Die Kirche der Unbekannten. Predigt zu Matthäus 2,11
Von Walter Lüthi
«Sie gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit Maria, seiner Mutter, und fielen nieder und beteten es an und taten ihre Schätze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe.» Matthäus, 2,11.
Es bleibt menschlich gesprochen unerfindlich, wie und warum Gott gerade und ausgerechnet den heidnischen Sternpriestern die Botschaft und dazu den Glauben eingibt, in Palästina sei der König der Juden geboren. Sie sind Außenseiter. Man redet heute in kirchlichen Kreisen viel, uns will manchmal dünken fast zu viel, von den «der Kirche entfremdeten Massen». «Die Millionen, die noch in Todesschatten wohnen, von deinem Himmelreiche fern», müssen uns zwar eine Sorge sein, gewiß; aber es ist dann doch auch nicht so, daß wir meinen dürfen, wenn alle Welt in die Kirchen strömte, dann wäre schon alles gut und in Ordnung. Die Bibel selber zeigt uns deutlich genug, daß die Flucht vor Gott nicht immer eine Flucht in die Welt hinaus sein muß; man kann vor Gott auch in die Kirche hinein fliehen. Das Buch Jona beweist, daß nicht nur die heidnischen Schiffsleute gottfern sind, sondern auch er selber, der fromme Jona, sich zum mindesten des Fluchtversuchs schuldig macht. Und oft, wenn es im Reiche Gottes gilt, sind die Frommen nicht zu haben, während sich unerwartet Fernstehende und Entfremdete einstellen. Ein sprechendes Beispiel sind nun eben diese Magier aus dem dunklen Osten, die sich da, rätselhaft genug, beim Christkind einfinden, um es anzubeten, während die drinnen, die Frommen Jerusalems, von der göttlichen Geburt Distanz nehmen. Christus wird später nicht müde, darauf hinzuweisen, daß Erste Letzte sein werden und Letzte Erste. Das trifft auf diese östlichen Sternpriester zu. Hirten und Magier beten an, Bibelgläubige und Tempelpriester lehnen ab und weichen aus. Diese Tatsache legt uns Kirchenleuten in unserem Urteilen über die «entkirchlichten Massen» Zurückhaltung nahe. Christus hat in dieser Welt eine Kirche der Unbekannten. Wir, die wir täglich mit Sorge die Zeitungsnachrichten aus aller Welt lesen, würden nicht wenig staunen, wenn wir Gottes Augen hätten und erkennen könnten, wer am heutigen Weihnachtstag in Ost und West, im Norden und bestimmt auch im Süden vor dem seligen Geheimnis der Menschwerdung Gottes niederfällt und anbetet. Passen wir nur auf, daß wir Christen des Abendlandes nicht unversehens zu den Letzten gehören. Es wäre jedenfalls ein Unglück, wenn diese Festtage wieder einmal vorübergingen und es nicht auch von uns heißen würde: «und sie fielen nieder und beteten es an».
Der Glaube dieser Außenseiter, auch wenn er klein ist wie ein Senfkorn, ist, aus der ganzen Haltung der Fremdlinge zu schließen, bergeversetzend. Oberflächlich beurteilt hört sich hier alles gar erbaulich und rührend harmlos an. Aber wir vermögen uns kaum eine Vorstellung davon zu machen, unter was für eine ernste und gefährliche Bewährungsprobe der junge Glaube dieser Männer hier gleich gestellt ist: wie ganz, wie völlig, wie blutig anders die Verhältnisse sind, die sie hier antreffen, als sie es erwartet hatten. Sie haben den Stern gesehen und wurden froh, gewiß; aber nun sehen sie hier ein Menschenehepaar in einer Armutei und Misere, wie es sich die lebhafteste Phantasie kaum auszumalen vermag. Sie sehen ein dürftig und behelfsmäßig hingebettetes Kind mit seinen zwei Eltern, drei Menschen, die knapp vor dem Nichts stehen. Und an diesem unmöglichen Ort knien die Unbekannten auf den Boden, berühren mit der Stirne die Erde und beten den ihnen von Gott angekündigten König an. Drauf packen sie die Kostbarkeiten aus, die von ihnen, offensichtlich für einen hochfürstlichen Empfang, mitgebracht worden sind. Ein unbeteiligter Zuschauer könnte hier auf den Gedanken verfallen, es müsse sich bei dem rätselhaften Benehmen der Fremdlinge um bedauernswerte Irre handeln. Sie sehen nichts und — glauben. Sie sehen weniger als nichts, denn alles, aber auch wirklich alles, was man hier wahrnehmen kann, ist ein einziger schreiender Gegenbeweis: Das ist kein König, geschweige denn ein Gott. Man sieht am Kind im Stall so wenig Königsmäßiges und Gottgleiches wie später am Hingerichteten am Kreuz. Der Glaube der Unbekannten ist Gehorsam, allem gegenteiligen Augenschein zum Trotz. Wenn man doch auch so glauben, auch so gehorchen, auch so niederfallen und anbeten könnte! Dann wäre es nicht nur in Bethlehem, dann wäre es auch bei uns in Bern Weihnacht geworden — «sie fielen nieder und beteten es an».
Das, liebe Gemeinde, ist Anbetung. Es hat mir dieser Tage einer im Verlauf eines Telephongesprächs von jenseits des Drahtes zugerufen: «Was ist Anbetung? Eben gerade das wissen wir Protestanten ja gar nicht mehr. Die Anbetung ist uns verlorengegangen.» Hier vernehmen wir, was Anbetung ist: Glauben ohne zu schauen, glauben ohne zu fühlen, glauben ohne zu begreifen, das ist Anbetung. Anbeten heißt sich beugen vor Gottes unbegreiflicher Majestät, sich beugen unter Gottes heiligen Willen, sich beugen unter Gottes verborgene Ratschlüsse und Führungen. Anbeten heißt ganz einfach ja sagen zu Gott. Anbetung Gottes pflegt nicht wortreich und zungenfertig zu sein. Wo in der Bibel die Lehre oder Erzählung jeweilen in Anbetung übergeht, da wird die Sprache knapp, die Rede sparsam, da sind es kurze, hymnusartige Ausrufe des Staunens und der Dankbarkeit. So steht auch hier nichts von einer Ansprache der Sternpriester an das Kind. Wahrscheinlich geschah die Anbetung der Weisen aus dem Morgenland überhaupt wortlos. Aber Eines ist aus aller echten Anbetung immer herauszuhören: Das Ja zu Gott. Es ist das kleinste Wort unserer Muttersprache. Vor dem Wunder der Menschwerdung Gottes sind auch wir nun eingeladen und aufgefordert, dies kleinste Wort, dies Ja zu sagen; das heißt aber auch, alle unsere Nein, und wir alle tragen eine ganz hübsche Menge solcher Nein mit uns herum, herauszugeben, auszupacken und hinzulegen. Geben wir den alten Widerstand gegen Gott auf. Legen wir jetzt unseren Trotz und alle Verzagtheit, allen Zweifel und Hader vor Gott nieder. Vor allem aber unsere Selbstgerechtigkeit darf hier zusammenpacken. Wer kann vor der ungeheuren Tatsache, daß Gott in diesem Kind den Retter in die Welt gesandt hat, hier noch recht haben wollen? Man kann da nur still werden, zugeben, daß man eines Retters bedarf, und kleinlaut erkennen, daß man ohne dieses Kind verloren ist. So heißt anbeten ja sagen in allem Leid, das einem widerfährt, in aller Schuld, die einem unterläuft, ja sagen, ja, daß dieses Kind, wirklich dieses Kind da in der Krippe, der gottgesandte Retter ist. Es ist gestern um drei Uhr traditionsgemäß mit der großen Münsterglocke Weihnachten eingeläutet worden. Das Ja, das Gott mit der Geburt dieses Kindes zu seiner verlorenen Welt sagt, ist Gottes große Weihnachtsglocke. Und Gott erwartet nun von uns eine Antwort auf sein großes Ja, und diese kann unsererseits nur lauten, ja, du Kind in der Krippe, du bist der Erlöser. Hier, wenn an einem Orte, so hier an der Krippe, gilt: «Anbetung ist mir liebe Pflicht.»
Aber nun gibt es außer dieser guten «Anbetung im Geist und in der Wahrheit» auch noch eine böse. Es ist ja nun gar nicht etwa so, daß uns Menschen Anbetung an sich unbekannt wäre. Böse, fatale Anbetung gibt es unter uns in rauhen Mengen. Der natürliche Mensch ist geradezu anbetungslüstern, anbetungssüchtig. Anbetung ist ein seelisches Bedürfnis ersten Ranges. Aber das ist Anbetung dessen, was wir sehen, was wir fühlen und begreifen, das heißt, Anbetung nicht Gottes, sondern der Götter. Und wenn wir auch von Gott dringlich genug gewarnt sind — «bete sie nicht an und diene ihnen nicht, denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied derer, die mich hassen» —, so beten wir halt doch, immer wieder rückfällig wie Süchtige, die Götter an. Das Können, die Macht und Größe, das sind die Gegenstände unserer Anbetung. Was da letzthin in Münchenbuchsee draußen offenbar geworden ist, das scheint uns geradezu bezeichnend und typisch für die Art der Anbetung, die uns Menschen paßt und liegt. Man hat kürzlich dort dem Maler Paul Klee, der im Schulhaus Münchenbuchsee im Jahre 1879 als Sohn des dortigen Schullehrers, eines gebürtigen Deutschen, zur Welt kam, eine schöne Gedenktafel angebracht. Paul Klee, im Bernbiet aufgewachsen, hat bis zum Jahre 1933 als Maler in Deutschland gewirkt. Nach Hitlers Machtergreifung wurde seine Kunst als verjudeter Kulturbolschewismus von Staats wegen abgelehnt, und sein Verbleiben war im nationalsozialistischen Dritten Reich unmöglich. Der alte Mann kehrte in die Wahlheimat, an den Ort seiner Kindheits- und Jugendjahre zurück. Hier hat er sich jahrelang vergeblich um die Niederlassungsbewilligung beworben, die nötig gewesen wäre für die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts. Die Gründe dieser Zurückhaltung der damals Maßgeblichen sind jedem, der sich daran erinnert, welcher Wind damals wehte, bekannt. Als es dann schließlich nach sieben Jahren des verzögernden Hinziehens glücklich soweit war, starb Klee anno 1940, nicht als Schweizerbürger, sondern als deutscher Flüchtling. Heute, nachdem seine Kunst internationale, globale Anerkennung gefunden hat, bringen wir an seinem Geburtshaus eine Gedenktafel an. — So pflegen wir anzubeten, was anerkannt ist, das Angefochtene aber demütigen, schmähen und besudeln wir. Die Unbekannten aus dem Morgenland aber beten anders an. Hier ist es Anbetung im Stall, Anbetung des Kindes. Christus ist weder als Kind noch später irgendeinmal ein allgemein Anerkannter gewesen. Hier handelt es sich immer um Anbetung des Angefochtenen. So ist echte Anbetung immer ein Wagnis. Die Bibel berichtet aus der Zeit des Propheten Elia, daß der Fruchtbarkeitsgott Baal damals so allgemein angebetet wurde, daß Elia fürchtete, er sei allein übriggeblieben, der Baal die Anbetung verweigerte. Gott mußte ihm sagen, daß immerhin noch eine verborgene Gemeinde von 7000 Unbekannten, ihm allein bekannt, die Knie nicht vor Baal beugten. Daniel und seine Gefährten beugen ihre Knie nicht vor dem Riesenstandbild, das der König Nebukadnezar im Tale Dura hatte errichten lassen, und werden zur Strafe dafür in die Löwengrube geworfen. Die Offenbarung Johannes weiß von einer greulichen Anbetung des Tieres, des Drachen, freilich und gottlob auch von einer Kirche der Unbekannten, Gott allein bekannt, die das Malzeichen des Tieres nicht auf der Stirn tragen. Den Gipfel frevlerischen Götzendienstes leistet sich der Teufel, der dem Herrn «alle Reiche der Welt» verspricht, wenn er vor ihm, dem Teufel, niederfalle und ihn anbete. Das Wunder der Anbetung, das im Stall zu Bethlehem geschieht, steht nun in hellem Kontrast zu dieser dunklen, geradezu unheimlichen Anbetung der Macht und Größe, des Reichtums, der Götter und der Teufel. Hier heißt es von den Fremdlingen: «Sie fanden das Kind und seine Mutter, fielen nieder und beteten es an.» Man beachte, nebenbei bemerkt, daß sie ausdrücklich nicht die Mutter anbeten, wohl aber das Kind. Wir ahnen nun, um welch ein gar nicht harmloses, um welch ein gefährliches Unterfangen es sich bei der Anbetung dieser Außenseiter handelt. An die Kirche aller Zeiten ergeht damit die Aufforderung zum Bekennen. Anbetung des Kindes im Stall bedeutet Nichtanbetung der Götter. Dieser Vorgang der bekennenden Anbetung ist seither durch alle Jahrhunderte herauf bis in unsere Tage hinein begleitet entweder mit Verleugnung, Abfall und Verrat, oder aber mit Blut und Tränen, Gefängnis und Bekennertod. Oft genug ist es nicht die offizielle Kirche, sind es die Außenseiter, deren Anbetung zum Bekennen wird. Die Sternpriester aus dem Morgenland werden sich übrigens der Gefährlichkeit ihres Tuns bewußt. Sie weichen dem Herodes aus und kehren nicht über Jerusalem, sondern auf einem anderen Weg wieder zurück in ihr Land.
Anbetung im Stall, Anbetung des Kindes, hat Blut und Tränen im Gefolge, gewiß: «und wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muß vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel», wie es in einem schönen alten Weihnachtslied heißt, das aus einer Zeit stammt, da Weihnachten noch nicht ein von billiger Sentimentalität triefendes Christbaumfestchen war. Aber die echte Anbetung hat auch Frieden und Freude zur Folge. Friede, wahrhaftiger Weihnachtsfriede wartet dort, wo ein Mensch zusammen mit den Fremdlingen aus dem Osten, das heißt angefochten vor dem Kind im Stall, niederfällt und anbetet. So gewiß alle Anbetung der Macht, der Größe und der Güter dieser Welt unfehlbar zum Kriege führt, so gewiß birgt die Beugung unter Gottes Retterwillen den Frieden. Jener Stall, in dem die erste Anbetung des Kindes sich ereignet, ist ein erster, von Gott gestifteter Friedensraum auf dieser Erde. Hier ist ein Friede ausgebrochen, der nicht ruhen wird, bis daß in allen Nationen Friedenszellen entstanden sind, bis daß alle, alle Völker ihre Knie beugen und jede Zunge bekennt, daß Jesus Christus der Herr und König sei, zur Ehre Gottes, des Vaters. Der Stall der Anbetung ist der Friedenshort, der Unterschlupf, in dem die angefochtenen Friedensfreunde, diese meist unverstandenen Außenseiter, ihre Zuflucht haben, die Zentrale und Basis, von der die Friedensboten ausgehen bis an den Rand der Erde und bis ans Ende der Zeit. Im Anschluß an die schlichte Weihnachtsfeier in der Herberge zur Heimat drüben hat sich einige Jahre hintereinander ein Unbekannter jeweilen zum Wort gemeldet, dies Jahr war er nicht zugegen, und wir haben ihn vermißt. Er pflegte uns jeweilen sein Lieblingslied zu singen: «Ich bete an die Macht der Liebe.» Ich weiß, es entspricht nicht jedermanns ästhetischem Geschmack, aber dieser Herbergsinsasse hat in aller Einfalt damit das Wesentliche erfaßt, er hat, wie die Außenseiter aus dem Osten, das Kind im Stall, die Macht der Liebe Gottes, angebetet.
Und wo die Anbetung im Stall geschieht, da wird auch die Freude nicht ausbleiben. Ob ich imstande bin, diese Freude zu fühlen, wie man Freuden fühlt, oder ob ich gar nichts davon zu fühlen vermag, verheißen ist sie, und die Verheißung trügt nicht. Ein Anteil an der großen Freude ist jedem zugesprochen, der zusammen mit den Weisen, vielleicht selber ein Fremdling unter Fremden, niederfällt und vor dem Kind anbetet. Wir wissen von den Sternpriestern aus dem dunklen Osten herzlich wenig. Wie Schatten kommen sie und gehen wieder. Eines ist gewiß: Die große Freude geht mit ihnen zurück in ihr Land, da sie wohnen. Die große Freude will jetzt auch uns zurückbegleiten an die Orte, wo wir wohnen und wo wir morgen zur Arbeit antreten. So ist es verheißen, und die Verheißung ist wahr und wird in Erfüllung gehen.
Vor Jahresfrist kam es an einer öffentlichen Weihnachtsfeier vor, daß die Helfer, die den Christbaum bereiteten, eine Kerze anzuzünden vergaßen. Sie blieb unangezündet bis zum Schluß der Feier. Einem Teilnehmer, der es beachtete, legte sich der Anblick der vergessenen Kerze schwer aufs Gemüt. Er kam sich selber vor wie eine Kerze ohne Licht. Und er hat sich das ganze Jahr über oft gefragt und gequält, er könnte die vergessene Kerze sein, auch dies Jahr wieder. Wem es unter uns ähnlich ergeht, wer bis dahin friedlos und freudlos geblieben ist und um die liebe Not der Anfechtung weiß, der soll doch ja auf die Einladung achten, die durch den gedeckten Tisch heute an uns ergeht. Dort beim Tisch ist jetzt für einen jeden von uns der Ort der Anbetung, des Friedens und der Freude. Der König ladet dorthin ein mit den Worten: «Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid.» Und es ist sein ebenso freundlicher wie unbedingter Retterwille, daß es diese Weihnacht keine «vergessene Kerze» gebe. «Sie fielen nieder und beteten es an.» Tun wir es doch auch, jetzt gleich! Amen.
Quelle: Walter Lüthi/Eduard Thurneysen, Der Erlöser. Predigten, Basel: Friedrich Reinhardt, o.J. [1961], S. 53-59.