Alfred de Quervain, Vom Gebet als dem rechten Gottesdienst und dem eigentlichen Werk des Christen (1946): „Der Mensch betet, weil Gott in seiner Liebe und wunderbaren Güte ihm solches gebietet, ihm die Vollmacht dazu verleiht. Im Gebet kämpft der Mensch nicht für sein Recht, für die Durchsetzung seiner Wünsche; er ist gerade da Gott gehorsam, ein an Gottes Wort und Gebot Gebundener.“

Vom Gebet als dem rechten Gottesdienst und dem eigentlichen Werk des Christen

Von Alfred de Quervain

«Sihe das jst ein rechter bitter, nicht den andern unnutzen wesschern gleich, die wol viel plappern aber solchs nimer erkennen, Er aber weis das es Gottes gäbe ist was er hat, und spricht von hertzen: Herr ich weis das jch mir selbs nicht ein stück meines teglichen brods schaffen noch erhalten kan noch mich für einerley not oder ungluck behüten, Darumb wil jchs von dir warten und bitten, wie du mich heissest und zugeben verheissest, als der du on mein gedanken zuvor kompst und dich meiner not annimpst. — Sihe solch erkentnis jm gebet gefellet Gott wol und jst der rechte, hoheste und köstlichste Gottesdienst den wir jm thun können, Denn damit wird jm sein ehre und danck geben, die ihm gehoret.»[1] Es wird zunächst die eben beschriebene Erkenntnis des Beters als der rechte Gottesdienst gekennzeichnet. Aber der Ausdruck gilt auch dem Gebet, das diese Erkenntnis ausspricht. Wir werden das Gebet selbst als den rechten, höchsten und köstlichsten Gottesdienst bezeichnen dürfen. Und dazu nun ein Wort Calvins: «Quum Scriptura in Dei cultu hoc nobis summum caput commendet ut eum invocemus …» [2] «Interea, ne contemptui essent communes Ecclesiae preces, eas splendidis elogiis olim Deus ornavit: praesertim ubi templum vocavit domum orationis [Iesa. 56. 7]. Nam et praecipuam cultuo sui partem hac voce docuit esse pre­candi officium.»[3] In der von der Heidelberger Universität 1572 herausgegebenen Übersetzung lauten die beiden Stel­len: «Weil uns die Schlifft lehret, daß die anruffung Gottes das fürnemste stuck des Gottesdienstes sey …» «Damit dannoch das gemein­gebet nicht verachtet werde, hat Gott vorzeiten demselben herr­liche Namen gegeben: fürnemlich da er den Tempel genennet hat ein Bethauß. Dann er mit diesem wort gelernt hat, daß das Gebet sey das fürnemste Stück seines Gottesdienstes.»

Wir verstehen im folgenden den Ausdruck Gottesdienst im umfassendsten Sinn, so wie ihn die Reformation auch verstan­den haben will. Es ist der vernünftige Gottesdienst, in dem der auf Grund der Barmherzigkeit Gottes Angeredete seinen Leib als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer darzugeben hat (Röm. 12,1). Es ist der Gottesdienst gemeint, der über den Kultus, über die kirchliche, gottesdienstliche Ver­sammlung weit hinausgreift: das Handeln, Sichentscheiden, Leben des Menschen als eines Dieners Gottes. Es ist der Got­tesdienst, den Gottes Kind nicht nur in der Kirche, in der Wortverkündigung und im Gebet, sondern in der Welt Gott schuldet. Es ist miteingeschlossen das, was Karl Barth den politischen Gottesdienst genannt hat.[4] Es geht um den Gehor­sam gegen das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe. Im Gebet gibt der Mensch Gott die Ehre; er erweist sich als einer, der Gott fürchtet und liebt, allein auf ihn vertraut. Im Gebet liebt er seinen Nächsten heute, in dieser Welt, in einer kon­kreten Lage. Er ist frei von aller Gesetzlichkeit und Ängstlichkeit; er ist seines Nächsten dienstbarer Knecht, steht als ein Mitangefochtener und als ein Sichmitfreuender in der Welt. Er dient Gott, liebt Gott und seinen Nächsten in einer Welt, deren Angst durch keine religiöse, moralische Betrach­tung überwunden werden kann. Wir werden nicht sachlich genug von diesem Dienst des Christen, des Glaubenden reden können. Unerträglich ist da der Überschwang einer gewissen religiösen Erbaulichkeit, die in einer Ekstase vom Dienen des Christen und von seiner Liebe spricht. Aber eben von diesem vernünftigen, sachlichen Gottesdienst soll das Gebet das vor­nehmste Stück sein.

Als im Dritten Reich die Tyrannei aufs Höchste gestiegen war und der Nationalsozialismus auch den leisesten Widerstand gegen seine politischen und kulturellen Pläne durch Ausrottung seiner Gegner zu brechen versuchte, als die Kirche im öffentlichen Leben immer einflußloser wurde und nur noch im Verborgenen trösten und helfen konnte, da kam die Rede auf, die Kirche müsse zur betenden Kirche werden. In den notleidenden Kirchen, unter den bedrängten Christen ist in den vergangenen Jahren so gebetet worden, ist in einer Weise das Geschenk des Gebetes empfangen worden, daß die Theo­logie in neuer und ernsthafter Weise über das Gebet nach­denken muß. Das hat mit Pragmatismus nichts zu tun. Die Theologie wird nicht zur Rechtfertigung einer bestimmten religiösen Praxis mißbraucht. Das Geschehen, das kirchliche Handeln unserer Tage erinnert die Theologie an das, was sie lange genug versäumt hat, an das ernsthafte Durchdenken der im Evangelium von Jesus Christus enthaltenen Gabe des Gebetes. Und doch ist der Ausdruck betende Kirche mißverständlich, ja nicht ungefährlich. Er könnte auch bedeuten, daß die Kirche sich in die Liturgie flüchtet und das persönliche Leben als Gebetsleben zu verstehen versucht, weil sie eben müde geworden ist, dem Anspruch der falschen Herren zu widerstehen. Es könnte darin eine Furcht vor der Verantwor­tung sich ausdrücken, die sie übernehmen müßte, wenn sie auf der ganzen Linie den Kampf gegen die Ungerechtigkeit führen würde. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, welche Theologen und Kirchenmänner, welche Gemeinden in den ver­gangenen Jahren dieser Versuchung erlegen sind. Es genügt, daß wir die Versuchung selbst erkennen, diese Versuchung, der die «betenden» Christen, der die Kirchen in ihren litur­gischen Bemühungen immer wieder erliegen. Die Ursache der deutschen Not, der furchtbaren Not heute ist nicht das zu viele Beten der Christen, der Kirchen. Es ist eben nicht genug, es ist an vielen Orten nicht ernsthaft genug gebetet worden. Aber das müßten auch gerade die sich sagen lassen, die die betende Kirche wollten, die diese Gebetsgemeinschaft meinten verwirk­licht zu haben. Die Aktivisten, die ob allem Tun und Kämp­fen das Gebet vergessen, die aus Zorn über die kampfesmüden Beter das Gebet als lähmend für den persönlichen Ein­satz betrachten, und die Männer, die das Gebetsleben neu wecken wollen, sie sind beide schuldig geworden. Sie haben nicht erkannt, was es heißt, Gott und dem Nächsten im Gebet dienen. Wo aber nur im Glauben gekämpft, widerstanden, ge­litten wurde, im Konzentrationslager und in den durch Wort und Tat bekennenden Gemeinden, da war auch ein Beten in voller Zuversicht, aus Vollmacht heraus. Vollendet sich im Gebet das, was Gott von seinem Diener will, wird im Gebet Gott und der Nächste geliebt, dann wird im Beten die konkrete Verantwortung getragen, die bestimmte Versuchung erkannt. Das Beten kann nicht mehr Flucht in die Kirche oder in die Innerlichkeit bedeuten. Wo aber in einer Haltung der Resigna­tion, der Kampfesmüdigkeit gebetet wird, da ist das Gebet entleert, leere Rede. Wie könnte es da noch das vornehmste Stück des Gottesdienstes genannt werden? Im Lebenswerk des jüngeren Blumhardt merken wir etwas von dieser im Ge­bet sich ausdrückenden Verantwortung, von der im Gebet begründeten Weltoffenheit und vorurteilslosen Liebe zum Nächsten.

Wo im Hinblick auf die Not der Zeit wahrhaft gebetet worden ist, heute wie zu allen Zeiten, da ist das Gebet nicht eine Schöpfung der Not nach dem Sprichwort: «Not lehrt beten»; es ist Tat des Gehorsams. Der Mensch betet, weil Gott in seiner Liebe und wunderbaren Güte ihm solches ge­bietet, ihm die Vollmacht dazu verleiht. Im Gebet kämpft der Mensch nicht für sein Recht, für die Durchsetzung seiner Wünsche; er ist gerade da Gott gehorsam, ein an Gottes Wort und Gebot Gebundener. Er tut, was Gott will, und gibt ihm allein die Ehre. «Durch das Anrufen und Bitten wird der Name Gottes geehret und nützlich gebraucht … Also auch hie stehet es nicht in meinem Willen, zu tuen und zu lassen, sondern soll und muß gebetet sein.»[5] «Das sei das erste und nötigste Stück, daß alle unser Gebete sich gründen und ste­hen soll auf Gottes Gehorsam, nicht angesehen unser Person, wir seien Sünder oder fromm, würdig oder unwürdig. Und sollen wissen, daß Gott in keinen Scherz will geschlagen haben, sondern zürnen und strafen, wo wir nicht bitten, so wohl er allen andern Ungehorsam strafet…»[6] «Wan du nw aller dinge müssig werest, hettestu nit genug zuschaffen allein an dissem gebot, das dw gottes namen on unterlaß ge- benedeiest, sungest, lobest und ehrest? Und wotzu ist die tzung, stym, sprach und der mundt anders geschaffen? wie psal. L. Herr, thu auff meine lippenn, das mein münd muge vorkunden dein lob.»[7] Auch für Calvin ist das Beten eine Tat des Ge­horsams: «Ac primo quidem orare nos iubens, ipso praecepto nos coarguit impiae contumaciae, nisi obsequimur. Nihil magis praecise mandari poterat quam quod habetur in Psalmo, In­voca me in die tribulationis [Psal. 50. c. 15].»[8] In der fran­zösischen Ausgabe von 1539[9] hieß es: «Nostre tresbon Père nous a adjousté encores deux choses, lesquelles principale­ment nous doivent esmouvoir et inciter à oraison. L’une est le commandement qu’il nous fait de prier. L’autre est la pro­messe, qu’il nous a faicte, que nous obtiendrons tout ce que nous prierons. — Le commandement nous est faict et répété souventesfois quand il dit: «Demandez. Venez à moy. Cerchez moy. Retournez-vous à moy. Invoquez moy au jour de vostre nécessité», et en plusieurs autres lieux. Et mesmement au troisiesme précepte de la Loy, où il nous est deffendu de prendre le Nom de Dieu en vain. Car d’autant qu’il nous est deffendu de le prendre en vain, pareillement il nous est commandé de le prendre à sa gloire, en luy donnant tout honneur de vertu, de bien, d’ayde, et de confort, par les demander et attendre de luy.»

Was fordert Gott, wenn er gebietet, zu beten? Nichts anderes als die Anerkennung seiner Lie­be und Treue in Jesus Christus, als die Anerkennung, daß er um Jesu Christi willen der Vater und Gott dessen ist, der beten soll. Das heißt aber, daß da, wo der Mensch zum Gebet aufgerufen wird, das gött­liche Gebot den Glauben und nichts Geringeres fordert, also das Gebet als Bekenntnis, als Tat des Glaubens. Das Werk, das Gott fordert, ist «der Glaube in Christum», wie Luther zu Anfang seiner Schrift von den guten Werken schreibt. Im Gebet macht der Mensch Gebrauch von seinem Kindesprivileg, erweist er sich als Gottes Kind, als in Christus Geheiligter, als Priester und König. Das Gebet ist also nicht mehr die Leiter, auf der der Mensch, zu Gott emporsteigt: «On recourt à l’oraison soit vulgaire, soit mystique pour s’assurer égoïstement une place au ciel. On cumule par peur, les œuvres pies, les Pater, les Ave, dans l’espoir de fléchir le courroux divin. On s’élève par la scala mystica jusqu’à la fruitio Dei.»[10] Das ist nun ausgeschlossen. Im Gebet be­kennt der Mensch, daß das Wort Fleisch ward, daß Gott mit ihm und für ihn ist. Gott nimmt nicht etwas von seiner Zeit und Kraft für sich selbst in Anspruch. Er schenkt sich in Jesus Christus dem Menschen, und darum sucht der Mensch Gott, betet er. Er redet mit dem allein Heiligen, der ihn hört und erhört, weil Er ihn angeredet, gerufen hat. In Ausübung seines priesterlichen wie seines königlichen Dienstes — Frage 32 des Heidelberger Katechismus — betet der Christ, das Glied Christi. Sinn und Wesen des Gebetes ist dadurch bestimmt. In der Theologie, in der Gemeinde und im Leben ihrer Glie­der geht es nicht um irgendein Gebet, um das Gebet, das sich in den verschiedenen Religionen und Frömmigkeitsarten indi­vidualisiert und differenziert. Wir reden von dem Gebet, das im Blick auf Gottes Tat in Jesus Christus geboten ist, das in Jesus Christus seine Begründung hat, «der uns zur Weisheit wurde von Gott, zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung» (1. Kor. 1, 30).

Es muß noch einmal und noch deutlicher ausgesprochen werden, daß das Gebot, auf Grund dessen der Mensch betet, die ganze frohe Botschaft ist. Ist der Glaube das dem Evan­gelium gemäße gute Werk, die Antwort auf die frohe Bot­schaft, so ist im Gebet der Glaube in besonderer Weise wirk­sam. Indem der Mensch das Evangelium hört und ihm glaubt, an Jesus Christus glaubt, ist er gehorsam gegenüber Gottes Gebot. Er widersteht der Versuchung, aus den einzelnen Ge­boten sittliche Wahrheiten zu machen, in ihnen sittliche Postu­late zu finden. Er vernimmt in ihnen den Aufruf zum Glau­ben, und das heißt das Gebot, Gott zu lieben. Er vernimmt das Gebot, den Mitmenschen, den Nächsten zu lieben, der im Evan­gelium von Jesus Christus uns geschenkt ist. So ist der Glaube das wahrhaft königliche Handeln des Menschen, das Leben in der Freiheit. Und das Gebet wiederum ist Anfang und Ende dieses Handelns, ist die Aktualisierung dieses Lebens in der Freiheit. Darum kann Luther sagen: «Das sey zur vermanung gesagt, das wir uns doch gewehnen mit gantzem vleis und ernst zu beten. Denn dis ist auch nach der predigt des Evangelij (dadurch Gott mit uns redet und alle seine gnade und güter uns an beut zu geben) das höhest und fürnemst werck, das wir durchs gebete widerumb mit jm reden und von jm empfahen.»[11] Es ist das Bedeutsame an der Reformation, daß sie im Blick auf das Gebet ganz frei ist von jeglichem anti­römischen, antikultischen Affekt. Wir brauchen also nicht über die Reformation zurückzugehen zur ecclesia orans des Mittelalters, wenn in der evangelischen Kirche und in der evangelischen Theologie das Gebot, zu beten, wieder vernom­men und beachtet werden soll. Es wäre ein Zeichen einer dem Evangelium fremden Unfreiheit, wollten die evangeli­schen Gemeinden und ihre Theologen die Gebete der mittel­alterlichen Kirche unbesehen, als Ganzes ablehnen. Aber das reformatorische Zeugnis vom Gebet, die reformatorische Ge­betstheologie darf nicht zugunsten einer der mittelalterlichen Gebetstheologien preisgegeben oder auch nur erweitert wer­den. Denn nur aus dem Mißverständnis des Evangeliums und darum auch des Gebetes kann die Meinung entstehen, daß in den Bekenntnissen der evangelischen Kirchen die Gabe des Gebetes nicht wirklich erkannt sei, daß bei Augustin und dem heiligen Bernhard, bei Bonaventura und Thomas von Aquin eine tiefere oder die andere ergänzende Belehrung über das Gebet zu suchen sei.

Das Gebet ist, nach der Bezeichnung des Heidelberger Katechismus, das vornehmste Stück der Dankbarkeit, welche Gott von uns fordert (Frage 116). Auf die Auslegung der Ge­bote folgt im Katechismus die Auslegung des Gebetes des Herrn. Beides aber steht unter der Ueberschrift «Von der Dankbarkeit». Durch ein bestimmtes Tun, durch das Tun des einen Gebotes Gottes in der Befolgung der Zehn Gebote, und durch das Gebet geschieht es, «daß wir mit unserm gantzen leben uns dankbar gegen Gott für seine wolthat erzeigen» (Frage 86). Und auch hier wiederum finden wir den Hinweis auf Röm. 12, 1, auf die Darbringung des Leibes als des Gott wohlgefälligen Opfers, als des vernünftigen Gottesdienstes. Das eigentliche Handeln, das Sichentscheiden, das Leben nach den Geboten und das Beten, sie stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Im Gebet lebt die Erkenntnis von dem einen Gebot Gottes in allen Zehn Geboten, von der göttlichen For­derung in den mannigfaltigen Lagen des menschlichen Lebens. Im letzten Stück des Katechismus, im zweiten Teil jenes Ab­schnittes «Von der Dankbarkeit», ist nicht vergessen, sondern aufbewahrt, was an praktischer Erkenntnis, an Erkenntnis des christlichen Lebens gewonnen war. Darum hat Kohlbrügge in seiner Schrift «Die Lehre des Heils» (1903, also lange nach seinem Tod, in Elberfeld herausgegeben) versucht, die Gebote und das Gebet des Herrn synoptisch auszulegen. Es ist die Aufgabe des Theologen heute, die Linien auszuzie­hen, zu verdeutlichen, warum das Gebet das vornehmste Stück der Dankbarkeit genannt werden kann. In der Theologie, in der Dogmatik wird nicht nur an einer Stelle vom Gebet die Rede sein. Aber in besonderer und umfassender Weise muß in der Heiligung die Lehre vom Gebet entfaltet werden.

Wir sind bis jetzt auf den Inhalt des Gebetes nicht näher eingegangen. Was geschieht im Gebet? Es wird Gott gelobt, ihm wird gedankt, die Freude «in dem Herrn» wird bezeugt. Oder das Gebet hat zum Inhalt die Bitte um Gottes Hilfe; es ist ein Rufen aus der Tiefe, ein Seufzen in der Angst dieser Welt, ein Bekenntnis unserer Not und der Not unseres Näch­sten; es ist Fürbitte für die, deren Last wir mittragen. In den Auslegungen der evangelischen Kirche, in den Liedern des Reformationszeitalters und in den Psalmen Jorissens, in der Verkündigung Kohlbrügges und in den Zeugnissen der Be­kennenden Kirche heute ist mit Macht dieses Lob Gottes ver­kündigt worden. Es ist da eine lebendige Erkenntnis von dem Beruf des Menschen in Christus, im Gebet zu danken, seine Güte und Gnade zu preisen. Vom Kirchenlied der Reforma­tion schreibt Karl Barth: «Was diese Lieder enthalten, das ist Anbetung und sachliche Mitteilung, Glaubensbekenntnis, Sündenbekenntnis, Verkündigung… weder das Kind Gottes noch die Kirche Gottes finden wir in diesen Liedern mit sich selbst beschäftigt, sondern immer in der Wendung zur Er­kenntnis und zum Lob Gottes und seiner Taten in größter Konzentration auf den in biblischer Einfachheit verstandenen zweiten Artikel.»[12] Karl Barth nennt an erster Stelle die An­betung, das Lob Gottes und seiner Taten. Wie hat das Zeit­alter der Reformation, wie haben auch noch die Männer der zweiten Generation — ein Ambrosius Lobwasser — in ihren Weihnachts-, Oster- und Pfingstliedern verstanden, die Liebe Gottes anzubeten, seiner Taten im Gebet froh zu gedenken, zu danken für die eine Gabe, die Gabe seines Sohnes, und für alle darin enthaltenen Gaben! Aber daß in der Reformation die Notwendigkeit des Dankgebetes freudig erkannt wurde, das gilt nicht nur vom reformatorischen Kirchenlied, das Ver­kündigung, Bekenntnis und Gebet ist. So hat die Reformation die Psalmen und das Neue Testament ausgelegt und darin die Aufforderung vernommen: «Freuet euch im Herrn allewege; wiederum will ich es sagen: freuet euch» (Phil. 4, 4). Statt vieler Luther-Zitate genügt die eine, allen bekannte Strophe: «Nun freut euch lieben Christen gmein, und laßt uns fröhlich springen, daß wir getrost und all in ein, mit Lust und Liebe singen, was Gott an uns gewendet hat und seine süße Wun­dertat; gar teur hat ers erworben.» Zu Daniel 2, 23 haben wir ein Gebet Calvins: «Allmächtiger Gott, so viele Beweise deiner Herrlichkeit stehen uns täglich vor Augen; wir aber sind dermaßen blind, daß wir durch unsern Undank ihren ganzen Glanz verdunkeln. Laß uns doch endlich lernen, unsre Augen aufzutun! Ja, öffne sie uns selbst durch deinen Geist, damit wir die ganze Fülle, Größe und Herrlichkeit deiner Wohltaten zu Herzen nehmen, in denen du dich uns selber darstellst und dir ein Zeugnis deiner ewigen Gottheit gibst.»[13] Der Lobgesang des Symeon gehört zum Gottesdienst der reformierten Gemeinden im französischen Sprachgebiet. Auch die Auslegung der Bitten des Unser Vater im Heidel­berger Katechismus enthält einen Lobpreis des Regimentes Gottes. In allen Bitten klingt Lobpreis, Anbetung durch. Aber da in den systematischen Darlegungen über das Gebet das

Unser Vater, also ein Bittgebet, ausgelegt wird, so wird in der theologischen Arbeit, in den Katechismen und Bekenntnissen das Gebet im wesentlichen als Bittgebet verstanden. Aber nicht nur durch die Verknüpfung der Lehre vom Gebet mit der Auslegung des Herrengebetes steht das Bittgebet im Mittel­punkt der theologischen Arbeit. Das eigentliche Gebet der evangelischen Kirche ist das Luther-Lied: «Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott erhör mein Rufen.» Das ist keine Einseitigkeit des reformatorischen Zeitalters, seiner Fröm­migkeit und Theologie. Das ist die Belehrung über das Gebet, die wir aus Röm. 8 empfangen. Es wird uns gezeigt, wie gerade der in Christus zur Sohnschaft Berufene, mit dem Heiligen Geist Beschenkte der wahrhaft Bittende, Fürbitte Hebende ist. Allein der, der durch den Heiligen Geist als das Kind des himmlischen Vaters seufzt, hat die Vollmacht zu danken, so kühn und zuversichtlich zu danken, wie es am Schluß des Kapitels geschieht. Was wir in diesem Kapitel an Belehrung über das Gebet empfangen, das ist eine Bezeu­gung dessen, was im Unser Vater ausgesprochen ist.

Die zentrale Stellung des Bittgebetes in der evangelischen Theologie, im Aufbau des evangelischen Gottesdienstes, im Leben des einzelnen Gemeindegliedes ist eine Erinnerung daran, daß das Glied Christi in Hoffnung erlöst ist; sie ist ein Protest gegen ein glaubensloses, die Hoff­nung mißachtendes, auf menschlichen Ueberzeugungen beruhendes Denken. Dem Lobpsalm geht im reformierten Gottesdienst voraus das Sün­denbekenntnis und das Fürbittegebet.[14] Evangelischer wäre es freilich, wenn dem Sündenbekenntnis die Bezeugung der fro­hen Botschaft und der Dank für Gottes Gnade vorausgehen würde. Der Lobpsalm am Schluß des Gottesdienstes steht an der rechten Stelle; dieses Schlußgebet verdeutlicht, worin das Gebet des Christen besteht.

Wir wiesen eben hin auf die Gefahren und Versuchungen beim Dankgebet, die es abzuwehren gilt. Martin Kähler hat den Theologen und Christen heute, die das Bittgebet ablehnen und nur das Dankgebet gelten lassen wollen, geantwortet: «Wir halten allen denen, welche dem Christen um der ihm geziemenden ehrerbietigen Ergebung willen lediglich den Dank statt der Bitte auf die Lippen legen wollen, das Urteil des Herzenskündigers entgegen: Der Pharisäer dankt, der Zöllner bittet.»[15]. Wir wollen diese sehr pointierte Aussage nicht verallgemeinern. Nicht jedes Danken ist das Danken des Pharisäers, des geistlich Besitzenden, und auch das Bittgebet kann mißbraucht werden. Und zwar meinen wir nicht nur die selbstische Bitte, die Erfüllung der eigenen Wünsche fordert, die Gott in den Dienst des Menschen bringen möchte. Wir meinen jene Bitte, die vergißt, daß Gott das Entscheidende schon getan hat in der Gabe seines Sohnes, in der Verleihung der Sohnesrechte an den Sünder. Richtig aber ist, daß die Katechismen der Reformationszeit davon ausgehen, daß im Gebet der Mensch als der Arme vor Gott hintritt. Er bekennt seine Armut und will von Gott beschenkt werden. Darin be­steht gerade des Menschen, des Christen Gottesdienst, sein Gehorsam, seine Dankbarkeit, daß er in Kindeszuversicht, im Glauben an Gottes Zusage, was ihm fehlt, bei Gott sucht. So lehrt Luther im Großen Katechismus: «Denn weil es also mit uns getan ist, daß kein Mensch die zehen Gepot vollkommen hal­ten kann, ob er gleich angefangen hat zu gläuben,… ist nichts so not, denn daß man Gott immerdar in Ohren liege, rufe und bitte, daß er den Glauben und Erfüllung der zehen Gepot uns gebe, erhalte und mehre und alles, was uns im Wege liegt und daran hindert, hinwegräume.»[16] Darin besteht Gottes Ehre, daß er allein angerufen wird, als der Helfer und Geber sich erweist (man vergleiche dazu die Frage 233 des Genfer Katechismus). Der Betende ist der Mensch, der seine Sünde erkennt und bekennt, der gerade als Glaubender, als Glied Christi Angefochtene: «Quelle affection doit estre en la prière? Premièrement que nous sentions nostre misère et povreté, et que ce sentiment cause en nous une fascherie et angoisse: puis, que nous ayons un désir vehement d’obtenir grâce devant Dieu: lequel désir emflambe noz cueurs, et en­gendre en nous un ardeur de prier» (Frage 243). Darum ist für die evangelische Verkündigung und für die evangelische Theologie das Gebet immer auch und in erster Linie Bitte. Nach dem Heidelberger Katechismus ist die Wirkung der Predigt der Gebote, daß wir Gott bitten um die Gnade des Hei­ligen Geistes (Frage 115). So ist der Bittende nicht der Klein­mütige, sondern der Glaubende, der im Hören der göttlichen Verheißung Gehorsame. Er ist der Mensch, der Gott die Ehre gibt, die er beansprucht, die Ehre, daß er die Sünder gerecht gemacht, daß er den in ihrer Sünde Toten das Leben geschenkt hat. Es sei aber auch noch einmal unterstrichen, daß das Bitten nicht eine Regung des menschlichen Herzens ist, ein Versuch, Gott dem Menschen dienstbar zu machen. Das Bitten ist kein Monolog des nach Glück und Erfüllung seiner Wünsche sich sehnenden Menschen. Es ist die Antwort auf Gottes Anrede, auf die Zusage seiner Gnade und Treue in seinem Wort durch Predigt und Sakrament. So lehrt der Hei­delberger Katechismus, «daß wir allein den einigen, wahren Gott… um alles, das er uns zu bitten befohlen hat, von Her­zen anrufen» (Frage 117).

Nun verstehen wir, daß gerade das Bitten das eigentliche Werk des Christen, das Gott wohl­gefällige Werk ist. «Darumb ist es der Christen eigentlich werck, so den geist Gottes ha­ben, das sie nicht laß und faul sein sondern jmerdar beten und nicht ablassen, wie Christus anderswo lert.»[17] Es ist nicht zuviel gesagt, daß der Mensch in solchem Bitten zu einem königlichen Werk, zum Regieren mit Christus schon in dieser Zeit berufen ist. Fernand Ménégoz gebraucht den Ausdruck coopération: «Ainsi les disciples du Christ coopèrent avec Dieu en priant.»[18] Dieses königliche Amt des Bittens und Fürbittens, dieses Regieren nicht neben Gott, aber doch in Sohneszuversicht und königlicher Vollmacht kennzeichnet Luther mit folgenden Worten: «Das erste stücke machet, das sie mit Gott versünet werden und fur sich alles haben, was sie dürffen, Wenn sie das haben, sollen sie auch Götter wer­den und der weit heilande durch das Gebet, Und also durch den Geist der gnaden selbs Gottes Kinder werden, Darnach als Gottes Kinder zwisschen jm und dem nehesten handeln und andern dienen und helffen, das sie auch dazu komen mögen.»[19] Ein Reformierter würde sich kaum so ausdrücken. Calvin redet nüchterner, und zwar im Sinne der Heiligen Schrift. Und doch ist Luther auch da, gerade da nicht Mysti­ker, sondern ein treuer Zeuge der in Christus geschenkten Sohnschaft, ein gewissenhafter Prediger des Evangeliums. Sein Verständnis des Bittens ist gewonnen am Verständnis des Unser Vater.

Theologische Zeitschrift 2 (1946), Heft 3, S. 192-204.


[1] Luthers Auslegung von Matth. 6, 7-13, Weimarer Ausgabe 32, 419; der letzte Satz ist von mir für den Kursivdruck ausgezeichnet.

[2] Calvins Institutio III, XX, 27.

[3] Ebd., III, XX, 29.

[4] Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon-Zürich 1938, S. 203 ff.

[5] Luthers Großer Katechismus, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Berlin 1930, S. 663 f.

[6] Ebd., S. 666.

[7] Luther, Von den guten Werken, W. A. 6, 218.

[8] Calvins Institutio III, XX, 13.

[9] Von J. Pannier 1938 neu herausgegeben.

[10] Fernand Ménégoz, Le problème de la prière, 2« édition, Strasbourg 1932, p. 354.

[11] Luther, Das XVI. Kapitel S. Johannis, W. A. 46, 81.

[12] Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik 1/2, Zollikon-Zürich 1938, S. 276.

[13] Kirchenbuch hrsg. von Ernst Wolf und Martin Albertz, München 1941, S. 75 f.

[14] Ebd., S. 36.

[15] Martin Kähler, Das Bittgebet, seine Berechtigung und Zuversichtlichkeit, Dogmatische Zeitfragen, 1. Heft, Leipzig 1898, S. 198.

[16] Luthers Großer Katechismus, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, Berlin 1930, S. 662.

[17] Luthers Auslegung von Matth. 6, 5. 6., W. A. 32, 414.

[18] Fernand Ménégoz, op. cit, p. 383.

[19] Luthers Auslegung von Joh. 15,13 ff., W. A. 45, 540.

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