Von Joseph Karo
Im halachischen Werk Shulchan ‘Arukh (»Gedeckter Tisch«) des Rabbiners Joseph Karo (Joseph ben Efraim Karo, 1488-1575), das für orthodoxe Juden normativen Charakter hat, findet sich im ersten Teil Orach Chajim (»Lebenspfad«) eine Anweisung zum intensionalen Gebet, die auch für Christen beherzigenswert ist:
Der Betende muss seine Gedanken auf den Sinn der Worte richten, die er mit dem Munde ausspricht; und er denke sich, als ob die Gottheit vor ihm stehe; er weise ferner all die Gedanken von sich, die geeignet wären, ihn zu stören, so dass er während der Gebetsverrichtung Gedanken und Gemüt lauter erhalte. Er bedenke ferner, dass, wenn er vor einem König aus Fleisch und Blut spräche, er dann seine Worte ordnen und seine Gedanken vollständig auf das zu Sprechende richten würde, um nicht zu straucheln; um wieviel mehr muss dies nun der Fall sein, wenn man vor dem König aller Könige, vor dem Heiligen, gepriesen sei er, welcher alle Gedanken durchschaut, spricht! Und so pflegten auch die Frommen und Eifrigen zu tun und ihr Gebet mit solcher Andacht zu verrichten, dass sie dabei alles Materiellen entkleidet wurden und ihr Geistiges derartig die Oberhand gewann, dass sie beinahe die Gabe der Divination erlangten. Drängt sich jemandem während der Gebetsverrichtung ein fremder Gedanke auf, dann halte er mit dem Gebet inne, bis der Gedanke vorüber ist. Man muss über solche Dinge nachdenken, die das Herz mit Demut erfüllen und das Gemüt zum himmlischen Vater emporheben; man denke aber über keine Dinge nach, die leichtfertiger Natur sind. (98,1; deutsche Übersetzung nach Šulchan-Arukh oder Das Ritual- und Gesetzbuch des Judenthums, übersetzt und erläutert von Johannes von Pavly, Basel: Marugg, 1888, S. 383f.)