nur eine spezifisch jüdisch-alttestamentliche und eine spezifisch christlich-neutestamentliche Glaubensweise gibt, sondern daß in den Traditionen des Neuen Testaments selbst unterschiedliche Glaubensweisen erkennbar sind. So kann man wohl, ohne daß ich dies hier im einzelnen erläutern könnte, von einer betont synoptischen Glaubensweise im Unterschied zu einer betont paulinischen Glaubensweise sprechen, ohne daß diese beiden sich gegenseitig ausschließen würden. Offensichtlich ist dabei die synoptische Glaubensweise stärker und anhaltender von der jüdisch-alttestamentlichen Glaubensweise geprägt. Gerade weil diese synoptische Glaubensweise im Verlauf der Geschichte des Christentums zu Gunsten der paulinisch akzentuierten Glaubensweise zurückgetreten ist, gilt es heute, gerade sie erneut zu erinnern und als «christliche Glaubensweise» zu identifizieren. Diese jüdisch geprägte Glaubensweise gehört zur Grundsituation christlichen Glaubens; sie ist hier nicht etwa aus dem Alten Testament gewonnen, sondern gerade aus dem Neuen Testament selbst.
Glaube als vertrauensvolles Sicheinlassen auf den Willen Gottes ist hier vor allem das Gehen eines Weges, eine Art des Unterwegsseins, ja des Heimatlosseins, ist kurzum: Nachfolge. Christus ist Wahrheit und-Weg. Jeder Versuch, ihn zu wissen, ihn zu verstehen, ist allemal ein Gehen, ein Nachfolgen. Nur ihm nachfolgend wissen Christen, auf wen sie sich eingelassen haben und wer sie rettet. Solche Christologie bildet sich nicht primär im subjektlosen Begriff und System, sondern in Nachfolgegeschichten. Sie trägt nicht beiläufig, sondern grundsätzlich narrative Züge. Diese Nachfolgechristologie steht gegen ein Christentum, das sich als bürgerliche Religion auslegt, sie wendet sich gegen die totale Beheimatetheit des Christentums in der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Nachfolgechristologie steht auch gegen das Christentum, insoweit es sich als eine Art Siegerreligion versteht – mit einem Überschuß an Antworten und einem entsprechenden Mangel an leidenschaftlichen Fragen im Unterwegssein. Diese Nachfolgechristologie macht deutlich, daß auch das Christentum vor allem Systemwissen ein Erzähl- und Erinnerungswissen enthält. Erzählung und Erinnerung sind die kognitiven Entsprechungen zu einem Glauben, der sich als ein Gehen, ein Unterwegssein, als eine konstitutionelle Form der Heimatlosigkeit begreift. Ich habe die Bedeutung von «Erinnerung» und «Erzählung», wenn ich sie überhaupt voll erfaßt habe, vor allem von Juden gelernt, von allen übrigens, gläubigen und ungläubigen, nicht nur von Ger- schon Scholem, sondern auch von Walter Benjamin, nicht nur von Martin Buber, sondern auch von Ernst Bloch, nicht nur von Franz Rosenzweig, sondern auch von Erich Fromm, nicht nur von Nelly Sachs, sondern auch von Franz Kafka. Auch das Christentum bleibt schließlich in seinen Wurzeln eine Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft. Gewiß steht in seinem Zentrum keine unterhaltsame, sondern eine gefährliche Geschichte, und sie lädt nicht einfach zum Nachsinnen, sondern zum Nachgehen ein.
Gerade die jüdisch geprägte synoptische Glaubensweise macht auch darauf aufmerksam, daß der christliche Glaube ein leibhaftiges, gewissermaßen ein sinnenhaftes Geschehen ist, das nicht zum reinen Gesinnungsglauben spiritualisiert werden kann. Besteht nicht bei uns längst die Gefahr der totalen Spiritualisierung und Verinnerlichung der evangelischen Gehalte und Imperative? Ist uns Nachfolge nicht zu sehr zur Gesinnungsnachfolge geworden, Liebe zur Gesinnungsliebe, Leiden zum Gesinnungsleiden, Exil zum Gesinnungsexil, Verfolgung zur Gesinnungsverfolgung – ? Wie sonst könnten christliche Theologen z. B. davon sprechen, daß wir, die Christen, die «eigentliche» Religion des Exils, die «eigentliche» Religion der Diaspora, der schmerzlichen Zerstreuung in der Welt seien? Wie hält eine solche Aussage vor der jüdischen Erfahrung durch die Jahrhunderte stand? Kafka hat sie in seinen «Briefen an Milena» geschildert: «… Das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, daß mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas, das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muß erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts – ich weiß nicht, ob sie das tut – müßte ich mich nach links drehen, um die Vergangenheit nachzuholen … Es ist etwa so, wie wenn jemand vor jedem einzelnen Spaziergang nicht nur sich waschen, kämmen usw. müßte – schon das ist ja mühselig genug sondern auch noch, da ihm vor jedem Spaziergang alles notwendige immer wieder fehlt, auch noch das Kleid nähen, die Stiefel zusammenschustern, den Hut fabricieren, den Stock zurechtschneiden usw. Natürlich kann er das alles nicht gut machen, es hält vielleicht ein paar Gassen lang … Und am Ende stößt er noch in der Eisengasse auf einen Volkshaufen, welcher auf Juden Jagd macht.»
Noch andere jüdisch geprägte Züge einer christlichen Glaubensweise, wie sie sich vor allem in den synoptischen Evangelien findet, wären in Erinnerung zu rufen und zu verlebendigen: z.B. Glaube als leidensbereiter Widerstand gegenüber mächtig herrschenden gesellschaftlichen Vorurteilen, und dies im Angesichte einer Christentumsgeschichte, die – gegenüber den politischen Mächten – oft viel zu wenig Widerstandsgeschichte «im Namen Gottes» und zu viel Anpassungs- und Gehorsamsgeschichte war;
Glaube, der sich seine eigene messianische Schwäche nicht verbirgt und der sich nicht als erwartungslose Hoffnung von vornherein gegen alle geschichtlichen Enttäuschungen siegreich gewappnet weiß; Glaube, für den gerade auch der Gott Jesu Christi der ganz Andere bleibt, der unbegriffene, ja der gefährliche Gott usw. Haben wir Christen nicht viel zu schnell die jüdische Gottesmystik und Gebetsfrömmigkeit, wie sie uns schließlich in der Gotteserfahrung des Jesus der synoptischen Evangelien begegnet, hinter uns gebracht?
4. These:
Christliche Theologie nach Auschwitz muß für ihre ökumenischen Bestrebungen die biblisch-messianische Perspektive zurückgewinnen.
Gerade in dieser Situation «nach Auschwitz» müßte uns deutlich werden, daß wir in der Einheit unter den Christen nur vorankommen, wenn wir in dieser ökumenischen Bestrebung jenen Partner nicht vergessen, der zur eschatologischen Grundsituation der Christen gehört, nämlich den jüdischen Partner. In diesem Sinne konnte uns Karl Barth daran erinnern, daß es eigentlich nur eine große ökumenische Aufgabe gebe, nämlich unser christliches Verhalten zum Judentum.
Ich möchte dem hier – zum Abschluß – nur noch einen Gedanken anfügen. Nur wenn wir Christen diese messianische Perspektive der Ökumene nicht verdrängen, wenn wir also den christlichen Einheitsgedanken immer auch im Blick auf den jüdischen Partner entfalten, wird es uns möglich sein, produktiv beizutragen zu einer Ökumene der großen Religionen überhaupt, zumindest zu einer Koalition der Religionen im Widerstand gegen die Apotheose des Hasses und der Banalität in unserer Welt. Ich denke dabei vor allem auch an das Verhältnis zur Religion des Islams. Eine direkte Annäherung der Christen an den Islam, sozusagen an den Juden vorbei, scheint mir weder theologisch noch kulturgeschichtlich möglich zu sein. Denn am Ende sollten wir eines nicht vergessen; die jüdische Religion, geächtet und verfolgt, ist und bleibt die Wurzelreligion sowohl für uns Christen wie auch für den Islam. Und «Auschwitz» ist und bleibt somit ein Attentat auf die Wurzeln unserer gemeinsamen Religionsgeschichte.
JOHANN BAPTIST METZ
1928 in Welluck bei Auerbach (Bayern) geboren. 1954 zum Priester geweiht. Er studierte an den Universitäten Innsbruck und München, ist Doktor der Philosophie und der Theologie, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Münster und Gründungsbeauftragter für die Universität Bielefeld. Er veröffentlichte u.a.: Christliche Anthropozentrik (München 1962); Zur Theologie der Welt (Mainz 1968); Reform und Gegenreformation heute (Mainz 1969); Kirche im Prozeß der Aufklärung (1970); Die Theologie in der interdisziplinären Forschung (1971); Leidensgeschichte (1973); Unsere Hoffnung (1975); Zeit der Orden? Zur Mystik und Politik der Nachfolge (1977); Glaube in Geschichte und Gesellschaft (1977); Jenseits bürgerlicher Religion (1980); Unterbrechungen (1981). Anschrift: Kapitelstraße 14, D-4400 Münster.
Concilium 20 (1984), 382-389.
[1] Vgl. vor allem den in meinem Band «Jenseits bürgerlicher Religion» (Mainz/München 1980 u.ö.) abgedruckten Text: «Christen und Juden nach Auschwitz» aaO. 29-50.