Karl Barth, Der politische Gottesdienst. Zu Artikel 24 der Schottischen Konfession (1938): „Ob es sich bei dem Widerstand gegen die Tyrannei gerade um gewaltsame Resistenz handeln wird, darüber ist ja noch nicht zum vornherein entschieden. Die prima ratio wird ja auch dann nicht die Gewalt sein. Es kann und darf aber nicht aus Furcht vor der ultima ratio der gewaltsamen Resistenz die aktive Resistenz als solche ausgeschlossen werden. Und man wird dann allerdings auch die mögliche Konsequenz einer gewaltsamen Resistenz jedenfalls nicht zum vornherein ausschließen dürfen.“

Der politische Gottesdienst. Zu Artikel 24 der Schottischen Konfession

Von Karl Barth

I.

Der Titel, unter den ich den Inhalt von gestellt habe: „Der politische Gottesdienst” klingt ungewöhnlich und künstlich. Ich wüßte mich nun doch, wenn ich den Zusammenhang und den Inhalt dieses Artikels und wenn ich zugleich die Sache selbst überdenke, nicht anders auszudrücken als eben so: die reformierte Lehre kennt nicht nur den Gottesdienst des christlichen Lebens und nicht nur den kirchlichen Gottesdienst in dem engeren Sinn des Begriffs, wie er uns in den zwei letzten Vorlesungen beschäftigte; sie kennt auf einer dritten Ebene der Betrachtung und der Wirklichkeit auch einen politischen Gottesdienst. Diese dritte Ebene wird sichtbar, wenn wir bedenken, daß das christliche Leben und das Leben der Kirche sich im Raume einer Welt abspielt, die das Wort Gottes noch nicht gehört hat, die der Herrschaft und dem Gericht Jesu Christi noch fremd gegenübersteht, die also auch auf den Gehorsam des Glaubens noch nicht anzusprechen ist. Man bemerke wohl: zu dieser Welt gehören auch die Christen, auch die Glieder der Kirche, auch die bewußten und lebendigen Glieder der Kirche, sofern ja jenes „noch nicht” immer auch für sie gilt, sofern ja auch sie (und in und mit ihnen die Kirche selbst) immer noch in jenem Kampf des Geistes und des Fleisches stehen. Was wird aus der Welt? Was wird aus der Kirche, sofern auch sie immer noch in der Welt ist, zur Welt gehört und selber Welt ist?

Die entscheidende Antwort wird hier gewiß lauten müssen: die Welt darf und soll das Wort Gottes hören. Sie ist der Gegenstand der Mission der Kirche, wobei die Kirche freimütig eingestehen wird, daß sie selber der Mission, die sie auszurichten hat, am allerersten bedürftig ist. Aber eben indem die Kirche ihre Mission der Welt gegenüber ausrichtet — grundsätzlich das Eine und Einzige, was sie für sie tun kann! — vollzieht sie gewissermaßen eine Antizipation. Es bedeutet die Existenz der Kirche in der Welt, die Tatsache, daß sie es wagen muß, ihr das Wort Gottes zu sagen, eine vorläufige, aber reale Heiligung der Welt. Vorläufig, d. h. nicht zu verwechseln mit der Heiligung, die allein daraus folgen kann, daß die Welt das Wort hört, sich zum Glauben berufen läßt und also selber Kirche wird. Aber doch real, ein Werk des Heiligen Geistes wie jene, aber jetzt noch nach außen gewendet, bezogen auf jenen ganzen Bereich des „noch nicht” als solchen. Dieser Bereich ist wirklich noch nicht der des christlichen Lebens, noch nicht der der Kirche!

Art. 24 redet hier im Gegensatz zu den Bewegungen des 16. Jahrhunderts, die dieses „noch nicht” übersahen und in Städten und Ländern das Reich der Heiligen aufrichten zu können und zu sollen meinten. Es handelt sich hier um andere, vorläufige, untergeordnete Aufgaben. Es ist aber auch nicht so, als ob Jesus Christus etwa noch nicht der Herr und zwar der alleinige Herr und Richter auch dieses Bereiches wäre. Er ist es offen, indem ja in diesen Bereich hinein das Wort Gottes verkündigt, in diesem Bereich der Glaube an ihn bekannt wird. Er ist es aber heimlich auch da, wo diese Verkündigung und dieses Bekenntnis noch nicht hörbar werden. Wo das Wort Gottes verkündigt und wo der Glaube an Jesus Christus bekannt wird, da wird ja bestimmt eben dies verkündigt und bekannt: daß sein Königreich kein Ende hat, daß es auch in jenem äußeren Bereich kein solches Gesetz, keine solche Wahrheit und Wirklichkeit gibt, die den Auftrag der Kirche begrenzen, die den in der Liebe tätigen Glauben verdrängen oder auch nur aufhalten könnten. Da wird also notwendig jene Antizipation vollzogen. Da wird die Welt mit ihrem Anspruch, nur Welt zu sein und sich selbst ihr Gesetz zu geben, nicht ernst genommen: weder in dem Sinn, daß sie gleichgültig oder entrüstet sich selbst überlassen, noch auch in dem Sinn, daß ihr sozusagen ein Freibrief ausgestellt würde, auf Grund dessen sie sich nun selbständig ausleben dürfte.

Art. 24 redet hier auch im Gegensatz zu den Bewegungen des 16. Jahrhunderts, die dem Christen nahelegen wollten, sich desinteressiert von der Welt zurückzuziehen und zu denen, die (wie das Luthertum) mit dieser Zurückhaltung die Anerkennung einer Selbständigkeit des weltlichen Reiches gegenüber dem Reiche Christi verbinden wollten. Nach reformierter Lehre sind diese zwei Reiche zwar zu unterscheiden, aber insofern doch Eines, als Jesus Christus nicht nur der Herr der Kirche, sondern in jener ganz anderen Weise, nämlich in Form des Anspruchs auf die politische Ordnung der Herr auch der Welt ist. Der an jeden Menschen ergehende Anspruch dieser Ordnung ist also nicht in einem besonderen Weltgesetz, sondern in dem einen in der Kirche verkündigten und auch für die Welt gültigen Gesetz Gottes, er ist in „Gottes heiliger Anordnung” begründet: gerade insofern ist er echt und wirklich begründet: es dient die politische Ordnung nicht nur „dem Nutzen und der Wohlfahrt der Menschheit”, sondern auch „zur Offenbarung der Herrlichkeit Gottes”, und gerade insofern ist sie eine echte und heilsame Ordnung auch des menschlichen Lebens. Noch nicht die Ordnung des Glaubens und der Liebe, aber, gleichsam als deren vorauslaufender Schatten, eine Ordnung des äußerlichen Rechtes, des äußerlichen Friedens, der äußerlichen Freiheit. Noch nicht die Ordnung des innerlichen geistlichen Rechtes und Friedens, noch nicht die Ordnung der Freiheit der Kinder Gottes — wahrlich noch nicht Gottes ewiges Reich, wohl aber dessen Verheißung mitten im Chaos des Weltreiches.

Das ist die Heiligung der Welt durch die Existenz der Kirche. Das ist die Antizipation, die die Kirche der Welt gegenüber damit vollzieht, daß sie ihr das Wort Gottes verkündigt: sie nimmt auch ihre Ordnung, die politische Ordnung, in Anspruch als eine gottesdienstliche Ordnung, d. h. als eine solche, in welcher die Regierenden und die Regierten in der besonderen, vorläufigen, vorbereitenden Weise, die diesem Bereiche des „Noch nicht” angemessen ist, zum Gehorsam gegen Gott und also zur Dankbarkeit und zur Buße aufgerufen sind. Nur äußerliches Recht, äußerlicher Friede, äußerliche Freiheit kann hier geschaffen und erhalten werden, und nicht ohne Zuhilfenahme physischer Gewalt kann das geschehen. Nur um einen Hinweis auf das Leben in Jesus Christus als das Leben des Glaubens und der Liebe kann es sich hier handeln. Aber eben in diesem Zusammenhang ist es von Gott geboten, in der Welt solches Recht, solchen Frieden und solche Freiheit zu schaffen und zu erhalten, gibt es also auch einen Gottesdienst in der Welt, einen politischen Gottesdienst.

II.

Wir sahen, wie das christliche Leben und das Leben der Kirche unter der Krisis der Frage nach dem rechten Gottesdienst, unter der Krisis der Wahrheitsfrage steht, wie jeder Einzelne und so auch die Kirche als Ganzes verloren wären, wenn Jesus Christus diese Frage nicht immer aufs Neue zu ihren Gunsten beantwortete, wie diese Frage nun aber auch für die Menschen in der Kirche ein dauernd gestelltes Problem, eine nie zu vernachlässigende Aufgabe bedeutet.

Wir können uns nicht wundern, wenn Entsprechendes nun auch von dem dem Leben der Christen und der Kirche gewissermaßen zugeordneten politischen Gottesdienst zu sagen ist. Die politische Ordnung ist jeweilen in der Hand bestimmter politischer Mächte und Machthaber. Diese Machthaber als solche hat Paulus Röm. 13, 6 in einem unmißverständlich sakralen Ausdruck als „Diener (λειτουργοὶ) Gottes” bezeichnet, die zur Handhabung jener Ordnung von Gott eingesetzt seien (Röm. 13, 1): offenbar an ihrer Stelle genau so wie die Kirche und ihre Glieder von Gott eingesetzt sind, als die Versammlung der Glaubenden zur Verkündigung und zum Vernehmen des Wortes Gottes. Aber wie die Kirche beständig gefragt ist, ob sie ist, was sie heißt, so nun auch und erst recht der Staat, die politische Ordnung in der konkreten Gestalt ihrer Verwaltung durch diese und diese politischen Machthaber. Daß sie von Gott eingesetzt ist, das schützt sie vor jener Frage ebensowenig wie die Kirche. Sie steht und sie fällt mit Gottes Gnade, und das schließt auch hier nicht aus, sondern ein, daß sie von uns Menschen immer wieder gesucht und gefunden werden muß. Ihr gottesdienstlicher Sinn kann offenbar hier deutlich und dort undeutlich werden.

Er wird nun nicht etwa darin deutlich, daß diese Machthaber sich zum christlichen Glauben bekennen und wohl gar als persönlich aufrichtig fromme Menschen bekannt sind. Dessen kann man sich, wenn dem so ist, für sie und vielleicht auch für die Kirche freuen; das macht aber an sich den gottesdienstlichen Sinn der politischen Ordnung noch nicht deutlich. Er war oft sehr undeutlich, wo man gemeint hätte, ihn angesichts der anerkannten Christlichkeit der betreffenden Machthaber besonders deutlich sehen zu müssen. Und er wird umgekehrt da­durch noch nicht notwendig undeutlich, daß die betreffenden Machthaber zur Kirche kein oder ein unklares Verhältnis haben. Er kann vielmehr auch dann u. U. sehr deutlich werden, deutlicher als dort, wo der Staat ein sehr christliches Gesicht zu zeigen scheint.

Die Frage ist hier vielmehr sehr einfach die Frage nach dem, was die betreffende politische Macht will und tut. So ist sie in der Schottischen Konfession gestellt worden. Tut sie, was ihres Amtes ist? Hält sie sich an Gottes Gebote? Bleibt sie in den Schranken des Rechtes und ihres Auftrags? Hat sie also, indem sie diese Haltung beweist, rechtmäßige Autorität? Das ist die Frage. Welcher politischen Macht gegenüber könnte und müßte sie nicht immer wieder gestellt werden? Von Gott her ist sie bestimmt gestellt. Es könnte ja auch das Andere geschehen: daß die Träger der politischen Macht ihre Pflicht nicht tun, daß sie das Recht, den Frieden und die Freiheit, die sie schützen sollten, verletzen und zerstören, daß ihre Macht, wie es in Art. 14 ausdrücklich heißt, zur Tyrannei wird, und daß sie so oder so gerade keine rechtmäßige Autorität ans Licht stellen. Der gottesdienstliche Sinn der politischen Ordnung wird in diesem Fall offensichtlich undeutlich, unglaubwürdig, wohl gar zum Hohn werden, von ihren Trägern selbst zum Hohn gemacht werden. Was bedeutet es jetzt, daß sie von Gott eingesetzt sind, daß Gott selbst in ihrem Rate sitzt, daß sie seine Autorität in Anspruch nehmen? Etwas ganz Anderes offenbar, auch wenn an dem Allem nichts geändert wird, als dann, wenn jenes Erste von ihnen zu sagen wäre, wenn sie deutlich machen würden, was sie jetzt durch ihre Taten undeutlich machen! Gerade indem an der göttlichen Einsetzung der politischen Ordnung nichts geändert wird, gilt jetzt offenbar, daß Gott, indem er in ihrem Rate sitzt, auch über die Richter und Fürsten selbst richtet!

Und nun hat die Schottische Konfession neben diese erste Frage mit Recht noch eine zweite gestellt, die man freilich etwas vorsichtiger und genauer formulieren sollte, als sie es getan hat. Sie stellt nämlich fest, daß sich der rechte Gebrauch der politischen Gewalt unzweideutig an deren Handhabung im Verhältnis zur Kirche zeigen werde. Es ist zu viel gesagt, es steckt sogar ein gewisser theologischer Irrtum darin, wenn sie vom Staat verlangt, daß er die wahre Kirche nicht nur schützen, sondern gegebenen Falles auch die Reformation der Kirche und also die Herstellung der wahren Kirche in seine Hand nehmen und nach dem Vorbild der alttestamentlichen Könige den Götzendienst und allen in der Kirche aufkommenden Aberglauben unterdrücken solle. Das ist zuviel und zwar in gefährlicher Weise zuviel gesagt! Geistliche Verkehrtheit muß durch geistliche und nicht durch politische Gewalt überwunden werden. Wenn die Kirche das verkennt, wer bürgt ihr dafür, welche Reformationen ihr dann eines Tages mit politischer Gewalt zugemutet werden könnten? Aber das ist richtig: der gottesdienstliche Sinn der politischen Ordnung wird da deutlich, wo der Staat der Kirche Freiheit verschafft und erhält — mehr braucht sie nicht! für alles andere dankt sie! Sie braucht aber volle Freiheit dazu, ihrer eigenen, von der des Staates verschiedenen Aufgabe nachzugehen. Vergebung der Sünde ist etwas Anderes als Recht. Und ewiges Leben ist etwas Anderes als Frieden und Freiheit. Die Kirche braucht Raum, im Namen ihres Herrn diese ihre Botschaft auszurichten. Der gottesdienstliche Sinn der Staatsordnung wird da undeutlich, wo der Staat der Kirche diesen Raum verweigert oder beschränkt, wo er von der Kirche verlangt, daß sie sich seinen Zwecken unterordne und anpasse, wo er ihr gegenüber die falsche Kirche fördert, wo er vielleicht gar in Verabsolutierung seiner eigenen Zwecke selber zur Kirche wird, die dann sicher eine falsche und die unduldsamste aller Kirchen sein wird. Das also ist die Frage, der sich auch der Staat nicht entziehen kann: Macht er den gottesdienstlichen Sinn der politischen Ordnung deutlich oder undeutlich? Ist er auf dem Wege, in seinem Bereiche nach Röm. 13 Gottes Stell­vertreter und Priester — oder ist er auf dem Wege, das Tier aus dem Abgrund von Apc. 13 zu werden?

III.

Aus der Beantwortung dieser Frage ergibt sich die von uns geforderte konkrete Stellungnahme innerhalb der politischen Ordnung. Ich sage ausdrücklich: innerhalb! Die politische Ordnung und ihre Notwendigkeit als solche steht nicht in Frage, welches auch das Verhalten der politischen Macht sein möge. Und auch der gottesdienstliche Sinn dieser Ordnung wird dadurch, daß er hier deutlich, dort undeutlich gemacht wird, nicht berührt. Also: unsere Stellungnahme kann unter allen Umständen nur eine Stellungnahme innerhalb dieser Ordnung sein. Unsere Stellungnahme innerhalb dieser Ordnung wird aber eine andere sein, wenn ihr Sinn deutlich, als wenn er nicht deutlich ist.

Es gibt keine allgemeingültige christliche Forderung des Inhalts, daß wir den politischen Machthabern unsere positive Mitarbeit an ihren jeweiligen Aufgaben und Zielen zur Verfügung zu stellen hätten. Die Schottische Konfession hat hier sehr deutlich unterschieden zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Obrigkeit. Wir werden dem Staat solche positive Mitarbeit nur dann leisten können, wenn uns der gottesdienstliche Sinn der politischen Ordnung durch ihn selbst, durch seine Haltung und Taten, durch sein Eintreten für Recht, Frieden und Freiheit, durch sein Verfahren der Kirche gegenüber deutlich und glaubwürdig gemacht ist. Das ist die Bedingung, die die Confessio Scotica mit Recht immer wieder geltend gemacht hat. Ist sie nicht erfüllt, dann können wir, zunächst allgemein gesprochen, nur leiden, so, wie wir auch andere böse Gewalt, der wir nicht wehren können, erleiden müssen. Der gottesdienstliche Sinn der politischen Ordnung bleibt, auch wenn ihre Träger ihn zum Hohn machen. Aber an ihrer Verantwortlichkeit können wir uns dann nicht beteiligen; ihre Absichten können wir dann nicht fördern; ihre Ziele können wir dann nicht mit ihnen anstreben wollen. Und das unter keinen Umständen und unter keinem Vorwand! Wir haben uns jene Frage zu stellen. Und es bedeutet eine verantwortliche Entscheidung des Glaubens und der Liebe, wenn wir uns getrauen, innerhalb der politischen Ordnung tatsächlich eine aktive Stellung einzunehmen.

Es gibt aber auch keine allgemein gültige christliche Pflicht, ja nicht einmal ein allgemein gültiges Recht, dem Staat unsere positive Mitarbeit, unsere Beteiligung an seiner Verantwortlichkeit zu verweigern. Wir hätten dazu die Pflicht, wenn uns der gottesdienstliche Charakter der politischen Ordnung faktisch undeutlich gemacht wäre. Wir haben aber dazu — die Schottische Konfession hat auch in dieser Hinsicht sehr deutlich geredet — nicht einmal das Recht, solange und sofern uns dieser Charakter der Staatsordnung in concreto deutlich gemacht ist. Wir haben dann die Pflicht, mit der politischen Macht zusammenzuarbeiten. Wir sind dann gebunden, dem Staat unsere Hilfe, uns selbst zur Ausführung seines Dienstes zur Verfügung zu stellen. Wir würden dann, wenn wir unsere Bürgerpflicht verweigern würden, Gott selbst nicht weniger verleugnen, wie wenn wir unser kirchliches Bekenntnis verleugneten. Wieder stehen wir vor jener Frage. Und wieder bedeutet es eine verantwortliche Entscheidung des Glaubens und der Liebe, wenn wir uns wirklich getrauen sollten, innerhalb der politischen Ordnung die andere: eine passive Stellung einzunehmen.

IV.

Es ist eine bestimmte Stelle in Art. 14 der Konfession: nämlich in der Auslegung des sechsten Gebotes, auf die wir hier noch einmal zurückkommen müssen, die uns nötigt, hier noch einen Schritt weiterzugehen. Es heißt dort ausdrücklich, es gehöre zur Erfüllung des Gebotes „Du sollst nicht töten!” auch dies: „der Tyrannei zu widerstehen” (to represse tyrannie, tyrannidem opprimere) und nicht zu dulden, daß unschuldiges Blut vergossen wird, wenn wir es verhindern können. Was heißt das? Das heißt: Es gibt nach dem Schottischen Bekenntnis unter Umständen eine nicht nur erlaubte, sondern göttlich geforderte Resistenz gegen die politische Macht. John Knox und seine Freunde haben mit dem, was sie lebten und taten, den unzweideutigen Kommentar dazu gegeben: gemeint ist nicht nur eine passive, sondern eine aktive Resistenz, eine Resistenz, bei der es dann unter Umständen auch darum gehen kann, Gewalt gegen Gewalt zu setzen. Anders kann ja der Widerstand gegen die Tyrannei, die Verhinderung des Vergießens unschuldigen Blutes vielleicht nicht durchgeführt werden!

Was sollen wir dazu sagen? Ich meine, Alles wohl überlegt, daß wir zu dem, was die Konfession hier sagt, Ja sagen müssen. Wir werden uns freilich dem Gehorsam gegen Gott und also nach Röm. 13 dem Gehorsam gegen die politische Ordnung und wir werden uns nach 1. Tim. 2, 1-4 auch dem Gebet für ihre Träger, wer und wie sie auch seien, nie entziehen können. Dieser Gehorsam und dieses Gebet können nicht aufhören, gleichviel, ob uns der gottesdienstliche Sinn der politischen Ordnung deutlich oder undeutlich gemacht ist. Es kann aber die Gestalt dieses Gehorsams und dieses Gebets hinsichtlich der konkreten Träger und Vertreter der politischen Macht unter Umständen auch noch eine andere werden als die jener aktiven oder passiven Stellungnahme. Es kann uns der Gehorsam — nicht gegen die politische Ordnung, aber gegen ihre konkreten Vertreter zur Unmöglichkeit werden, wenn wir gleichzeitig den Glauben und die Liebe festhalten wollen. Es könnte sein, daß wir diesen und diesen Machthabern nur noch im Ungehorsam gegen Gott und dann faktisch auch im Ungehorsam gegen die politische Ordnung gehorsam sein könnten. Es könnte sein, daß wir es mit einer Regierung von Lügnern und Wortbrüchigen, Mördern und Brandstiftern zu tun hätten, mit einer Regierung, die sich selbst an die Stelle Gottes setzen, die die Gewissen binden, die Kirche unterdrücken und sich selber zur Kirche des Antichrist machen wollte. Es könnte dann offenbar sein, daß wir nur noch wählen könnten: entweder im Ungehorsam gegen Gott den Gehorsam gegen diese Regierung oder im Gehorsam gegen Gott den Ungehorsam gegen diese Regierung. Müßte dann nicht Gott mehr gehorcht werden als den Menschen? Müßte es uns dann nicht verboten sein, nur leiden zu wollen? Müßte dann nicht der in der Liebe tätige Glaube an Jesus Christus unsere aktive Resistenz ebenso notwendig machen, wie er, wenn wir nicht vor diese Wahl gestellt sind, die passive Resistenz oder auch unsere positive Mitarbeit notwendig macht? Genau so, wie er in der Kirche unter den entsprechenden Umständen die Reformation und damit den Bruch in der Kirche, den Bruch zwischen wahrer und falscher Kirche, notwendig macht? Müßte dann das Gebet für diese Regierung, ohne aufzuhören, für ihre Personen und ihre Bekehrung, für ihr ewiges Heil vor Gott einzutreten, nicht doch ganz schlicht zum Gebet um ihre Beseitigung als politische Machthaber werden? Und würden wir dann nicht, diesem Gebet entsprechend, auch handeln müssen?

Die Gegenfrage erhebt sich: Können, dürfen wir uns denn als Christen an der Ausübung von Gewalt beteiligen? Diese Gegenfrage mag uns wohl noch einmal an die Feststellung erinnern, mit der wir unsere ganze Überlegung begonnen haben: Wir befinden uns hier an der Grenze der Kirche, im Raume der noch nicht erlösten Welt. In dieser Welt leben und nun auch in ihr Gott gehorsam sein bedeutet direkt oder indirekt: an der Ausübung von Gewalt beteiligt sein. Nicht erst in dem jetzt zuletzt erörterten Falle: wenn wir im Gehorsam gegen Gott zu aktiver Resistenz gegen gewisse politische Machthaber übergehen müssen!

Machen wir uns klar: an der Ausübung von Gewalt sind wir auf alle Fälle ohnehin beteiligt, indem wir der politischen Ordnung nach Gottes Gebot gehorsam sind. Wir sind es auch dann, wenn wir jenen mittleren Weg der passiven Teilnahme meinen wählen zu sollen. Und ob es sich bei dem Widerstand gegen die Tyrannei gerade um gewaltsame Resistenz handeln wird, darüber ist ja noch nicht zum vornherein entschieden. Die prima ratio wird ja auch dann nicht die Gewalt sein. Es kann und darf aber nicht aus Furcht vor der ultima ratio der gewaltsamen Resistenz die aktive Resistenz als solche ausgeschlossen werden. Und man wird dann allerdings auch die mögliche Konsequenz einer gewaltsamen Resistenz jedenfalls nicht zum vornherein ausschließen dürfen.

Wir dürfen und sollen darum beten, daß uns jene Wahl erspart bleibe oder daß uns, wenn dies nicht möglich ist, wenigstens die ultima ratio der gewaltsamen Resistenz erspart bleibe. Und wir sollen und werden unsere Verantwortlichkeiten an dieser Stelle wahrhaftig womöglich noch sorgfältiger zu prüfen haben als in jenen anderen Entscheidungen. Eines aber darf nicht geschehen: wir dürfen nicht darum beten und wir dürfen es auch nicht wollen, daß uns der Gehorsam gegen Gott auch in diesem weltlichen Bereich, daß uns der politische Gottesdienst mit seinen Entscheidungen als solcher erspart bleibe. Und wir werden, da wir einmal für ihn in Anspruch genommen sind, vor keiner seiner Konsequenzen, wenn sie von uns gefordert ist, die Flucht ergreifen dürfen. Die Welt hat Männer nötig und es wäre traurig, wenn gerade die Christen keine Männer sein wollten.

19. Vorlesung über das Schottische Bekenntnis von 1560.

Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre: 20 Vorlesungen (Gifford-Lectures) über das Schottische Bekenntnis von 1560, gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938, Zürich, Verlag der Evangelischen Buchhandlung, 1938, S. 203-216.

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