Von Heinz Dietrich Wendland
Das griechische Wort „basileia“, das gewöhnl. mit „Reich“ übersetzt wird, geben wir am besten mit „Herrschaft“ oder „Königsherrschaft“ Gottes wieder. Denn gemeint ist das König-Sein und königl. Herrschen Gottes. Das machtvolle, lebendige, durchgreifende Handeln Gottes soll mit diesem Bilde zum Ausdruck gebracht werden. In diesem Sinne ist Herrschaft Gottes das Haupt- und Grundwort der ganzen Verkündigung Jesu: Die Herrschaft Gottes ist nahe herbeigekommen (Mk. 1,15), d. h. sie schickt sich an, in diese Welt einzudringen. Jesus proklamiert den Herrschaftsantritt Gottes. In zweiter Linie ist mit dem Begriff auch die Vorstellung „Reich“ gegeben: Zum Herrschen Gottes gehört der Herrschaftsbereich und zu diesem die Menschen, die Untertanen oder Glieder dieses R.s sind bzw. werden. Dies geschieht durch das Hören und Annehmen des Wortes vom R., des Evangeliums, durch die Umkehr, mit welcher der Mensch sich von der jetzigen, vergehenden Welt trennt, um dem R. G. anzugehören und an dem Heil des R.s G. Anteil zu bekommen, d. h. an der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes, an der Gottessohnschaft, am ewigen Leben, an der Vergebung der Sünde. Das R. G. ist zuerst Gericht über die Welt und die Sünder. Umkehren heißt dem Richter Gott recht geben und sich der Herrschaft Gottes anvertrauen. Denen, die sich vor Gott arm und elend wissen, sagt Jesus das Heil der Gottesherrschaft zu (Mt. 5,3ff.). Bricht die Gottesherrschaft herein in diese Welt, so beginnt alsbald der Abbruch der alten Welt, die Zerstörung der Herrschaft des Bösen und der Dämonen. Die Botschaft vom R. G. schließt demnach den radikalen Gegensatz von R. G. und Weltreich in sich ein; doch ist dieser Gegensatz ein vorübergehender, weil am Ende des göttl. Richter- und Heilshandelns der offenbare und totale Sieg der kommenden Gottesherrschaft steht: das eine R. G.
Damit ist ein Doppeltes gegeben: 1. Die Gottesherrschaft ist eine zukünftige Größe, die noch nicht voll realisiert ist; denn sie bedeutet ja eine neue Welt, einen neuen Zustand aller Dinge, in dem es Leid und Schmerz, Sünde, Tod und dämonische Gewalten nicht mehr gibt (Offb. 21,4; Mt. 12,28), in dem vielmehr Gottes Wille in allen seinen Kreaturen herrscht und lebt (1.Kor. 15,24-28). Der Botschaft vom R. entspricht daher die Haltung der Hoffnung und Erwartung. 2. Jedoch ist das R. G. kein Jenseits, kein Himmel, der ewig von der Erde geschieden bleibt. Denn das R. G. ist ja Handeln Gottes, ist Bewegung, Geschehen: es naht, kommt, tritt in dieser Welt in Erscheinung, indem Gottes Herrschaft proklamiert wird. Es bleibt also nicht reine Zukunft, es wird Gegenwart und ergreift Menschen in dieser Zeit und Welt, die nun zu „Söhnen Gottes“ gemacht werden. Es ist also R. G. für diese Welt, diese Erde, der die schließl. Verwandlung und Neuschöpfung verheißen wird. Die Gottesherrschaft will und muß Welt-Herrschaft werden (Mt. 5,5; Offb. 11,15); Gottes Wille soll so, wie im Himmel schon jetzt, nun auch auf Erden vollständig die Herrschaft erlangen (Mt. 6,10). So wird das R. G. zeitl. und geschichtl., es macht aber zugleich durch sein Eindringen in diese Weltzeit die Welt zu einer vergehenden, die ihrem Ende entgegeneilt (1.Kor. 7,31). Daher lassen sich auch Begriffe wie Diesseits und Jenseits auf das R. G. nicht anwenden. Es ist göttl., „himml.“, indem es von Gott kommt; aber es wird zugleich „diesseitig“ und irdisch, kann es doch anders gar nicht zu den Menschen gelangen. Die Bitten des Vaterunser „Dein Reich komme“, „Dein Wille geschehe“, „Erlöse uns von dem Bösen“ (Mt. 6,10.13) erbitten ja von Gott, daß seine Herrschaft in diese Welt kommen möge. Dieses Kommen in die Welt bedeutet freilich niemals, daß das R. G. den radikalen Widerspruch gegen den Ungehorsam des Menschen, der Gottes Willen nicht tut, jemals aufgeben könnte; es wird also in der Welt gegenwärtig, aber niemals in dem Sinne, daß es sich von widergöttl. Mächten der Welt beugen ließe (Jesus widersteht der Versuchung durch den Satan). Daher kommt es zum Menschen mit der Forderung der radikalen Umkehr und der Preisgabe aller weltl. Bindungen, wo immer diese den Menschen daran hindern, die Entscheidung für das R. G. zu fällen.
Um die Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes betet auch das Judentum. Neu ist an der Verkündigung Jesu und seiner Jünger, daß das R. G. jetzt kommt, daß die Erwartung sich erfüllt, und zwar mit der Proklamation der Herrschaft Gottes durch Jesus. Dieser ist aber nicht nur der vollmächtige Verkündiger der nahenden Gottesherrschaft, sondern er selbst in seiner Person bringt sie herbei, indem er auf Erden Sünde vergibt (also handelt, wie allein Gott es kann!), die Macht der Dämonen bricht und am Leben des R.s G. Anteil gibt. Indem er der kommende Weltrichter und Welterlöser sein wird, wirkt er schon jetzt auf Erden als Träger und Bringer der Gottesherrschaft und fordert mit der Nachfolge den Glauben daran, daß er dies sei. Allein durch ihn, sein Wort und Werk, kommt das R. G. Die Entscheidung für ihn und für das R. G. ist ein und dieselbe. Man kann nicht an Jesus vorbei in das R. G. eingehen. Am Ja oder Nein zu seiner Person entscheidet sich die Zugehörigkeit des Menschen zum R. G. An ihm kommt Israel zu Fall, indem es ihn verwirft.
Das R. G. und die Kirche dürfen weder getrennt noch in eins gesetzt werden. „Kirche“ im Sinne des NT ist die Vorhut des R.s G. auf Erden: denn sie ist die Jüngerschaft Jesu, die, mit seiner Vollmacht ausgerüstet, das nahende Reich verkündigt und die Dämonen vertreibt, die Zeugenschaft des R.s G., die auch durch die Taten der Liebe sein Kommen bezeugt. Die Kirche als der Leib Chr., als die Gemeinschaft derer, die in Chr. sind, ist Anbeginn und Durchbruch des R.s G. in diese geschichtliche Welt hinein, steht aber darum auch in schwerem Kampf mit den widergöttl. Gewalten und dem Reiche des Antichrist, unter denen sie Verfolgung leidet. In der Hoffnung streckt sie sich aus nach dem vollkommenen R. G., in welchem Kampf und Leiden überwunden sind mitsamt aller der Kirche in dieser Weltzeit noch anhaftenden Sünde und Schwachheit. Als geschichtl. Gemeinschaft ist die Kirche also der Vollendung und Verklärung bedürftig. Erst durch diese werden R. G. und Kirche eins.
Mit der Reichs-Verkündigung ist die eschatolog. Ethik Jesu unlöslich verbunden. Sie setzt ein mit der Forderung der Umkehr (Buße). Umkehren heißt aber zugleich, unter das neue Gebot der Gottesherrschaft treten, wie es vor allem in der Bergpredigt verkündet wird (Mt. 5-7). Es fordert unbedingten Gehorsam gegen Gottes Willen, es deckt das Böse in der geheimsten Herzenstiefe auf. Im Verhältnis zu den Menschen ist es das Gebot der Nächstenliebe, die keinerlei Begrenzungen kennt. Den irdischen Ordnungen soz. Art tritt Jesus weder als Revolutionär noch als Reformer gegenüber. Aber er verkündigt den absoluten Vorrang des R.s G. vor allen Bindungen und Gütern dieser Welt (Mt. 6,19ff.33; Lk. 14,16ff.). Wenn die Bindungen an den Besitz oder an die Familie den Menschen hindern, sich ganz dem R. G. zu übergeben und Jesus nachzufolgen, so muß man ihnen absagen. Der totale Anspruch auf den Menschen gebührt allein Gott. Der Mensch dieser Weltzeit kann solch radikales Gottesgebot nicht erfüllen. Weil aber das R. G. kommt, kann der Mensch umkehren, kann er seinen Nächsten lieben, kann er dem Mammonsdienst absagen. Die Vergebung der Sünde macht ihn frei für das R. G., d. h. die Jünger werden als Verkündiger des R.s G. wie als dienend Liebende in den Dienst der Gottesherrschaft genommen. Sie sollen als Handelnde, die mit den empfangenen Gaben arbeiten (Mt. 25,14ff.), der endzeitl. Vollendung der Gottesherrschaft entgegenharren. Dann aber ist das Handeln der christl. Gemeinde in einem zwiefachen Sinne durch das R. G. bedingt: 1. Sie lebt aus der Gegenwart des Reiches, das schon — in Jesus — erschienen ist, aus dem Empfangen der göttl. Barmherzigkeit, die sich dem Sünder, dem Verlorenen, zuwendet (Lk. 15). 2. Sie lebt in der Erwartung der zukünftigen Vollendung des R.s G., und ihre Hoffnung wird zur Tat im Dienst der Liebe an den Armen, Elenden und Notleidenden. Sie handelt also in der Zwischenzeit, die dadurch bestimmt ist, daß das R. G. zwar schon in der Welt erschienen, jedoch noch nicht vollendet ist, weswegen auch die irdischen Ordnungen wie Ehe und Staat noch bis zum Ende der Welt fortbestehen. Die christl. Gemeinde darf diese weder auflösen, noch kann sie diese in das R. G. verwandeln. Das bleibt vielmehr der endgültigen Aufrichtung des R.s G. durch Chr. selbst vorbehalten, dessen endzeitl. Ankunft zum Gericht alle Ordnungen dieser Welt aufhebt. So lebt die Christenheit jetzt noch in zwei Reichen. Wo aber Umkehr, Glaube und Nachfolge sind, dient sie in den Ordnungen dieser Welt aus der Kraft des R.s G., als die „Vorhut“ des R.s G., zwar in schwerem Kampf mit der Macht der Sünde und der Dämonen, aber unbesiegbar und unter dem Zeichen unter dem Zeichen der Hoffnung, weil in Chr. das R. G. schon Wirklichkeit ist.
Die Botschaft vom gegenwärtigen und zukünftigen R.G. gibt demnach der christl. Sozialethik den universalen Horizont, dessen sie bedarf. Sie hat ihren Grund darin, daß Gottes Reich gekommen ist und kommen wird. Die Verkündigung des R.s G. macht sie frei von allen Utopien der Weltverwandlung durch menschl. oder christl. Tat, ebenso aber auch frei von der Hoffnungslosigkeit und dem Kleinglauben, der nicht wagt zu handeln und zu lieben und die Welt als eine verlorene preisgibt. Sie befreit die christl. Sozialethik von der individualist. Verengung vieler überlieferter Formen der christl. Ethik und richtet sie aus auf das weltumfassende Ziel des R.s G. Allein aus dem Glauben an das gekommene und kommende R. G. kann das Urteil über das Reich der Weltgewonnen werden, das einerseits von Sünde und Tod beherrscht ist, doch andererseits von Gott durch mancherlei Ordnungen erhalten wird bis auf den „Tag“ der vollkommenen Aufrichtung seiner Herrschaft.
Lit.: R. Bultmann, Theologie des NT (1953). — M. Dibelius, Jesus (1947)2. — W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung (1953)2. — R. Otto, R.G. und Menschensohn (1940)2. — H. D. Wendland, Die Eschatologie des R.s G. bei Jesus (1931). — Ders., Geschichtsanschauung und Geschichtsbewußtsein im NT (1938). — E. Staehelin, Die Verkündigung des R.s G. in der Kirche Jesu Chr. Zeugnisse aus allen Jh., Bd. 1 (1951), — G. Bornkamm, Jesus von Nazareth (1956). — W. Kreck, Die Zukunft des Gekommenen (1961).
Quelle: Friedrich Karrenberg (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart: Kreuz-Verlag, 41963, Sp. 1023-1026.