Im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen heißt es: „Auf der Darstellung der Heiligen Familie mit dem Jesuskind in der Krippe beruht der Gebrauch von Krippe, Kinderkrippe für eine ‘Einrichtung zur Betreuung von Säuglingen und Kleinstkindern’ (19. Jh.); vgl. frz. crèche ‘Krippe’, dann auch ‘Heim für Findelkinder’ (18. Jh.), ‘Heim für Kleinstkinder arbeitender Mütter’ (19. Jh.).“
Die erste crèche wurde am 14. November 1844 in Paris von Firmin Marbeau gegründet. Marbeaus Programmschrift Des crèches, ou, Moyen de diminuer la misère en augmentant la population (Paris 1845) setzte europaweit eine Krippenbewegung in Gang. Im deutschsprachigen Raum wurden Mitte des 19. Jahrhunderts die Einrichtung von Krippen von Carl Helm, Die Krippe im Breitenfeld zu Wien. Eine Monographie sammt einer Statistik der Krippen (Creches) Europas, Leipzig 1851, bzw. Einige Worte über Krippen (Säuglingsbewahr-Anstalten Crèches) sowie von Carl von Salviati, Die Säuglingsbewahranstalten (Crèches, Krippen) übersichtlich dargestellt nach Geschichte und Zweck, Einrichtung und Wirkung, 1852, propagiert.
Zur Namensgebung schreibt Dorena Caroli in Day Nurseries & Childcare in Europe, 1800-1939 (London: Palgrave Macmillan, 2017, S. 14):
„The French word crèche, translated in Italy in the nineteenth century as presepe (crib) or, more broadly, culla (cradle), with its symbolic reference to the birth of Jesus of Nazareth, caught on in France and is still used today. The Holy Family was held up as a model for parents who, in the face of the adversities of life, should treasure the miracle of birth and watch over their own infant, protecting it from the threat of the Massacre of the Innocents—an event seen as an allegory of infant mortality.“
Wer Florian von Rosenbergs Buch Das beschädigte Leben. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen (C.H. Beck, 2022) liest, hat seine Zweifel, dass die Fürsorglichkeit, wie sie in der solitären Weihnachtskrippe dargestellt wird, in den Wochenkrippen der DDR umgesetzt worden ist. Nimmt man jedoch die einleitenden Worte von Carl Helm in Die Krippe im Breitenfeld zu Wien zur Kenntnis, lässt sich für das soziale Anliegen der Krippenbewegung im 19. Jahrhundert Verständnis finden:
Von Carl Helm
Die Neigung zum Wohlthun ist tief im Menschen begründet; keine Zeit, kein Land, kein Volk ohne Wohlthun. Aber die Wohlthat war nicht immer zweckmäßig und liebevoll. Der Wohlthätigkeit die höhere Weihe zu geben, war dem Christenthume vorbehalten. Das Christenthum lehrte Wohlthun ohne Wehe zu thun, Helfen ohne Erniedrigen. So wie unendlich die Noth, das Unglück, — ist auch die wahre Wohlthat unendlich, unerschöpflich, immer erfindungsreich.
Eine der zweckmäßigsten und liebevollsten, wirklich christlichsten Unterstützungen, welche erst die neue Zeit hervorgerufen, ist jene Anstalt, welche die ganz kleinen Kinder armer, braver Mütter gegen geringe Entschädigung den Tag über in Aufbewahrung nimmt, verpflegt, versorgt (Krippe, Säuglingsbewahranstalt, Crèche genannt). Die Mutter gewinnt hierdurch den Tag für die Arbeit, um sich den Unterhalt zu verdienen. Das Kind ist in sorgsamer Pflege, hat viele Mütter statt Einer; die wohlthuenden, aufopfernden Frauen überwachen es in den Krippen. Das Kind schläft in reinlichen Betten, athmet gute Lust, ist vor allen Gefahren geschützt. Die Mutter aber lernt ihr eigenes Kind mehr achten und lieben, wird es von Andern so sorgsam gepflegt und gehalten. Auch wird die Mutter wohl nicht Alles, was sie in der Krippe sieht und hört, man ihr mit guter Absicht sagt, — dies Alles wird sie doch nicht so ganz vergessen und unbenutzt lassen. Und thun es Einige, bei Allen ist es doch nicht der Fall.
Diese kurze Darstellung reicht hin, den eigentlichen Zweck der Krippen und den Unterschied von so vielen Wohlthätigkeitsanstalten anderer Art in das wahre Licht zu stellen. Die Krippe gibt kein Almosen. Sie verschafft nur der armen, aber braven Mutter die Möglichkeit zur Arbeit, zum Verdienst, wenn sie daran durch die Besorgung ihres Kindes gehindert war. Und auch dies thut sie nicht umsonst. Sie hält nicht von der Arbeit ab, wie oft ein unzweckmäßig gegebenes Almosen es thut, sie spornt dazu an. Würden die Kinder aller solcher Unterstützung bedürftiger Mütter in Krippen untergebracht werden können, so wäre dies eine der erfolgreichsten Wohlthaten für die arbeitende Klasse.
Ein weiterer Nutzen dieser Anstalten besteht darin, daß, wenn dieselben einmal hinreichend verbreitet sein werden, eine größere Anzahl von Kindern die Vortheile der Schule genießen wird. Wie viele Mütter sind gezwungen, in Ermangelung anderer Mittel ihre Kleinen zu Hause einem wenig älteren Brüderchen, nicht viel größeren Schwesterchen anzuvertrauen! Die Folgen sind aber oft ebenso schädlich für das Kleine, welches besorgt werden soll, als für das Größere, dem die Sorge übertragen wurde. Die Aufgabe des jugendlichen Hüters übersteigt nicht selten seine physischen, wie seine geistigen Kräfte. Er, der selbst einer Aufsicht, Führung, Leitung bedarf, soll Andere beaufsichtigen!
Ohne mich hier in Gemeinplätze über die Wohlthaten der Erziehung ergehen zu wollen, glaube ich es doch aussprechen zu können, daß eine Anstalt die volle Beachtung verdient, welche die Möglichkeit darbietet, daß Mehrere als bisher an diesen Wohlthaten Antheil nehmen können. Ich will gleich hier einem von mancher Seite so gern ausgesprochenen Vorwurfe begegnen, „daß die Krippen das Familienband zerstören.“
Es ist so unmöglich, das Band der mütterlichen Liebe zu zerstören, als einen Bach zur Quelle zurückfließen machen. Nicht weil es eine Krippe gibt, trennt sich die Mutter von ihrem Kinde, sondern wenn die Mutter sich von ihrem Kinde trennen muß, so nimmt „für diese Zeit der nothwendigen Trennung“ die Krippe das Kind auf und besorgt es, — für die Zeit einer Trennung, welche in so vielen Fällen stattfinden muß, will die Mutter das Nöthige erwerben, um sich und ihre Familie zu ernähren. Kann die arme, brave Mutter früh Morgens, wenn sie in die Arbeit geht, ihr Kind der sorgsamen Pflege der Krippe übergeben, und kommt sie dann Abends nach vollendetem Tagwerke dasselbe abzuholen, so erfüllt sie das Bewußtsein erfüllter Pflicht, für ihr Kind den Tag über gearbeitet zu haben. Das Kind, welches sich früh nur ungern von seiner Mutter trennte, äußert Abends laut seine Freude, sieht es seine Mutter kommen, um es abzuholen. Oder wäre es vielleicht besser, wenn die Mutter, anstatt in die Arbeit zu gehen, während ihre Kinder in der Krippe versorgt sind, an irgend einer Straßenecke, umgeben von ihren Kindern, die Mildthätigkeit der Vorübergehenden um Almosen anbetteln würde? Ich wiederhole hier nochmals, daß die Krippe nur solche Kinder ausnimmt, bei welchen die oben erwähnten Bedingungen vorhanden sind, und damit zerfällt obiger Einwurf von selbst. Dieser Einwurf ist aber nicht nur oberflächlich, sondern auch sehr affectirt und wird bei wirklich verständigen Menschen kaum einen vorübergehenden Anklang finden. Ein Vorwurf, der übrigens in gleichem Maße, ja noch mehr den Kleinkinderbewahranstalten gemacht werden müßte, deren Nutzen doch Niemand mehr bestreitet.
Wenn wir das Kind der armen Mutter während der Tageszeit übernehmen, so reichen wir ihr die hülfreiche Hand, welche sie aufrecht hält, wir sagen ihr: „Du hast nichts als deine Hände, um für dich und dein Kind den Unterhalt zu verdienen, gehe getrost an die Arbeit, für diese Zeit ist dein Kind in der Krippe, an einem sichern, gesunden Ort, unter der Aussicht wachsamer Frauen, — Abends erhältst du dasselbe frisch und gesund zurück, sein Anblick erfreuet dein Herz und Gemüth, und wenn du dann von den Mühen des Tages ausruhest, erhebt dich das Bewußtsein, für dich und dein Kind gearbeitet zu haben.“
Als besonders wichtig muß der Umstand hervorgehoben werden, daß die Mutter für ihr Kind zahlt; die Krippe hat den Zweck, den armen, aber arbeitenden Müttern die Sorge für ihr Kind während der Arbeitszeit abzunehmen, die Mutter kommt durch die Wohlthat der Krippe in die Lage ihrem Erwerbe nachzugehen und kann daher leicht das geringe Entgelt entrichten. Das Zutrauen der Mütter würde ganz gewiß geschwächt, wenn die Kinder ganz unentgeltlich ausgenommen würden. Und hat die Mutter einen Tag keine Arbeit, so wird sie ihr Kind bei ‚ sich behalten, es treibt sie dazu ihr Gefühl und sie erspart die, wenn auch kleine Gabe an die Krippe.
In einer Zeit, welche vorzugsweise eine humane und sociale Richtung zu haben glaubt, dürften die genannten Anstalten eine besondere Berücksichtigung verdienen.
„Es gilt nicht bloß wohl zu thun, es gilt einer höheren Sendung, ohne deren klares Bewußtsein unsere tief kranke Zett nicht gesunden kann. Uns dünken alle Strebungen, die den werdenden Menschen im Auge haben, von unendlich höherer Bedeutung, als jene, welche der Erwachsenen physisches oder moralisches Wehe zu lindern, oder zu heilen sich abmühen. Und darum halten wir die Entstehung der Säuglingsbewahranstatten für einen segensreichen Fortschritt, nicht bloß der Noth wegen, der mit ihnen abgeholfen wird, sondern insbesondere ob des sittlich veredlenden Beispieles einer vernünftigen Kinderpflege, zu der kein Buch und keine Predigt die unterm Volksklaffen zu bewegen vermag, als eben nur die liebevoll geleitete Hand der eigenen Erfahrung.“ (Dr. Carl Haller in seiner Beurtheilung des Werkchens: „Einige Worte über Krippen, Crèches).
Der Zweck nachstehender Blätter ist, zur Verbreitung der Kenntniß der Krippen und dadurch zu deren Vervielfältigung beizutragen; die Erfahrung hat gelehrt, daß die Kenntniß des Wesens und des Wirkens dieser wohlthätigen Anstalten genügt, um deren Verbreitung zu befördern; Zeuge Paris, welches am 14. November 1844 die erste, am 26. März 1851 die achtzehnte — Zeuge Wien, welches am 4.November 1849 die erste und am 15. Mai 1851 die achte Krippe eröffnete.
Die Beschreibung einer Vereins-Krippe, und zwar jener im Breitenfeld, der Ersten, welche in Deutschland gegründet wurde, soll ein möglichst treues Bild einer solchen Anstalt geben, damit durch eine solche ausführliche Mittheilung die Errichtung ähnlicher Institute erleichtert werde.
Die weiteren Nachweise über die Krippen in den verschiedenen Ländern Europa’s, so wie die Aufnahme bezüglicher Aktenstücke und Verfügungen in Frankreich, dann die beigefügte Literatur sollen zu dem gleichen Zwecke bettragen, und dürsten sich durch die möglichst vollständige Zusammenstellung der Beachtung des Lesers empfehlen.
Wien, am 4. November 1851, dem Jahrestage der Gründung der ersten Krippe in Deutschland.
Der Verfasser.
Zur Geschichte der Kinderkrippe siehe Jürgen Reyer, Entstehung, Entwicklung und Aufgaben der Krippen im 19. Jahrhundert in Deutschland, Zeitschrift für Pädagogik 28 (1982) 5, S. 715-736.