Lesslie Newbigin, Salz der Erde. Fragen an die Kirchen heute (The Other Side of 1984. Questions for the Churches): „Lassen wir uns leiten von der Sicht der Bibel, dann werden wir erkennen, dass Wissen im tiefsten Sinn andere Einstellun­gen und Verpflichtungen erfordert als die, die seit der Zeit der Aufklärung zu Idealen erhoben wurden. Im Mittelpunkt der bi­blischen Sicht steht die Beziehung des Vertrauens zu einer per­sönlichen Wirklichkeit, die viel größer ist als wir selbst. Ohne dieses Vertrauen wird uns das wahre Wissen vom Wesen der Dinge verborgen bleiben.“

Salz der Erde. Fragen an die Kirchen heute (The Other Side of 1984. Questions for the Churches)

Von Lesslie Newbigin

Inhalt

Vorbemerkung des Verfassers. 1

I. Gibt es eine Zukunft?. 1

II. Die Wurzeln der modernen Kultur 4

III. Ein neuer Bezugsrahmen. 11

IV. Drei Fragen. 18

V. Einladung zum Suchen neuer Wege. 35

Zusammenfassung. 40

Vorbemerkung des Verfassers

Diese kleine Schrift entstand als Teil einer Studienarbeit, die der Britische Rat der Kirchen 1981 in Auftrag gab, um eine Konferenz der britischen Kirchen 1984 vorzubereiten. Dieses Jahr wurde gewählt, da anzunehmen war, daß das Jahr 1984 – im Blick auf den bekannten Buchtitel – zu Fragen heraus­fordern werde, was eigentlich mit unserer Gesellschaft los sei.

Nach einer beachtlichen Diskussion wurde man sich einig, daß ein längerer Zeitraum zur Vorbereitung einer solchen Kon­ferenz nötig sei. Zunächst sollte ein Aufsatz geschrieben wer­den, der die Auseinandersetzung anregen und möglichst auch Themen vorschlagen sollte, mit denen eine Reihe von Exper­tengruppen die Konferenz auf nationaler Ebene vorbereiten könnte. Diesem Anliegen soll mit den folgenden Seiten ent­sprochen werden. Ein erster Entwurf wurde an fünfzig sach­kundige Leute versandt, von denen dreißig mit hilfreichen Kritiken und Kommentaren reagierten. Daraufhin wurde die Schrift noch einmal grundlegend überarbeitet und vom Briti­schen Rat der Kirchen mit der Bitte veröffentlicht, sie in wei­ten Kreisen durchzuarbeiten. Stellungnahmen sollten entweder an den Verfasser oder an den Rat der Kirchen gesandt werden, um die Auseinandersetzung zu fördern und die anstehenden Fra­gen zu klären.

Da die Schrift jetzt vom Ökumenischen Rat der Kirchen neu herausgegeben wird, muß darauf aufmerksam gemacht wer­den, daß sie ursprünglich für eine innerbritische Diskussion gedacht war. Besonders dankbar bin ich dafür, daß Wesley Ariarajah in seinem Beitrag meine Fragen in den weiteren Zusam­menhang des weltweiten Dialogs mit anderen Religionen und Weltanschauungen stellt. Ich bin überzeugt, daß diese Schrift Fragen aufwirft, die in der Tat weit über den britischen Hori­zont hinaus von Bedeutung sind. Deshalb hoffe ich, daß sie – wenn auch vielleicht nur indirekt – auch anderen von Nut­zen sein kann.

Advent 1983                                                   Lesslie Newbigin, Selly Oak/Birmingham, GB

I. Gibt es eine Zukunft?

Meine Frau und ich gingen 1936 als Missionare nach Indien. Wir reisten auf einem Schiff, das einen vollen Monat für die Reise brauchte. Aber bei jedem Zwischenhalt wurden wir dar­an erinnert, daß die britische Flagge allgegenwärtig war. In Port Said kauften wir uns Tropenhelme. Angeblich schützten sie uns vor den Strahlen der Sonne, die, – wieso eigentlich? – hier plötzlich lebensgefährlich werden sollten. In Wirklichkeit – das merkten wir aber erst später – wurden wir mit dem Status­symbol des „Sahib“ versehen. Von dem Augenblick an, als wir in Bombay an Land gingen, waren wir ohne jeden Zweifel An­gehörige der herrschenden Rasse. Unser Lebensstil war euro­päisch. Gelegentlich wurde hinter vorgehaltener Hand geflü­stert, einige Engländer seien „ausgestiegen“ – hätten allen Ballast des weißen Mannes abgeworfen und seien zurückgefal­len in die dunkle Welt abseits jeder Zivilisation.

Bevor wir Indien 1974 verließen, hatten wir uns an den An­blick jener jungen Leute aus wohlhabenden Familien in Eng­land, Deutschland oder Frankreich gewöhnt, die sich in zer­lumpten und verwaschenen indischen Gewändern auf den Stra­ßen herumtrieben. Sie hatten Europa den Rücken gekehrt in der Hoffnung, sie könnten – und sei es als Bettler – in Indien et­was finden, was das Leben lebenswert macht.

In den Jahren danach wurde ich als Pfarrer in England oft ge­fragt: „Was ist für Sie nach dem Umzug von Indien nach Eng­land die größte Schwierigkeit, mit der Sie fertig werden müs­sen?“ Meine Antwort war immer: „Das Schwinden der Hoff­nung.“ Ich glaube, daß mir das jeder bestätigen wird, der den gleichen Wechsel vollzogen hat. Selbst in den verkommensten Slums von Madras gab es immer noch den Glauben, eines Ta­ges werde sich alles zum Besseren wenden. Man konnte eine Abendschule eröffnen, sich einsetzen für die Versorgung mit Wasser oder man gründete einen Verein „Fortschrittliche Ge- Seilschaft Junger Männer“. Trotz aller Enttäuschungen nach der Unabhängigkeit von 1947, es gab immer noch den Glauben an eine bessere Zukunft.

In England findet man dagegen solche Hoffnung kaum noch. Abgesehen von denen, deren Leben geprägt ist von der christli­chen Hoffnung, gegründet auf die Auferstehung Jesu als Unter­pfand einer neuen Schöpfung, finden sich wenige Anzeichen unter den Bürgern dieses Landes für jene Art von Vertrauen in die Zukunft, die es noch zu Beginn dieses Jahrhunderts gege­ben hat. Die ältere und die mittlere Generation setzt eigentlich nur die Hoffnung auf ein einigermaßen bequemes Leben, in ei­ner Umgebung, in der viele vertraute Werte keine Geltung mehr haben. Doch für sehr viele junge Menschen gibt es nur noch die schreckliche Aussicht auf einen nuklearen Krieg, nach dem dann nichts mehr kommt.

Was ist eigentlich passiert mit unserer Zivilisation, die noch kürzlich so zuversichtlich als „Die kommende Weltzivilisa­tion“[1] gesehen wurde? Es hat natürlich auch früher schon Stimmen gegeben, die warnend auf das Ende der westlichen Zi­vilisation hingewiesen haben. Aber das waren Rufer in der Wü­ste, und ihre Botschaft erreichte den Durchschnittsbürger kaum. Sogar nach den schrecklichen Ereignissen des Ersten Weltkrieges und seinen Nachwehen waren wir damals voller Vertrauen, daß die „moderne wissenschaftliche Weltanschau­ung“ die Wirklichkeit im Gegensatz zu den Mythen der nicht zivilisierten Welt richtig erfaßte. Wir meinten, daß unsere Wis­senschaft und Technologie der Schlüssel sei zu unbegrenztem Fortschritt und gingen davon aus, daß freie demokratische Ein­richtungen sich selbstverständlich überall durchsetzen würden und daß unsere Herrschaft über die Natur eine Welt des Wohl­ergehens für alle schaffen würde.

Es war immer noch möglich, von „Fortschritt“ zu sprechen, so als ob er – wenn schon nicht ein Naturgesetz – zumindest ein mögliches und angemessenes Ziel unseres Strebens sei. Je­der Aspekt des Lebens wurde beschrieben aus der Überzeu­gung heraus, daß „Evolution“ – verstanden als Entwicklung vom Niederen zum Höheren – der Schlüssel sei zum Verständ­nis der Vergangenheit und der Bezugsrahmen (framework) für das Planen der Zukunft.

Heute ist diese Denkweise zwar noch nicht völlig verschwun­den, aber insgesamt hat sich die Betrachtungsweise fast völlig verändert. Wissenschaft und Technik werden mehr als Bedro­hung denn als Grund für Hoffnung gesehen. Das Entstehen der „grünen Bewegungen“ als bedeutsame politische Kräfte ist der deutlichste Hinweis auf diesen Wechsel in der Perspektive. Wissenschaft, selbst in ihrer wohltätigsten Form wie die medi­zinische Wissenschaft, wird heute mit einer Skepsis betrachtet, wie sie vor 50 Jahren undenkbar war. Im Prinzip sind nahezu alle großen tödlichen Seuchen besiegt worden, dennoch sind die Belastungen des Gesundheitswesens in allen westlichen I -ändern höher als die Ressourcen. Die sich am schnellsten aus­breitenden Krankheiten sind bezeichnenderweise solche, die man – im weitesten Sinne – als geistige Erkrankungen be­zeichnen kann. Es sind Krankheiten, die mit dem Verlust der Sinngebung des Lebens Zusammenhängen. Politiker, die keine Funktionen mehr haben, behaupten andauernd, sie hätten Lö­sungen für unsere Probleme, aber man betrachtet diese Be­hauptungen mit wachsender Skepsis. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, wenn man heute – kurz vor dem Ende des 20. Jahr­hunderts – die Schriften der Philosophen des 18. Jahrhunderts noch einmal liest, die die christliche Vision der „himmlischen Stadt“ übersetzt hatten in ein zukünftiges irdisches Utopia. Sie hatten ihre Zeitgenossen aufgefordert, „Gott“ zu vergessen und ihre Hoffnung auf eine gesegnete Zukunft zu setzen, in der sich jenes Glück verwirklichen werde, auf das jeder Mensch ein Anrecht habe und das „Gott“ nie habe verschaffen können. Wir, die wir selbst jene „Zukunft“ sind, die ihnen als Ersatz für Gott galt, können ihre Schriften heute nur in tiefer Niederge­schlagenheit lesen. Uns ist, als müßten wir die Geister jenes großen Jahrhunderts beschwören und sagen: „Freunde, es war ein wunderbarer Traum, aber es war wirklich nur ein Traum.“[2]

Es ist ohne Zweifel leicht, auf die jeweiligen Schwächen ei­ner vergangenen Epoche hinzuweisen. Was hier jedoch zur De­batte steht, geht tiefer. Es ist die dramatische Geschwindigkeit, mit der unsere zivilisierte Welt im Verlauf eines Menschenal­ters das Vertrauen in ihre eigene Wertigkeit vollkommen verlo­ren hat. Jede Kultur hat von jeher ihre Kritiker. Jede Kultur durchläuft Epochen, in denen Selbstkritik allgemein üblich ist. Aber es ist ebenso wahr, daß Kulturen entstehen und vergehen. Die Frage ist nun, ob unsere augenblickliche Selbstkritik ledig­lich das übliche selbstkritische Fragen einer gesunden Kultur ist, oder ob wir uns an dem Punkt befinden, wo eine Kultur ih­rem Untergang entgegengeht. Es scheint mir – und damit ste­he ich gewiß nicht allein – daß wir mit unserer derzeitigen Einstellung der zweiten Möglichkeit entschieden näher sind als der ersten. Was ich „unsere Kultur“ nenne – ich will versu­chen, das später genauer zu definieren – ist seit einem halben Jahrhundert in zwei Ströme geteilt – den östlichen und den westlichen. Beide, der Marxismus, der die offizielle Ideologie des östlichen Teiles ist, und der liberale Kapitalismus des We­stens, haben ihre unmittelbare Quelle in jener Bewegung des Denkens, die von ihren Vertretern „die Aufklärung“ genannt wurde. Beide glaubten zu Zeiten ihres größten Selbstvertrau­ens an eine „himmlische Stadt“, die hier auf Erden errichtet werden würde, sei es durch evolutionären Fortschritt oder revo­lutionären Konflikt. Beide befinden sich jetzt in einem Zu­stand, in dem sie nur noch ihre „Stellungen halten“. Sie versu­chen, das Erreichte gegen die Kräfte der Zerstörung zu be­wahren.

Und – so Langdon Gilkey – es ist bezeichnend, daß die Dissi­denten beider Lager die einzigen sind, die noch Vertrauen in die Zukunft setzen. Die einzigen überzeugten Marxisten sind Dis­sidenten im Westen und die einzigen noch überzeugten Libera­len sind die Dissidenten im Osten. Auf beiden Seiten der Tren­nungslinie beschränken sich die etablierten Kräfte auf einen Kampf, der den Status quo verteidigt. Der Vertrauensverlust in die Zukunft findet beredten Ausdruck in der sinnlosen Torheit eines kleinkarierten Vandalismus von Leuten, die ihren Zorn nur dadurch entladen können, daß sie die Symbole sinnlosen Überflusses zerstören. Er findet seinen Ausdruck aber auch im gleichermaßen gedankenlosen Unsinn des nuklearen Wettlaufs zwischen den Supermächten. Die Atompilze, die sich über den verbrannten Ruinen von Nagasaki und Hiroshima in den Him­mel erhoben, hängen seit jenem Tag des Jahres 1945 bedrohlich über dem Bewußtsein der modernen Menschheit und stellen mit furchtbarer Schärfe die Frage: „Gibt es eine Zukunft für die zivilisierte Welt, wie wir sie kennen?“

II. Die Wurzeln der modernen Kultur

Ich sprach von „unserer Kultur“, und ich muß nun versuchen zu sagen, was ich mit diesem Begriff meine. Im Lexikon findet sich eine brauchbare Definition für den Begriff Kultur: „Die Gesamtheit der Lebensformen, die eine menschliche Gemein­schaft entwickelt und von Generation zu Generation weiterge­geben hat.“ Kultur umfaßt also das ganze Leben der Menschen als ein Leben in der Gemeinschaft mit anderen. Es schließt Wissenschaft, Kunst, Technik, Politik, Rechtsprechung und Religion einer Gruppe von Menschen ein. Grundlegend für je­de Kultur ist ihre Sprache. Sie verkörpert die Art und Weise, wie ein Volk im gegenseitigen Austausch sich Erfahrung anzueignen und sie zu verarbeiten lernt. Solange man sein Leben in­nerhalb einer Kultur lebt, nimmt man selbst kaum wahr, wie Sprache den Rahmen setzt, in den Erfahrung eingebracht wird. Sprache gleicht einer Brille – durch die man „sieht“. Erst wenn man in einer ganz anderen Kultur lebt und eine neue Spra­che lernt, entdeckt man, daß Erfahrung auch anders angeeignet und verarbeitet werden kann. Man entdeckt, daß man durch verschiedene Brillen unterschiedlich sieht. Als die westeuro­päische Kultur im Lauf der vergangenen zwei Jahrhunderte in die Kulturen eindrang, von denen wir heute als der „Dritten Welt“ reden, war ein wesentliches Element dieser Invasion die Einführung der europäischen Sprachen als Medien der Erzie­hung. Infolgedessen sind z.B. ganze Generationen in Indien mit Englisch als Sprache des öffentlichen Lebens groß geworden. Sie haben sich deshalb daran gewöhnt, sich mit Hilfe europäi­scher Denkkategorien Erfahrung anzueignen und zu verarbei­ten, anstatt sich der Kategorien zu bedienen, die sich in den al­ten kulturellen Traditionen Indiens entwickelt haben.

Diese europäische Kultur aber, die sich selbst so gewaltsam in nahezu jede Kultur der Welt eingebracht hat, ist erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit auf der Bühne der Geschichte erschienen. Während des größten Teils der Weltgeschichte, die wir kennen, sind die Volksstämme, die die Halbinseln westlich von Asien bewohnten, kulturell von den Völkern Indiens, China und der arabischen Welt weit übertroffen worden. Erst während der letzten drei Jahrhunderte haben die Nachkommen diese westlichen Volksstämme ihre Kultur in jeden Teil der Erde verbreitet. Dabei haben sie ältere Kulturen unterdrückt und oft zerstört. Zugleich haben sie zum ersten Mal eine gemeinsam Weltzivilisation geschaffen, die die ganze Erde umspannt – sie schließt zwar nicht jedermann ein, spielt aber – zumindest in allen großen Städten der Welt – die dominierende Rolle Den meisten Menschen ist sie als Träger der „Modernität“ erschienen – mit allem, was dazu gehört an technischer Beherrschung und unbegrenzten Möglichkeiten zu entdecken, zu verändern und zu kontrollieren.

W.E. Hocking konnte noch 1956 mit unerschütterlichem Vertrauen in die nahezu zeitlose und universelle Gültigkeit dieser Kultur schreiben:

Heute scheinen wir an der Schwelle von etwas vollkommen Neuen zu stehen, Zivilisation in letzter Einmaligkeit … Zum ersten Mal ist unser gesamter Weltraum von Ideen durchdrungen, die – so hat es Locke einmal ausgedrückt im Blick auf Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit – „zum Menschen als Mensch gehören und nicht als Glied einer bestimmten Gesellschaft“. Hier und da gibt es im Orient noch Abwehrreaktionen gegen einige Eigentümlichkeiten, die an westlicher Theorie und Praxis haften, aber sie richten sich nicht gegen das, was wir die Reinen Universalien nennen, die Naturwissenschaften, die Mathematik, die Technik – diese betrachtet man nicht als vom Westen entlehnt, sondern als etwas eigenes. Durch die Geburt des Universellen hat der Westen etwas hervorgebracht, das niemals wieder Privatbesitz sein kann.[3]

Hockings Worte drücken die Sicherheit einer Kultur aus, die noch darauf vertraute, daß ihre Art, die Dinge zu sehen, univer­sale Gültigkeit habe. Diese „Art, die Dinge zu sehen“, ist aber heute fragwürdig geworden. Deshalb haben wir uns mit ihr wieder zu beschäftigen, um herauszufinden, woher sie kommt und worauf sie fußt.

Ich habe mich auf die „Aufklärung“ des 18. Jahrhunderts be­zogen, als die unmittelbare Quelle unserer Kultur, aber natür­lich liegen ihre Wurzeln in der Geschichte viel weiter zurück. Alle geistigen Bewegungen sind kontinuierlich. Denn die Den­ker stehen über den Wechselfällen der Geschichte, selbst wenn diese so einschneidend sind wie Kriege und Revolutionen. Jede Entscheidung darüber, wo das Aufkommen von etwas Neuem anzusiedeln ist, ist naturgemäß etwas willkürlich. Die Bewe­gung, von der wir hier sprechen, hat ihre ersten Ansätze in dem Aufbruch des Denkens, der sich in Westeuropa vollzog durch die Übersetzung arabischer Schriften ins Lateinische, den Einfluß aristotelischer Philosophie, die Flut klassischer Ideen zur Renaissancezeit, die leidenschaftlichen Auseinandersetzun­gen der Reformation und die Anfänge der modernen Naturwis­senschaft im 17. Jahrhundert.

Aber klar ist, daß gegen Mitte des 18. Jahrhunderts sich das Gefühl ausbreitete, Europa sei an einem Wendepunkt ange­kommen. Entwicklungen, die seit Jahrhunderten im Gange wa­ren, schienen einen solchen Grad von Klarheit erreicht zu ha­ben, daß man nur noch das Wort „Aufklärung“ gebrauchte, um auszudrücken, was sich ereignet hatte. Das Licht war aufge­gangen. Die Dunkelheit war geschwunden. Was vorher unklar war, war nun klar geworden. Hinfort würde man die Dinge so sehen, wie sie in Wirklichkeit sind. „Aufklärung“ ist in der eng­lischen Sprache das gleiche Wort wie „Erleuchtung“. Es ist ein Wort mit tiefwurzelnden religiösen Untertönen. Es ist das Wort, das gebraucht wird, um die entscheidende Erfahrung des Buddha zu beschreiben. Es ist das Wort, das in den johanneischen Schriften gebraucht wird, um das Kommen Jesu zu be­schreiben: „Das Licht ist in die Welt gekommen“ (Johannes 3,19). Um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren nun die führen­den Denker davon überzeugt, daß sie an einem solchen Zeit­punkt der Erleuchtung angekommen waren. Deshalb ist es wohl auch richtig, bei diesem Zeitpunkt anzusetzen, wenn wir unsere Kultur verstehen wollen. Das damalige Zeitgefühl wird in einigen Ausführungen D’Alamberts, die im Jahre 1759 ver­faßt wurden, gut beschrieben:

Betrachtet man sorgfältig die Mitte des Jahrhunderts, in dem wir le­ben, mit den Ereignissen, die uns bewegen oder in irgend einer Form unser Denken, unsere Sitten, die Früchte unseres Tuns und sogar unsere freie Zeit bestimmen, dann kann man schwerlich übersehen, daß in mancherlei Hinsicht sich ein sehr bemerkenswerter Wandel in unseren Ideen vollzieht, ein Wandel, dessen Geschwindigkeit noch größere künftige Veränderungen zu versprechen scheint. Täg­lich sammelt die Naturwissenschaft neue Reichtümer. Durch Aus­weitung ihrer Grenzen hat die Geometrie ihre Fackel in die benach­barten Bereiche der Physik hineingetragen. Das wahre Weltsystem ist erkannt, entwickelt und vollendet worden … kurzum, von der Erde bis zum Saturn, von der Geschichte der Gestirne bis zu der der Insekten ist die Naturphilosophie revolutioniert worden; und nahe­zu alle anderen Gebiete des Wissens haben neue Formen angenom­men. Die Entdeckung und Anwendung einer neuen Methode des Philosophierens, die besondere Begeisterung bei neuen Entdeckungen, ein gewisser Überschwang von Ideen, die die Betrachtung des Universums in uns weckt – alle diese Ursachen haben Sinne und Verstand in lebhafte Bewegung gebracht. Diese Bewegung, die sich in alle Richtungen der Schöpfung hinein ausgebreitet hat wie ein Fluß, dessen Dämme geborsten sind, hat gleichsam alles, was sich ihr in den Weg stellte, gewaltsam mitgerissen.[4]

Gegen Ende des Jahrhunderts waren die führenden Denker Westeuropas davon überzeugt, daß in der Tat ein Licht aufge­gangen sei, mit dem verglichen die vorausgehenden Jahrhun­derte europäischer Geschichte und die frühere Geschichte der meisten menschlichen Rassen Dunkelheit waren. Was immer auch die Errungenschaften der Griechen und Chinesen gewe­sen sein mochten, sie hatten sich nicht durchgesetzt. Das mo­derne Europa hatte sie alle hinter sich gelassen. Die europäi­schen Völker waren nunmehr die Vorhut der Geschichte. Sie hatten das Geheimnis einer wahren wissenschaftlichen Metho­de in den Griff bekommen, die den alten Aberglauben vertrei­ben und die wahre Natur der Dinge ans Tageslicht befördern würde. Sie waren die Träger des Lichtes in einer noch weitge­hend dunklen Welt. Deshalb hatten sie sowohl die Pflicht als auch die Fähigkeit, ihre Zivilisation in jeden Winkel dieser Welt zu bringen. Und sie schickten sich an, es zu tun.

Was nun genau ist geschehen an jenem bedeutsamen Wende­punkt? Der französische Historiker Paul Hazard[5] beschreibt ihn als den Wechsel von einer Gesellschaft, gegründet auf Pflichten, hin zu einer Gesellschaft, gegründet auf Rechte. Wie wir später noch feststellen, ist das wohl ein Teil der Wahrheit, trifft aber nicht den Kern. Basil Willey ist, wie mir scheint, der richtigen Antwort viel näher gekommen, wenn er sagt, daß das Gefühl der Freude, das so offenkundig die Geburt der europäi­schen Kultur umgab, von der Überzeugung herrührte, daß Din­ge, die zuvor dunkel waren, jetzt er-„klärt“ werden konnten. An die Stelle „dogmatischer“ oder „unwissenschaftlicher“ Er­klärungen, die das Denken nicht mehr zufriedenstellten, kam nunmehr die „richtige Erklärung“ der Dinge ans Licht. Das war der Kernpunkt, sagt Willey, und darum empfand diese Be­wegung, als sie zu vollem Selbstbewußtsein gekommen war, „Aufklärung“ als ein so treffendes Wort.

Aber wir müssen weiter fragen: Was meinen wir mit „Erklä­rung“? Basil Willey versucht, diese Frage zu beantworten:

Eine Erklärung erscheint um so zutreffender, je mehr sie die Erwar­tungen aller Betroffenen erfüllt. Eine Erklärung „erklärt“ dann am besten, wenn sie einem Bedürfnis unserer Natur entspricht, unse­rem tief sitzenden Verlangen nach Gewißheit. „Erklärung“ kann vielleicht grob umrissen werden als eine neue Darstellung von etwas – von einem Ereignis, einer Theorie, einer Lehre usw. – im Sinne gegenwärtiger Interessen und Voraussetzungen. Erklärung als sol­che stellt zufrieden, weil sie die besonderen Voraussetzungen an­spricht, die jene eines vergangenen Zeitalters oder einer früheren Denkweise ersetzen. So ist es notwendig, wenn eine Erklärung zu­friedenstellen soll, daß ihre Aussagen als endgültig erscheinen müs­sen, ohne einer weiteren Deutung zu bedürfen. Ohne Umschweife gestatten wir uns selber die Frage: „Wohin führt nach allem diese Er­klärung?“ Wir haben wirklich die Erklärung einer Erklärung ver­langt, will sagen, wir haben gesehen, daß die Aussagen der ersten Erklärung nicht endgültig sind, sondern wiederum hinterfragt und in einer anderen Terminologie ausgedrückt werden können – ob­wohl sie uns für den Augenblick endgültig zu sein scheinen. So kön­nen wir zum Beispiel bereit sein, für eine metaphysische Vorstellung eine psychologische Erklärung zu akzeptieren, oder wir können uns für eine metaphysische Erklärung einer psychologischen Vorstel­lung entscheiden. Alles hängt von unseren Vor-Vorstellungen ab, die wiederum von unserer Vor-Bildung abhängen, durch die wir dahin gelangt sind, eine Reihe von Aussagen als endgültig zu betrachten (oder zu fühlen), andere wiederum nicht. Eine Erklärung fordert mit unerbittlicher Autorität unsere Zustimmung, wenn sie die „Wirklichkeit“, die „Wahrheit“ dessen, was uns am meisten wirk­lich, am meisten wahr zu sein scheint, voraussetzt. Man kann des­halb „Erklärung“ nicht absolut definieren. Man kann nur sagen, sie ist eine Feststellung, die zu einer bestimmten Zeit oder an einem be­stimmten Ort die Ansprüche zufriedenstellt.[6]

Wenn man zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten gelebt hat, merkt man die Relativität aller „Erklärungen“. Fast unmittelbar nach meiner Ankunft in Indien wurde ich bei ei­nem Busunfall so schwer verletzt, daß ich für zwei Jahre außer Gefecht gesetzt war. Wie soll man das „erklären“? Der indische Pastor sagte: „Es ist Gottes Wille.“ Ein Hindu hätte gesagt: „Das Karma Ihrer früheren Leben hat Sie eingeholt.“ In eini­gen Kulturen wäre die Erklärung, ein Feind hätte mich mit ei­nem Fluch belegt. Wenn ich nun als ein „aufgeklärter“ Europä­er gesagt hätte, es seien die Bremsen gewesen, die nicht in Ord­nung waren, wäre das – für die anderen – überhaupt keine Erklärung gewesen. Es wäre einfach nur eine andere Darstel­lung des Sachverhaltes gewesen, der einer Erklärung bedurft hätte. Von einer „Erklärung“ sprechen heißt, von diesem letzt­gültigen Bezugsrahmen, von Maßstäben und Voraussetzungen zu sprechen, die einen Sinn im Leben erkennen lassen. „Erklä­rungen“ greifen nur innerhalb eines angenommenen Bezugs­rahmens, der selbst keiner Erklärung bedarf. Was in der Auf­klärung geschah, war die Auswechslung eines Bezugsrahmens, der als unzureichend angesehen wurde, durch einen anderen.

Weil der Bezugsrahmen der „Aufklärung“ sich heute als un­zureichend erweist, können wir ihn jetzt kritisch betrachten, ja, wir sind dazu verpflichtet. Was war nun der „Bezugsrah­men“, in dem die Denker des 18. Jahrhunderts sich nun mit ei­ner neuen „Erklärung“ von Erfahrung zufrieden geben konn­ten? Ich sehe sehr wohl, daß es töricht ist, so grundlegende und zugleich komplexe Geistesbewegungen allzu sehr zu vereinfa­chen, aber man geht sicher nicht fehl, wenn man mit der Ant­wort bei der Darstellung jenes gewaltigen Eindrucks beginnt, den die naturwissenschaftliche Forschung, und ganz besonders Isaac Newtons, auf das Denken des 18. Jahrhunderts gemacht hat.

Die bekannten Zeilen von Alexander Pope drücken aus, was das 18. Jahrhundert fühlte: „Naturgesetze und Natur lagen in tiefer Nacht. Da sprach Gott: ‚Es werde Newton!‘, und alles wurde licht.“

Newton ging nicht von einer behaupteten Offenbarung oder von angeblich „angeborenen Ide­en“ aus. Er ging aus von der Beobachtung von Einzelerscheinungen und suchte von daher allgemeine Gesetze zu formulieren, indem er den größtmögli­chen Bereich der Erscheinungen auf eine Formel brachte.

Das Ergebnis dieser Methode war ein Weltbild, das das euro­päische Denken für die nächsten zweihundert Jahre beherr­schen sollte. In diesem Bild ist die „wirkliche“ Welt eine Welt sich bewegender Körper, die eine völlig objektive Existenz ha­ben, unabhängig von einem menschlichen Beobachter. Die ganze Wirklichkeit ist aus dieser Sicht endgültig erkennbar. Die allerwichtigsten „Gesetze“ sind jene der Mathematik, die anwendbar sind auf alles, was wirklich ist. Indem man alle Er­fahrungswerte bis in ihre kleinsten möglichen Gliederungen zerlegt, kann man die Gesetze entdecken, die ihre Bewegungen und wechselseitigen Beziehungen steuern. Analyse ist das not­wendige Instrument allen Denkens, und sie befähigt den menschlichen Verstand, bis hinter die äußeren Erscheinungen vorzudringen und so zu erfahren, wie die Dinge wirklich sind. Dieses Verfahren kann ständig erweitert werden und ist unbe­grenzt in seiner Reichweite. Es führt dann zu der stetig wach­senden Fähigkeit, die Vorgänge der Natur für menschliche Zwecke zu nutzen.

Die Gesamtheit aller wahrnehmbaren Erscheinungen ist die „Natur“. „Natur“ ersetzt eigentlich die Vorstellung von Gott, die nun nicht länger notwendig ist. Die bezeichnende Position des 18. Jahrhunderts – bekannt als „Deismus“ – hat freilich die Vorstellung von Gott als eine Art von ‚Erstbeweger‘ beibe­halten, der hinter den Naturprozessen steht. Aber selbst in je­nem Jahrhundert gab es viele Kritiker, die einen Deisten als ei­ne Person bezeichneten, die nicht schwach genug ist, ein Christ zu sein, und nicht stark genug, ein Atheist zu sein. Das 19. Jahr­hundert zog daraus die naheliegende Folgerung: für „Gott“ war kein Platz.

Seit die „Natur“ an die Stelle von „Gott“ getreten ist, wird der Wissenschaftler, der mit den Vorgängen der Natur vertraut ist, zum Priester, der zwischen dem Menschen und diesem neu­en Gott vermitteln kann. Allein die Wissenschaft ist es, die Menschen befähigt, die Natur zu verstehen, und die in der Lage ist, die reichen Gaben der Natur zum Wohle der Menschheit zu erschließen. Die Naturwissenschaft kann keine andere Autori­tät akzeptieren als die Autorität der wahrnehmbaren Fakten. Deshalb sind all die verschiedenen Wissenschaften, auch wenn sie mit einer gemeinsamen Methode arbeiten, jeweils autonom m ihrem eigenen Bereich. Man kann keiner vorgeblichen Of­fenbarung gestatten, sich einzumischen. Das Studium der Astronomie, der Biologie oder der Literatur (einschließlich je­nes Teils von Literatur, die als „Wort Gottes“ kanonisiert wor­den ist) muß nach den wissenschaftlichen Prinzipien verlau­fen, für die Newtons Physik das herausragende Beispiel dar­stellt. Wirtschaftswissenschaft (und hier sollte die Aufklärung möglicherweise ihre am weitesten reichenden Auswirkungen haben) ist nicht länger Teil der Ethik und insoweit letztlich ab­hängig von Theologie; sie ist eine autonome Wissenschaft, für die ethische Prinzipien, die von einer vorgeblich göttlichen Of­fenbarung abgeleitet sind, keine Autorität haben.[7]

Die Ersetzung „Gottes“ durch „die Natur“ hatte ein neues Verständnis von „Gesetz“ zur Folge. Es gibt keinen göttlichen Gesetzgeber mehr, dessen Befehlen deswegen zu gehorchen wäre weil sie Gottes Befehle sind. Gesetze sind nunmehr die notwendigen Beziehungen, die aus der Natur der Dinge entste­hen (Montesquieu). Als solche unterliegen sie dem menschli­chen Verstand zur Erforschung. Der Verstand ist allen Men­schen eigen und ist im Prinzip überall derselbe. Vorausgesetzt, er wird nicht von außen mit Dogmen bedrängt und dadurch per­vertiert, kann der Verstand entdecken, was die Natur der Dinge ist und was folglich „Naturgesetze“ sind. Das gefährlichste und zersetzendste aller Dogmen, die den menschlichen Verstand verkehrt haben, ist dann die Lehre von der Erbsünde

Diese böse Verleumdung der Menschlichkeit aus der Welt zu schaffen, ist die vordringliche, wesentliche Voraussetzung für die Befreiung des menschlichen Verstandes und des menschli­chen Gewissens, damit sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllen können. Aber dieses Dogma ist lediglich das Zentralstück ei­nes dogmatischen Lehrgebäudes, das es zu zerstören gilt. Jede Autorität – sei es die eines Dogmas, der Schrift oder „Gottes“ —, die den menschlichen Verstand ersetzen will, ist als falsch und als Verrat an der Würde des Menschen zurückzuweisen.

Das Wort „Würde“ wird hier absichtlich gebraucht Die mit­telalterliche Welt sprach von der “Ehre“ eines Menschen, diese war verbunden mit seiner Stellung in der Gesellschaft.[8] Nach der Aufklärung sprach man von menschlicher „Würde“ – et­was, das von Geburt an zu jedem menschlichen Wesen gehört, unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung. Jeder Mensch ist im Besitz von Verstand und Gewissen und ist deswegen in der Lage, Wahrheit vom Irrtum und Richtig von Falsch zu un­terscheiden. In diesem Sinne ist jeder Mensch autonom und nicht einem Gesetzgeber von außen unterworfen. Er gestaltet sein eigenes Leben in Übereinstimmung mit den wirklichen „Gesetzen“ – das sind die Gesetze der Natur, die zu entdecken sind durch den Gebrauch des Verstandes und des moralischen Gesetzes, das ins Gewissen jedes Menschen eingeschrieben ist. Spätere Entwicklungen, die der Aufklärung folgten (und sich gegen einige ihrer Grundzüge wandten), zeigten, daß diese Sicht vom autonomen Menschen immer mehr an Bedeutung gewann. Die Romantik entwickelte die Vorstellung der „Per­sönlichkeit“. Sie wurde Teil jener nicht zu hinterfragenden Denkvoraussetzung des Westeuropäers, daß jeder Mensch das Recht auf größtmögliche Entfaltung seiner Persönlichkeit hat, begrenzt nur durch die gleichen Rechte anderer. Die mittelal­terliche Gesellschaft hatte den Gedanken der Pflicht betont die sich aus der gesellschaftlichen Stellung jedes Menschen erga­ben. Von der Aufklärung an waren es die „Menschenrechte“, die unumstößlich schienen. Den Gründungsvätern der neuen Republik, die sie in der Neuen Welt schufen und die die Prinzi­pien dieser neuen Philosophie verkörperte, schien es notwen­dig und natürlich, mit den berühmten Worten zu beginnen: „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, daß alle Menschen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind; daß dazu das Recht auf Leben, Freiheit, und das Streben nach Glück ge­hören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, die ihre rechtmäßigen Machtbefug­nisse von der Zustimmung der Regierten herleiten.“ Die Rechte des Menschen sind der nicht mehr hinterfragte Ausgangspunkt für alles andere.

Zu diesen Rechten gehört das Recht auf Streben nach „Glück“. Glück (bonheur) wurde von den Philosophen des 18. Jahrhunderts als „ein neues Wort in Europa“ begrüßt. Anstelle der himmlischen Freuden, auf die der mittelalterliche Mensch sich freuen sollte, freute sich der Mensch der Aufklärung auf das „Glück“ hier auf Erden. Das könnte für alle erreichbar wer­den durch die wachsenden Leistungen der Wissenschaft. Sie befreit die Gesellschaft von den Bindungen an Dogma und Aberglaube, sie entschlüsselt die Geheimnisse der Natur und öffnet sie für alle. Noch einmal spricht Pope für seine Zeit:

O Glück, du unsers Daseins Ziel und Sinn:
Gut, Freude, Freiheit, Friede liegt darin.

Hannah Arendt[9] hat aufgezeigt, daß wenigstens für einige der amerikanischen Gründungsväter das Glück, das sie mein­ten, ein „öffentliches Glück“ war, erreichbar durch gemeinsam tätige Verantwortung für das öffentliche Leben. Sie weist aber auch daraufhin, daß die Gründungsväter sich mit dieser An­sicht nicht haben durchsetzen können. Befriedigung persönli­cher Lust als Ziel und Maßstab menschlichen Handelns lag ih­ren Absichten fern. Der Lauf der Ereignisse aber führte unaus­weichlich dazu, daß ihre Sprache umgedeutet wurde im Sinn eines Strebens nach persönlichem Wohlergehen. Wir stehen heute vor den Folgen: die Welt wird (und die derzeitige westli­che Welt ist es schon geworden) der Ort, wo jeder einzelne das „Recht“ auf „Streben nach Glück“ im bürgerlichen und priva­ten Sinne hat. Der Staat ist allenfalls dafür verantwortlich, daß dieses Recht auch beachtet wird. Daraus folgt, daß jeder Ge­danke an ein Leben nach dem Tode als unzuverlässig und gefährlich gilt. Unzuverlässigisterdeswegen, weil die wissenschaftli­chen Methoden keinerlei verläßliche Kenntnis vermitteln über das, was jenseits des Todes liegt. Und gefährlich ister, weil er die Aufmerksamkeit ablenkt von dem „Glück“, das das Recht eines jeden Menschen in diesem Leben ist, zugunsten eines angebli­chen Glücks in einem anderen Leben, für das wir lediglich die Autorität des Klerus haben, der selbst sehr behaglich in diesem Leben lebt, zu Lasten der nicht aufgeklärten Armen.

Sobald der Gedanke der „Menschenrechte“ sich als Grund­satz erwiesen hat, erhebt sich unausweichlich die Frage: Wie und durch wen sollen diese Rechte sichergestellt werden? Mit steigendem Nachdruck haben darauf die nachaufklärerischen Gesellschaften geantwortet: durch den Staat. Der National­staat, der an die Stelle der alten Vorstellungen der heiligen Kir­che und des heiligen Reiches tritt, spielt nun die Hauptrolle auf der politischen Bühne Europas nach der Aufklärung. Nach dem Trauma der Religionskriege des 17. Jahrhunderts hatte Europa sich zum Prinzip der religiösen Koexistenz bekannt. Die Leidenschaften, die man zuvor für rivalisierende religiöse Anschauungen entwickelt hatte, wurden mehr und mehr auf den Nationalstaat übertragen. Nationalismus wurde zur ei­gentlichen Ideologie der europäischen Völker, die sich zu Kri­senzeiten immer als stärker erwies als andere ideologische oder religiöse Kräfte.

Wenn es irgendeine Größe gibt, für die letzte Treue und Hin­gabe geboten ist, dann ist es der Nationalstaat. Im 20. Jahrhun­dert haben wir uns daran gewöhnt, daß – im Namen der Na­tion – Katholiken gegen Katholiken, Protestanten gegen Pro­testanten und Marxisten gegen Marxisten kämpfen. Die Anklage der Gotteslästerung, wenn sie überhaupt erhoben wird, wird als merkwürdiger Anachronismus betrachtet; der Vorwurf des Verrats, also der Vorwurf, irgendeine Treue höher zu setzen als die Treue zum Staat, wird jedoch als ein unverzeih­liches Vergehen behandelt. Der Nationalstaat hat die Stelle Gottes eingenommen. Die Verantwortung für Erziehung, Ge­sundheitswesen und öffentliche Wohlfahrt, die früher bei der Kirche lag, verlagerte sich mehr und mehr auf den National­staat. In unserem Jahrhundert hat sich die Entwicklung noch erheblich beschleunigt durch das Aufkommen des „Wohl­fahrtsstaates“. Von den nationalen Regierungen wird allgemein erwartet, daß sie verantwortlich und in der Lage sind, alles das zu beschaffen, was nach Ansicht früherer Generationen nur Gott schenken konnte: – Freiheit von Furcht, Hunger, Krank­heit und Not – in einem Wort: „Glück“.

Es ist schon richtig, daß wir diese „Bekehrung“ heute kritisch betrachten, die unsere moderne Welt entstehen ließ. Doch es wäre dann verkehrt und irreführend, wenn wir nicht gleich­zeitig anerkennen, was wir der Aufklärung verdanken. Selbst heute kann man nicht ohne eine gewisse innere Bewegung die Worte zur Kenntnis nehmen, mit denen Immanuel Kant auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ antwortete: „Aufklärung ist der Exodus des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmün­digkeit. Unmündigkeit ist die Unfähigkeit, sich seines Ver­stan­des ohne die Hilfe anderer zu bedienen … ‚Wage zu wissen‘ (sapere aude)! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen; das ist das Motto der Aufklärung.“[10] Wer kann die befreiende Wirkung leugnen, die von diesem starken Aufruf ausging? Für Christen ist es besonders nötig anzuerkennen, daß die Bibel und das Lehramt der Kirche Fesseln für den menschlichen Geist geworden waren; daß die Beseitigung von Hindernissen auf dem Weg zur Freiheit des Gewissens und des forschenden Verstandes erreicht wurde durch die Führer der Aufklärung gegen den Widerstand der Kirchen; Unter­drückung und Unwissen beendet wurde; und daß die Entwick­lung in Wissenschaft und Technik, die diese Befreiung ermög­lichte, den nachfolgenden Generationen gewaltigen Nutzen ge­bracht haben. Es wäre unredlich, wenn wir verkennen wollten, was wir der Aufklärung verdanken.

Darüber hinaus ist noch viel zu sagen zu der Ansicht, daß das Werk der Aufklärung noch immer unvollendet ist und daß seine endgültige Lösung eine der größten Gegenwartsaufgaben ist. Die Führer der Aufklärung haben nämlich die Aufgaben, die sie sich selbst gestellt hatten, keineswegs gelöst. Sie waren nicht ausgenommen von der menschlichen Sünde, ewige Wahr­heiten zu beschwören, um eigene Interessen gutzuheißen. Die „Menschenrechte“, für die die Philosophen des 18. Jahrhun­derts sich besonders einsetzten, waren hauptsächlich die Rech­te der aufkommenden Bourgeoisie. Freiheit bedeutete in erster Linie Freiheit des Eigentums, Freiheit des Handels und Frei­heit zu reisen. Es war nicht die Freiheit für Arbeiter zur Organi­sation von Gewerkschaften, nicht die Freiheit für Schwarze zur Selbstbestimmung, nicht das Recht für Ureinwohner zum Be­halten ihres Landes, es war nicht die Freiheit für die Frauen, gleiche Rechte zu erhalten wie die Männer. Im späten zwanzig­sten Jahrhundert sind wir immer noch dabei, uns mit diesem unerledigten Aufgabenkatalog der Aufklärung herumzu­schlagen.

In der Geschichte sind jedoch die Grenzen von Epochen fließend. Während wir damit beschäftigt sind, das unerledigte Geschäft der Aufklärung aufzuarbeiten, müssen wir ebenso – glaube ich – erkennen, daß das Weltverständnis der Aufklä­rung uns nicht mehr länger zufriedenstellen kann. Die „Erklä­rungen“ des 18. Jahrhunderts haben keine Bedeutung mehr für uns. Wir haben, abgesehen von diesem unerledigten Aufgaben­katalog, erneut die Aufgabe, nach einem Verständnis „des We­sens der Dinge“ zu suchen. Damit werden wir dem Eindruck, wir seien in eine Sackgasse geraten, entgegentreten und hoffen gleichzeitig, neue Horizonte zu gewinnen für den Sinn des Le­bens.

III. Ein neuer Bezugsrahmen

Im vorhergehenden Abschnitt habe ich in groben Umrissen versucht, den Bezugsrahmen „selbstverständlicher“ Wahrhei­ten zu skizzieren, in dem seit der Aufklärung die modernen westlichen Völker sich Erfahrung angeeignet und verarbeitet haben. Da ich im Jahre 1983 schreibe, habe ich stillschweigend vorausgesetzt, daß für uns heute diese Dinge nicht länger selbstverständlich sind. Die Erwartungen des 18. Jahrhunderts haben sich nicht erfüllt. Die himmlische Stadt ist nicht gekom­men, und wir erwarten sie auch nicht mehr. Die Wissenschaft hat Siege gewonnen, die weit über die Träume des 18. Jahrhun­derts hinausgehen, aber die Welt, die daraus entstanden ist, er­scheint uns keineswegs vernünftiger als die früherer Jahrhun­derte. Mehr und mehr Menschen innerhalb der stärksten Na­tionen der Erde fühlen sich hilflos im Zugriff irrationaler Mächte. Ungeachtet der Trennungslinie zwischen Ost und West gibt es eine tiefe Skepsis im Blick auf das, was Regierun­gen erreichen können. Die modernen Verfahren von Kommu­nikation und Überwachung geben den Regierungen zuneh­mend erkennbare Machtfülle. Aber andererseits gibt es die Gruppen, die ihre Rechte anmelden, und die immer raffinierte­re Formen von Widerstand entwickeln. Es entsteht folgerichtig eine Spirale der Steigerung von Gewalttätigkeit – von Terro­rismus auf der einen Seite und Folter auf der anderen. Unvor­stellbare Grausamkeiten, die die Philosophen des 18. Jahrhun­derts in die dunklen Jahrhunderte verwiesen, werden jetzt von „zivilisierten“ Regierungen verübt. Und denen, die nicht di­rekt mit Terrorismus und Folter zu tun haben, flößt es ein tiefes Gefühl von Sinnlosigkeit ein, entstanden aus dem Fehlen jegli­cher Leitbilder. Das reicht von der pathetischen Frage junger Leute in der reichen Welt: „Wer bin ich?“ bis zum sinnlosen Vandalismus in den Straßen unserer wohlhabenden Städte. Die Pariser Studenten hatten in den stürmischen Tagen der Revolte von 1968 neben ihren Sprüchen auch den Slogan: „Wir sind ge­gen die Alternative – an Hunger zu sterben oder an Langewei­le.“ Tausende ihrer Nachkommen schwärmen durch Indien auf der Suche nach „Sinn“ und finden genau das, wovor sie fliehen wollen: Hunger und Langeweile.[11]

Die Befreiung unserer rationalen Fähigkeiten von der Kon­trolle des „Dogmas“ hat uns offensichtlich nicht in eine ratio­nale Welt geführt, die (um ein Wort zu benutzen, dessen Be­liebtheit bezeichnend ist) „sinnvoll“ ist. Wir sind wieder an ei­nem Punkt, wo als richtig angenommene „Erklärungen“ nichts mehr erklären. Als mein indischer Bus mit einem eisernen Tor zusammenstieß und die Beine der Reisenden brechen ließ, war meine Erklärung, daß die Bremsen versagt hätten, für den indi­schen Pastor keine Erklärung. Und er hatte recht. Die Wissen­schaft hat die „Gesetze der Natur“ („die notwendigen Bezie­hungen zwischen den Dingen“) mit einem Wagemut und einer Zielstrebigkeit aufgespürt, die zu den größten Errungenschaf­ten menschlichen Geistes zu rechnen sind. Aber das Ergebnis ist eine Welt ohne Sinngebung. Wie ist es sonst zu erklären, daß die Astrologie in den fortgeschrittensten Ländern des Westens zu einer so blühenden Industrie werden konnte? Die „Erklä­rungen“, die die Wissenschaft anbietet, erklären nichts mehr. Man mag das Versagen der Bremsen über eine endlose Kette von Gründen zurückverfolgen bis hin zur Erschaffung der Welt. Das würde aber immer noch nicht erklären, warum gera­de ich es war, der sein Bein brach, just als ich meine missionari­sche Tätigkeit begann. Wie kann dieses Ereignis für mich sinn­voll sein? Das ist eine Frage, die die Wissenschaft nicht stellt, und die sie auch nicht beantworten will.

An diesem Punkt, glaube ich, müssen wir einsehen, daß un­sere Probleme nicht gelöst werden innerhalb der Kategorien, die unsere Kultur anbietet. Als Erben der Aufklärung und als Vertreter der „modernen wissenschaftlichen Weltanschau­ung“ gehen wir normalerweise so vor, daß wir eine Reihe von „Problemen“ auflisten, ihre Ursachen herausfinden und „Lösungen“ vorschlagen auf der Grundlage einer wissenschaftli­chen Analyse der Situation. Wir verfahren normalerweise nach der Annahme, daß es im Prinzip eine Lösung geben muß, die durch sorgfältige Forschung erkannt und durch angemessene Techniken herbeigeführt werden kann. Heute werden wir im Blick auf dieses Verfahren skeptisch. Wir kommen zu der Ein­sicht, daß es „Probleme“ im menschlichen Leben gibt, für die es keine „Lösungen“ gibt. Es muß gefragt werden, ob wir nicht neue Modelle zum Verständnis unserer menschlichen Situation benötigen. Das bedeutet, daß wir den überkommenen Bezugs­rahmen des Verstehens zu überprüfen haben. Vorbedingung für wirkungsvolles Handeln in jedem Bereich ist die richtige Wahr­nehmung der Dinge, so wie sie wirklich sind. Unsere Kultur ist während der letzten zwei Jahrhunderte zuversichtlich gewesen, daß sie die Welt ändern könne. Vielleicht müssen wir heute be­tonen, daß es darauf ankommt, sie zu verstehen.

In unserem kurzen Überblick über die Geistesbewegung, die sich selbst als den Anbruch des Lichtes in der Dunkelheit sah, haben wir festgestellt, wie oft das Wort „Dogma“ unter den Be­hinderungen für einen freien Gebrauch der Vernunft auftauch­te. In der älteren christlichen Tradition war das Wort „Dogma“ ein gutes Wort. Es stand für die segensreiche Gabe einer gesi­cherten Wahrheit, auf die wir uns verlassen konnten. „Zwei­fel“ stand andererseits für etwas Böses. Das kennzeichnende Beispiel dafür war die Sünde von Adam und Eva: sie zweifelten an der Güte des göttlichen Verbots, Früchte vom Baum der Er­kenntnis des Guten und Bösen zu essen. Nach der biblischen Darstellung bestand die Ursünde, aus der alles weitere folgte, in der Bereitschaft zum Verdacht, man könne Gott nicht voll vertrauen. Daraus entstand der Wunsch, selbst zu erkennen, was Gott verborgen hatte. Die Grenze, die Gott gesetzt hatte, war – so die Aussage der Bibel – eine Einladung zum Vertrau­en. Das Böse ist das, was Gott nicht gewollt hat; sein Wille ist, daß die Menschen nur das Gute kennen sollten. Aber wenn man Gott nicht mehr vertrauen kann, dann müssen die Menschen in der Lage sein, beides zu sehen und sich dann zu entscheiden. Folglich sagt der Versucher „eure Augen werden aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“ (Ge­nesis 3,5). Versteht man so die Situation des Menschen, dann ist Glaube – im Sinne liebenden Vertrauens – die Grundtu­gend und Zweifel die Ursünde.

Die Aufklärung vertauschte die Rollen der beiden Begriffe: „Zweifel wurde als oberstes Prinzip der Erkenntnis auf ein Ehrenpodest gehoben. Die Bereitschaft, alle überkommenen Meinungen zu hinterfragen, war die erste Voraussetzung, um zur Wahrheit vorzudringen. „Dogma“ andererseits wurde zu einem Schimpfwort. Es stand für alles, was den freien Ge­brauch des menschlichen Verstandes in Fesseln legte. Und so ist es bis heute geblieben. Nur wenige zeitgenössische engli­sche Theologen hören es gerne, wenn man ihre Disziplin mit dem traditionellen Begriff „Dogmatik“ belegt. Der Rollen- 1 tausch der beiden Begriffe war von zentraler Bedeutung für die Erfahrung, die der modernen wissenschaftlichen Weltan­schauung den Weg bereitete. Der Blick auf das, was dieser Rol­lentausch mit sich brachte, wird uns helfen, zu verstehen, in welcher Situation wir uns jetzt selbst befinden.

Die Menschen der Aufklärung sahen den Zweifel als eine notwendige Waffe im Kampf gegen den „Aberglauben“. Der große Feind des Wissens war der Irrglaube, der sich weigerte, sich dem rationalen Zweifel zu unterziehen. Eine Abbruchsar­beit war zu leisten: die Waffen der Beobachtung, der Analyse und des kritischen Verstandes waren auf die Dogmen anzusetzen, die aufgrund der Autorität der Väter oder aufgrund einer angeblichen Offenbarung anerkannt worden waren. Und noch einmal sei es gesagt, wir müssen anerkennen, was wir der Aufklärung verdanken, weil sie die Macht so manchen alten Aberglaubens zerbrochen hat. Doch Zweifel kann nur zweitrangig sein und nicht vorrangig, wo es um den Akt des Erkennens geht. Kritik kann nur auf der Basis von Glaubenssätzen fruchtbar werden, die – zur Zeit des kritischen Hinterfragens – noch keinem Zweifel unterliegen. Es ist unmöglich, alle seine Überzeugungen gleichzeitig zu bezweifeln, ohne dem Wahnsinn zu verfallen.

Wenn wir das Wesen der Dinge verstehen wollen, haben wir zu beginnen mit einem Akt der Hinwendung. Dabei öffnen wir uns bewußt, um auf das Besondere zu achten im ganzen Umfeld des­sen, was wir immer nur undeutlich wahrnehmen. Dieser grund­legende Akt ist ein Akt des Vertrauens. Wir haben keine Mög­lichkeit, im voraus zu wissen, ob es sich lohnt, sich diesem Ge­genstand zuzuwenden. Ob es eine Ansicht ist, ein Geräusch, eine Wahrnehmung, ein mündlicher Bericht oder was auch im­mer es sein mag, wir müssen damit beginnen, uns dem Vorhan­denen zuzuwenden. Das ist ein „Empfangen“. Um aber zu „empfangen“, müssen wir es auf irgendeine Weise in Beziehung setzen zu der Erfahrung, die wir bereits hatten. Nur so gibt es Sinn. Aber bei diesem In-Beziehung-Setzen sind wir gezwun­gen, Fragen zu stellen. Das Neubegriffene kann in Frage stellen, oder es kann in Frage gestellt werden durch die Erfahrung, die wir schon haben. Ohne dieses Element des Befragens, sprich des Zweifelns, kann es keine sichere Erkenntnis darüber geben, wie die Dinge wirklich sind. Wir wären dem Aberglauben preisge­geben. Doch die Fähigkeit zur Kritik, die uns jede Überzeugung hinterfragen läßt, ist ihrerseits abhängig von Überzeugungen, die die Grundlage für unsere Anfragen abge­ben. Deswegen ist der Zweifel wesentlich, wenn auch zweitrangig bei dem Unter­fangen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Vorrang haben Zu­wendung und Empfangen, und sie sind Ausdruck von Vertrauen.

Im Zentrum der Bewegung, die unsere moderne Kultur schuf, gab es eine Verschiebung im Gleichgewicht zwischen Glaube und Zweifel. Über einen sehr langen Zeitraum hatte die europäische Vorstellung vom Wesen der Dinge sich gestützt auf ein Dogma, das auf göttlicher Offenbarung beruhte. Dann setz­te sich das Prinzip des Zweifels durch, mit dem bekannten Wort „Wagt zu wissen“. Wer wollte leugnen, daß seine Wirkung weit hinausging über die Träume derer, die dieses Schlagwort zuerst gebrauchten? Warum finden wir uns denn jetzt eigentlich in ei­ner vermeintlichen Sackgasse wieder? Warum ist das Leben für so viele in unserer Kultur so sinnlos geworden? In einem le­bensnahen Vergleich hat Michael Polanyi die Antwort vorge­schlagen:

Die kritische Bewegung, die sich heute ihrem Ende nähert, war viel­leicht die fruchtbarste Anstrengung, die je vom Geiste des Men­schen unternommen wurde. Die vergangenen vier oder fünf Jahr­hunderte, die Schritt für Schritt den gesamten mittelalterlichen Kos­mos zerstört oder doch in den Schatten gestellt haben, haben uns geistig und moralisch in einem Maße bereichert, das unerreicht ist von irgendeinem Zeitraum ähnlich langer Dauer. Doch wurde ihre Glut genährt von der Verbrennung des christlichen Erbes im Sauer­stoff des griechischen Rationalismus, und als der Brennstoff ver­braucht war, verbrannte der kritische Rahmen selbst.[12]

Danach zitiert Polanyi Lockes Definition des Glaubens als „eine Überzeugung unseres Verstandes außerhalb des Wis­sens“ und behauptet:

Hier verläuft der Bruch, wo der kritische Verstand eine seiner bei­den kognitiven Fähigkeiten verwarf und fortan versuchte, sich gänz­lich auf das zu verlassen, was übrig bleibt. Der Glaube war so voll­ständig diskreditiert, daß der moderne Mensch seine Fähigkeit ver­lor, irgendeine ausdrückliche Erklärung aus dem Munde anderer als seine eigene Überzeugung zu akzeptieren; abgesehen von einigen besonderen Ausnahmen, wie man sie z.B. noch dem Festhalten an religiösen Überzeugungen und deren Bekenntnis zubilligt. Aber Glaube wurde eingeschränkt auf einen subjektiven Status: unvollkommen, weil es dem zugrundeliegenden Wissen an Universalität mangelt.[13]

Ich möchte Polanyi auch beim nächsten Schritt seiner Argu­mentation folgen, wenn er zu einer „nachkritischen Philoso­phie aufruft als dem notwendigen Ausgangspunkt zur Erneue­rung unserer Kultur. Aber bevor ich das tue, möchte ich den wichtigen Punkt aufgreifen, den Polanyi nennt, wenn er von den „besonderen Ausnahmen“ spricht, die man dem religiösen Glauben in der „modernen“ Welt zubilligte. Die Sache, von der er hier spricht, ist äußerst wichtig für das Verständnis unserer Situation.

Die mittelalterliche Weltanschauung basiert auf dem christli­chen Dogma. Sie umfaßte das ganze gesellschaftliche Leben, das öffentliche wie das private. Sie hatte ebensoviel zu tun mit Wirtschaft und Gesellschaftsordnung wie mit Gebet und den Sakramenten. Wie die Bibel ging sie von der Annahme aus, daß menschliches Leben in seiner Ganzheit verstanden werden muß, d.h. als Leben, in dem es keine Trennung zwischen privat und öffentlich, zwischen dem Gläubigen und dem Bürger gibt.

Die Geschichte der Versuche der Kirche, auf die Herausfor­derung der Aufklärung zu antworten, ist naturgemäß komplex. Die westliche Christenheit war bereits gespalten durch den Fehlschlag der Reformation, die gesamte Kirche zu gewinnen. Von Anfang an gab es Stimmen, die die neue Denkrichtung ab­lehnten. Vielleicht die einzige Stimme, derer man sich noch er­innert, ist die von Pascal. Auf die Gefahr hin, zu sehr zu verein­fachen, darf man doch sagen, daß die katholische Kirche Ver­teidigungsbarrieren gegen die Aufklärung errichtete. Die protestantischen Kirchen hingegen zogen sich schrittweise aus dem öffentlichen Leben zurück. Sie überließen es dem Einfluß der von der Aufklärung geprägten neuen Grundüberzeugungen. Sie überlebten, indem sie sich auf den privaten Bereich be­schränkten. Die typische Art, den christlichen Glauben in sei­nen protestantischen Formen zu leben, war seit Beginn des 18. Jahrhunderts der Pietismus, eine Religion der Seele, des inne­ren Lebens, der persönlichen Moralvorstellungen und der Hausgemeinde. Die Kirche kämpfte allerdings darum, ihren Einfluß auf die Erziehung innerhalb des alten Bezugsrahmens zu behalten, aber damit hatte sie keinen Erfolg. Zuerst wurden die Universitäten, später dann die Schulen ganz „weltlich“, mit allen entsprechenden Denkvoraussetzungen. Die Bedingung für die Zulassung zur Universität war nicht mehr die Anerken­nung des christlichen dogmatischen Systems; es war jetzt die Anerkennung des Systems, das durch die Ideen der Aufklärung geprägt war. Der christliche Glaube wurde – für die meisten Menschen – zu einer privaten und inneren Angelegenheit, die strikt zu trennen war vom öffentlichen Leben in Politik und Wirtschaft. Die Bibel stellte nicht mehr den Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Weltgeschichte zu verstehen war. Weltge­schichte wurde jetzt gelehrt als Geschichte der Zivilisation mit – und das war ganz natürlich – der westeuropäischen Zivilisa­tion als Höhepunkt. Das andere Geschichtsverständnis, das seinen Höhepunkt in der Gestalt eines Juden aus dem 1. nach­christlichen Jahrhundert sah, wurde in einen eigenen Bereich verwiesen, in die „religiöse Unterweisung“, und als ein Bei­spiel für die Geschichte der menschlichen Seele behandelt.

Die friedliche Koexistenz von Christentum und nachaufklä­rerischer Kultur, die das festschrieb, hat so lange gedauert, daß es jetzt für die Kirche schwer ist, einen klaren Standpunkt für einen echten missionarischen Ansatz zu gewinnen, mit dem sie auf unsere „ moderne“ Kultur zugehen kann .Wenn das Evange­lium zum ersten Mal in Kontakt mit einer Kultur kommt, die zuvor von einer anderen Weltanschauung geprägt war, muß sich der Missionar der Unterschiede zwischen den beiden Sy­stemen bewußt werden. Er muß Wege finden, die Botschaft so einsichtig zu machen, daß sie zu einer Herausforderung für die andere Kultur wird. Der Missionar wird dabei zwei Fallstricke zu vermeiden haben. Auf der einen Seite kann er die Kultur so außer acht lassen, daß die Botschaft ohne Belang bleibt. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr darin, daß er die Kultur so unkritisch übernimmt, daß die Botschaft einfach vereinnahmt wird und damit keine radikale Herausforderung mehr darstellt. Diesen zweiten Fall bezeichnen wir gern als Synkretismus. Es ist kaum zu leugnen, daß das zeitgenössische britische (wie auch überwiegend das westliche) Christentum sich in einem fortgeschrittenen Zustand von Synkretismus befindet. Die Kir­che lebt so schon lange als eine zugelassene und privilegierte Minderheit. Sie hat die Verdrängung in den privaten Bereich ei­ner Kultur, deren öffentliches Leben durch eine völlig andere Weltanschauung beeinflußt wird, akzeptiert. Deshalb hat sie nahezu alle Kraft, sich mit einem radikalen Anspruch an diese Weltanschauung und damit an die „moderne westliche Zivili­sation“ als Ganze zu wenden, verloren.

Wenn wir uns die missionarische Situation in der ganzen Welt ansehen, ist dieser Fehlschlag deshalb so besonders we­sentlich und schwerwiegend, weil diese westliche Kultur in je­de andere Kultur in der Welt eingedrungen ist und sie alle zu zersetzen droht.

Mit Blick auf die privilegierte Stellung des Christentums als einer freiwilligen privaten Meinung im Schatten einer anderen Weltanschauung kommen wir zurück zu Polanyis Argument. Er anerkennt und würdigt zwar die ungeheuren Errungenschaften , die unsere Kultur hervor­gebracht hat, aber er behaup­tet, die Zeit sei reif für eine Verschiebung im Gleichgewicht zwischen Glauben und Zweifel, wo es um den ganzen Vorgang des Verstehens geht. Er entdeckt, daß Zweifel sicher immer ein wesentlicher Bestandteil – doch immer nur zweitrangig, Glaube hingegen grundlegend ist. Sein Buch ist ein massiver Versuch aufzuzeigen, daß alle Erkenntnis der Wirklichkeit auf Glaubensvoraussetzungen beruht. Die können zwar nicht sichtbar gemacht werden, werden jedoch von Gemeinschaften „erlebt“. Dieses gemeinsame „Erleben“ ist ein notwendiger Faktor, wenn es um Erkenntnis geht. Das trifft für den Wissen­schaftler ebenso zu wie für den glaubenden Christen. Darum plädiert Polanyi für eine „nachkritische Philosophie“ als die erforderliche Voraussetzung für die Erneuerung unserer Kultur.

Als Hinweis darauf, was jetzt vonnöten ist, erinnert er an Augustin, dessen Werk „die Geschichte der griechischen Phi­losophie zum Abschluß brachte, indem er zum erstenmal eine nachkritische Philosophie einführte“.[14] Dieses Beispiel ist von besonderem Belang für unsere Zeit. Denn die „Wende“, die Eu­ropa in diese glanzvolle moderne Epoche brachte, war das Ge­genteil von dem, was Augustin erreicht hatte. Es war eine Ab­wendung vom christlichen Dogma, zurück zum Geist und zur Methode der vorchristlichen klassischen Welt.

In seinem Buch „Christianity and Classical Culture“ (1940) hat Charles Norris Cochrane die Geschichte des Verfalls und des geistigen und moralischen Zusammenbruchs der klassi­schen Kultur erzählt, von ihrer Glanzzeit unter Augustus bis der Zeit, als sie aufhörte, einen sinnvollen Bezugsrahmen für das Leben abzugeben, und wie sie durch einen neuen Bezugs­rahmen ersetzt wurde, der (für das westliche Christentum) von Augustin gesetzt wurde. Was Augustin anbot, war eine „nach­kritische Philosophie“ in dem Sinne, daß sie mit der Offenba­rung Gottes in Jesus Christus begann und behauptete, daß die Annahme dieser Offenbarung durch den Glauben die Grundla­ge für den nie endenden Vorgang des Verstehens darstellte. Die Offenbarung schuf einen neuen Rahmen, in dem man sich Er­fahrung aneignen und verarbeiten kann. Sie überwand die alte Zweiteilung, der das klassische Denken nicht entrinnen konn­te, jene unüberbrückbare Zerteilung der Wirklichkeit in das „Sinnliche“ und das „Vernünftige“ (entsprechend der moder­nen Trennung in „Materie“ und „Geist“). Sie überwand die Ir­rationalität, die die ganze Geschichte der Menschheit in einen Konflikt zwischen „Tugend“ und „Schicksal“, zwischen menschlichem Wagemut und menschlicher Leistungsfähigkeit auf der einen und der blinden Macht des Schicksals auf der an­deren Seite verkehrte. Die Offenbarung Gottes in Jesus Chri­stus, wie sie vom Dogma der Dreieinigkeit ausgedrückt wurde, bahnte den Weg zu einem Verstehen, das alle diese Zweiteilun­gen überwand. Wo das trinitarische Denkmodell akzeptiert wird, führt es zu dem Glauben, daß die Macht, die alle Ereig­nisse in der sichtbaren Welt lenkt, und die Macht, die den inne­ren Menschen erleuchten und stärken kann, eins ist mit dem Mann, der seinen niedrigen Weg von Bethlehem nach Golgatha in den Tagen des Pontius Pilatus ging. Der Ausgangspunkt für dieses neue Verstehen war der Glaube. Augustin zitiert Jesaja: „Glaubt ihr nicht, so versteht ihr nicht“ (7,9). Der Glaube ist nicht Endstation, sondern Ausgangspunkt, von dem aus Verste­hen beginnen kann. Dieses Denkmodell bietet die Aneignung im Glauben als den Weg zum Verstehen an. Sein Motto lautet „Credo ut intelligam“: ich glaube, damit ich verstehen kann.

Zwischen Augustins und unserer Situation gibt es offensicht­lich Parallelen. Wir stehen, so hat es den Anschein, wie er am Ende einer Epoche außergewöhnlichen Glanzes. Das Gefühl „am Ende zu sein“ ist – wie ich zu erwägen gab – das Gefühl, „am Ende zu sein“ ist – wie ich zu erwägen gab – das Gefühl, daß unsere Kultur keine Zukunft mehr hat und daß das Leben deswegen sinnlos geworden ist. Die klassische Kultur, die in den Tagen Augustins zerfiel, war nun aber diejenige, zu der die Aufklärung zurückzukehren suchte. Es war die Weltanschau­ung der griechischen Philosophen und der römischen Gesetz­geber, nicht die der biblischen Pro­pheten und Apostel, die den Geist der Zeit bestimmten, deren Erben wir sind. Nun sieht es aus, als ob auch wir an einen Punkt gekommen sind, da unsere Kultur keine Zukunft mehr zu haben scheint. Unsere Jugend ist versucht, unserem ganzen wunderbaren europäischen Abent­euer den Rücken zu kehren, und sucht Sinngebung bei den ungeschichtlichen Mystizismen Asiens. Es scheint, als wenn die ungeheuren Anstrengungen des autonomen Verstandes eine Welt hervorgebracht haben, die bestenfalls sinnlos und schlimmstenfalls voller Dämonen ist. Könnte es dann nicht sein, daß Polanyi recht hat? Denn er sagt ja, daß wir Erneue­rung nicht finden werden innerhalb des Bezugsrahmens von Voraussetzungen, die die Aufklärung für „selbst-verständlich“ hielt, daß vielmehr eine radikale Umkehr vonnöten ist, ein neu­er Ansatz, der mit einem Akt des Vertrauens in die göttliche Gnade beginnt, diese Gnade, die einem einfach geschenkt wird, um in Glaube und Dankbarkeit empfangen zu werden. Leider ist es aber nun so, daß wir Geschichte nicht einfach wie­derholen können. Augustin kann uns allenfalls als Vergleich dienen, nicht als Modell. Wenn wir Polanyi in seinem Fragen nach einer „nachkritischen Philosophie“ als einer Vorbedin­gung für die Erneuerung unserer Kultur folgen, wenn wir for­dern, daß wir heute wieder bereit sein müssen, unsere ganze Zukunft auf bewußt nicht-kritische Erklärungen zu setzen, dann kann das nur geschehen unter voller Anerkennung unse­rer nicht rückgängig zu machenden Erfahrung der letzten 250 Jahre. An dieser Stelle schreibt Polanyi:

Diese Einladung zum Dogmatismus mag schockierend erscheinen; doch ist sie nur die Folge aus den gewaltig angestiegenen kritischen Kräften des Menschen. Sie haben uns mit einer Fähigkeit ausgestat­tet, über uns selbst hinauszuwachsen, einer Fähigkeit, derer wir uns nie wieder entledigen können. Wir haben von dem Baum der Er­kenntnis einen zweiten Apfel gepflückt. Der hat unser Wissen um Gut und Böse auf Dauer in Gefahr gebracht. Wir müssen lernen, die­se Qualitäten künftig im blendenden Licht neuer analytischer Kräfte wieder kennenzulernen. Die Menschheit wurde zum zweiten Mal ihrer Unschuld beraubt und vertrieben aus einem anderen Garten, der allenfalls ein Narrenparadies war. Ganz unschuldig haben wir darauf vertraut, daß uns alle persönliche Verantwortung für unseren Glauben durch objektive Wertkriterien abgenommen werden könn­te. Und es waren unsere eigenen kritischen Kräfte, die diese Hoff­nung ins Wanken brachten. Von unserer plötzlichen Nacktheit be­troffen, könnten wir versuchen, die Sache frech durchzustehen und ein Bekenntnis zum Nihilismus offen zur Schau zu tragen. Aber in seinem Mangel an Moral ist der moderne Mensch labil. Derzeit ma­chen sich seine Leidenschaften für Moral wieder geltend, verkleidet als Objektivismus, und der Wissenschafts-Minotaurus ist geboren. Die Alternative dazu, die ich hier einbringen möchte, ist die erneute Wiederherstellung der Kraft zum bewußten Festhalten an unbewie­senen Überzeugungen. Wir sollten in der Lage sein, solche Über­zeugungen jetzt wissentlich und öffentlich zu bekennen. Sie wurden in der Zeit, ehe der moderne philosophische Kritizismus seine ge­genwärtige Schärfe erreichte, schon stillschweigend als erwiesen angenommen. Solche Kräfte mögen gefährlich erscheinen. Aber eine dogmatische Orthodoxie kann in Schach gehalten werden. Ein Glaubensbekenntnis in wissenschaftlichem Gewand ist dagegen blind und trügerisch.[15]

Die christliche Kirche hat natürlich immer schon den Men­schen ein Evangelium angeboten, das nicht bewiesen, sondern nur im Glauben angenommen werden kann. Inwiefern fragt denn Polanyi nach etwas Neuem? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend wichtig, und ich will sie jetzt geben. Unsere Kultur hat das Recht des Einzelnen anerkannt und geschützt, sich für diesen Glauben persönlich zu entscheiden. Aber sie hat deutlich unterschieden zwischen dieser privaten Entschei­dung und den Prinzipien, die das öffentliche Leben bestimmen. Diese Prinzipien gehören zum Bereich „öffentlicher Wahr­heit“. Das heißt, sie gehören in das Gebiet, das von den Wahrheiten beherrscht wird, die entweder als selbstverständ­lich anerkannt sind oder jedem bewiesen werden können, der sich auf die entsprechenden Nachweise einläßt. Es sind die Dinge, die „wissenschaftlich“ – im gebräuchlichen Sinn die­ses Wortes – bewiesen werden können und die deshalb von al­len vernünftigen Menschen angenommen werden sollten. Das betrifft aber auch all die Überzeugungen, die zwar nicht bewie­sen sind, die aber bisher für so „selbst-verständlich“ gehalten wurden, daß man sie selten genug kritisch hinterfragt hat. Das sind im wesentlichen die, die wir in unserem kurzen Überblick als das Denken des 18. Jahrhunderts bezeichnet haben: Der Glaube an die Autonomie des menschlichen Verstandes und Gewissens, an das Recht jedes Menschen auf das größtmögli­che „Glück“, an den Nationalstaat als die Größe, von der man die Garantie für diese Rechte erwartet, und an die Methoden der modernen Wissenschaft als die Instrumente, mit denen man alle Vorgänge verstehen und im Griff behalten kann. Gewiß ist das alles im Lauf der letzten 200 Jahre vielfach modifi­ziert und weiterentwickelt worden. Besonders die Entwicklung in der modernen Physik, vor allem seit Einstein, hat Newtons Bild einer „objektiven“ Welt zerstört, die man als Materie in Bewegung sozusagen völlig von außen betrachten kann. Aber diese neuen wissenschaftlichen Perspektiven haben die allge­meine Denkweise noch nicht verändert. Die „öffentliche Welt­anschauung“ wird noch immer gesteuert von den Ideen, die in der Aufklärung das Bewußtsein geprägt haben. Sie werden nor­malerweise nicht in Frage gestellt. Sie sind selbstverständli­cher Ausgangspunkt aller Beweisführung.

Jetzt ist folgendes vorzuschlagen: Nicht nur im privaten, son­dern auch im öffentlichen Bereich brauchen wir ein anderes Verstehensmuster; das wiederum zwingt uns anzuerkennen, daß unsere grundlegendsten Überzeugungen nicht bewiesen werden können, sondern zu glauben sind; die Kirche hat die Verantwortung dafür, dieses neue Verstehensmodell als Basis für eine radikale Erneuerung unserer Kultur anzubieten; denn ohne eine solche radikale Erneuerung hat unsere Kultur keine Zukunft. Das ist – wenn man es kraß ausdrücken will – eine Einladung dazu, die Rolle des Dogmas erneut und in gebühren­der Weise anzuerkennen. Es ist eine Einladung an die Kirche, Mut zu beweisen, indem sie den Menschen unserer Kultur eine Weise des Verstehens anbietet, die nicht beansprucht, beweis­bar zu sein im Sinne „modernen“ Denkens, die auch nicht „wis­senschaftlich“ ist im gebräuchlichen Sinne dieses Wortes; die sich vielmehr ohne Scheu auf die Offenbarung Gottes gründet, wie sie geschehen ist in Jesus Christus und bezeugt in der Schrift und der Tradition der Kirche; eine Offenbarung, die an­geboten wird als ein neuer Ansatzpunkt zur Erforschung des Geheimnisses menschlichen Lebens und zur Bewältigung un­serer praktischen Aufgaben nicht nur im privaten und inneren Leben der Glaubenden, sondern auch im öffentlichen Leben der Bürger.

IV. Drei Fragen

Am Ende des vorigen Abschnitts habe ich in schärfster Form meine Überzeugung geäußert, daß wir an einem Punkt der Ge­schichte der „modernen“ Welt angekommen sind, an dem der bisher anerkannte Bezugsrahmen für alles Verstehen sich als unzulänglich erwiesen hat und deshalb ein neuer Bezugsrah­men erforderlich ist. Ich habe zu einem ungenierten Angebot des christlichen „Dogmas“ als Bezugsrahmen aufgefordert. Mit anderen Worten, ich fordere auf zu einem echt missionari­schen Zugehen auf die „moderne“ Kultur.

Um das dann näher auszuführen, muß man sofort drei Fragen stellen, die jetzt beantwortet werden müssen.

  1. Was kann man tun, um das Dogma, das seine ganz spezifi­sche Aufgabe hat, davor zu bewahren, daß es zum „Dogmatis­mus“ entartet?
  2. Wenn die christliche Offenbarung als Bezugsrahmen für Verstehen und öffentliches Handeln – in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – zu nehmen ist, wie können wir dann der „konstantinischen“ Versuchung widerstehen?
    Man kann die Aufklärung sehen als ein Stück Reaktion Euro­pas auf die schrecklichen Religionskriege des 17. Jahrhun­derts. Mit diesen Kriegen begann der endgültige Bruch jener Synthese von Kirche, Staat und Gesellschaft, die mit der Taufe des Kaisers Konstantin begonnen hatte. Zielt etwa mein Vor­schlag auf eine Einladung zur Rückkehr zur Ideologie solchen „Christentums“?
  3. Gibt die Schrift uns tatsächlich irgendwelche Vollmacht für spezifisch-christliche Urteile und Verhaltensweisen im öf­fentlichen Bereich?

Diesen Fragen müssen wir uns stellen, bevor wir mit dem ei­gentlichen Thema dieses Büchleins fortfahren können. Die drei Fragen hängen so sehr zusammen, daß es nicht möglich ist, die Antworten völlig voneinander zu trennen.

  1. Dogma und Dialog

Am entscheidenden Punkt in meiner Argumentation bin ich Po­lanyi gefolgt, und ich wage es, ihn nochmals zu zitieren. Der grundsätzliche Punkt bei Polanyi ist der, daß es kein Wissen ir­gendeiner Wirklichkeit geben kann, es sei denn, auf der Basis eines „Bezugsrahmens“, der – beim Akt der Erkenntnis – nicht hinterfragt wird und den man nicht beweisen kann, indem man sich auf einen noch dahinter liegenden Glaubensgrund be­ruft. Er schreibt:

Wir müssen nun Glauben noch einmal als Quelle alles Wissens er­kennen. Stillschweigende Anerkennung und intellektuelle Leiden­schaft, gemeinsame Sprache und kulturelles Erbe, Zugehörigkeit zu einer gleichgesinnten Gemeinschaft: das alles sind die Impulse, die unsere Sicht der Dinge prägen, auf die wir angewiesen sind, um die Dinge meistern zu können. Kein Verstand, sei er kritisch oder schöpferisch, kann außerhalb solch eines Bezugsrahmens von Grundvertrauen wirksam sein.[16]

Das Zugeständnis, daß es sich so verhält, bedeutet aber im­mer noch nicht, daß alle Fragen damit beantwortet sind. Der „Vertrauensrahmen“ ist der Ausgangspunkt, nicht der Punkt, wo Fragen und Forschen abgeschnitten werden. Deshalb (noch einmal Zitat):

Der Vorgang der Untersuchungen eines Gegenstandes ist sowohl ei­ne Erforschung dieses Gegenstandes als auch eine Auslegung unse­rer grundlegenden Überzeugungen, mit denen wir an den Gegen­stand herangehen: Eine dialektische Kombination von Erforschung und Deutung. Unsere grundlegenden Überzeugungen werden im Laufe eines solchen Prozesses beständig neu überprüft, aber nur im Bereich ihrer eigenen Grundvoraussetzungen.[17]

Soweit folge ich Polanyi. Aber an dieser Stelle, denke ich, ha­ben wir einen Schritt zu tun, den Polanyi selber nicht tut. Dieser Schritt führt uns weiter zur zweiten Frage. In einer früheren Pu­blikation habe ich einmal zu verstehen gegeben, daß die christ­liche Mission eine logische Struktur hat, die der von Polanyi in seiner Darstellung vom Wissen entspricht. Ich schrieb:

(Die christliche Mission) ist ein Handeln aus einer grundlegenden Überzeugung und gleichzeitig ein Vorgang, in dem diese Überzeu­gung ständig überprüft wird. Die Überprüfung geschieht dadurch, daß man Erfahrungen sammelt in der Anwendung dieser Grund­überzeugung auf allen Gebieten menschlichen Lebens und im Dia­log mit jedem anderen Denkmuster, durch das die Menschen in ih­rem Leben Sinn zu finden suchen.[18]

Als neuer Faktor wird jeder Dialog mit anderen Denkmustern eingeführt. Jedes „Grundvertrauen“ als Bezugsrahmen oder je­des „Muster“, so wie wir diese Worte gebrauchen, ist nur dann lebendig, wenn eine Gemeinschaft es sich zu eigen macht. Wis­senschaft ist das Unternehmen einer Gemeinschaft von Ge­lehrten mit einem gemeinsamen Denkmuster: Ohne diese Ge­meinschaft gäbe es das nicht. Jede solche Gemeinschaft ent­wickelt einige typische Merkmale für ein „Establishment“, das Macht ausübt. Wissenschaftliche Gemeinschaft, die auf inter­nationaler Ebene lebt und wirkt, ist ein außerordentlich mäch­tiges Establishment – vielleicht sogar das einzige, das stark genug wäre, die Ideologie des Nationalismus anzufechten. Dieses Establishment bestimmt durch die Verknüpfung wis­senschaftlicher Publikationen, welche Ideen zur Verbreitung in der Öffentlichkeit geeignet sind und welche nicht. Natürlich gibt es immer einige Rebellen, und es gibt Grenzfälle, wo nicht ganz klar ist, ob man sie anerkennen kann oder nicht. Die Un­tersuchung übersinnlicher Wahrnehmungen scheint manchmal zu diesen Grenzfällen zu zählen. Aber der springende Punkt ist der, daß keine systematische Wissenschaft möglich ist, wenn nicht irgendeine Art von Gemeinschaft den „Vertrauensrah­men“ erhält und schützt, innerhalb dessen Forschung und wis­senschaftliche Auseinandersetzung getrieben werden. Und je­de Gemeinschaft dieser Art hat Macht.

Das „konstantinische“ Establishment hat das christliche dogmatische System erfolgreich mit der obersten politischen Macht verbunden. In solch einer Situation ist kein Platz für ei­nen Dialog. Abweichen vom „Vertrauensrahmen“ bedeutet Ausschluß aus der bürgerlichen Gesellschaft. Europa hat mit vollem Recht diese Synthese, die in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts endgültig auseinanderbrach, verworfen. Die Sowjetunion hat versucht, es in anderer Form wieder erstehen zu lassen, aber es kann nur aufrecht erhalten werden durch eine Art Zwangsanwendung, gegen die der menschliche Geist sich ewig auflehnen wird. Unsere moderne westliche Kultur er­kennt nun die Pluralität als einen unwiderruflichen Tatbestand an. Wir nehmen es hin, daß verschiedene „Vertrauensrahmen“ nebeneinander existieren und das auch in Zukunft tun werden. Die Frage ist allerdings, ob sie nur in gegenseitiger Toleranz oder im Dialog miteinander leben sollen. Polanyi schreibt: „Unsere Grundüberzeugungen müssen beständig überprüft werden … aber nur im Bereich ihrer eigenen Grundvoraus­setzungen .“ Wenn Dialog ernsthaft ist, wird er uns darüber hin­aus führen müssen bis an die Stelle, wo wir auch den „Vertrau­ensrahmen“ selbst aufs Spiel setzen.

Das findet nicht immer Zustimmung. Unter den vielen zeit­genössischen christlichen Befürwortern der Vorzüge eines Dialogs gibt es viele, die in ihren Schriften deutlich machen, daß ihr „Vertrauensrahmen“ nicht grundsätzlich in Frage ge­stellt werden kann. Darin sind sie alle gleich: idealistische Phi­losophie in irgendeiner Form, die eine oder andere Religion oder die „wissenschaftliche Weltanschauung“: Sie alle sehen den Dialog zwischen Religionen und Ideologien nur innerhalb ihrer eigenen Voraussetzung geführt. Es ist, um einen scharf­sinnigen Hindubeobachter zu zitieren: „Ein gegen Risiko ver­sicherter Dialog“. Im echten Dialog ist es der eigene grundle­gende „Vertrauensrahmen“, den man aufs Spiel setzt. Und des­halb gibt es immer auch die Möglichkeit jenes radikalen „Modellwechsels“, den man „Bekehrung“ nennt.

Ich hoffe, es ist jetzt klar, daß ich mit meiner Frage nach einer Wiederentdeckung der eigentlichen Aufgabe des Dogmas nicht den Versuch beabsichtige, daß wir ins Mittelalter zurückkeh­ren sollten. Ein solcher Vorschlag wäre rückschrittlich und ste­ril, wenn das Eintreten für eine ordentliche Anerkennung die­ser Rolle des Dogmas nicht gekoppelt wäre mit der Forderung, daß wir in einem wirklichen Dialog mit denen zu leben lernen, die von anderen „Vertrauens­rahmen“ her ihr Leben gestalten. Ich trete dafür ein, daß die Kirche mit wünschenswerter Deutlichkeit erkennt, daß sie die Gemeinschaft ist, der ein „Vertrau­ensrahmen“ anvertraut ist mit einem neuen Ansatz für das Ver­stehen und Verarbeiten von Erfahrung. Als solch eine Gemein­schaft ist sie notwendigerweise eine politische und gesell­schaftliche Größe, aber sie darf sich nie wieder sehnen nach der politischen und gesellschaftlichen Macht, die ihr das konstantinische Establishment einmal gab. Sie muß in ehrlichem und offenem Dialog leben mit den Menschen, die in anderen „Rah­men“ leben. Aber der äußerst kritische Dialog, dem sie sich jetzt stellen muß, ist nicht etwa der Dialog mit den anderen Reli­gionen (so wichtig der gewiß auch ist), sondern der Dialog mit der Kultur, die von der Aufklärung geprägt wurde und mit der die europäischen Kirchen seither in einer illegitimen Verbin­dung gelebt haben. Solch ein Dialog wird immer auch bedeu­ten, daß unsere eigenen Grundvoraussetzungen durch die an­dere Seite in Frage gestellt werden. Weil ich an Jesus Christus glaube, glaube ich auch, daß diese offene Begegnung sowohl die Kirche wie die anderen Dialogpartner nur zu einem tieferen Verständnis der Wahrheit führen kann. Das ist kein „gegen Ri­siko versicherter Dialog“; es ist vielmehr ein Teil der elementa­ren Verbindlichkeit meines Glaubens – eine Verbindlichkeit, die immer alles aufs Spiel zu setzen wagt.

Wofür ich eintrete, ist also die echte missionarische Begeg­nung mit der Kultur „nach der Aufklärung“. Zu lange haben wir es hingenommen, daß der Glaube nur eine im privaten Bereich zugestandene Entscheidung gewesen ist. Wir waren entweder in Versuchung, uns in ein intellektuelles Ghetto zurückzuzie­hen und Frömmigkeit wenigstens in Kirche und Heim zu erhal­ten, wobei wir das öffentliche Leben (einschließlich der Welt der Wissenschaft) der Herrschaft anderer Ideologien überlie­ßen. Oder wir waren in der Versuchung, die „moderne wissen­schaftliche Weltanschauung“ als eine mögliche Darstellung der Wirklichkeit anzusehen, die wir hinzunehmen haben, ob wir wollen oder nicht. In diesem Fall versuchen wir, unsere christlichen Überzeugungen den Erfordernissen „modernen Denkens“ anzupassen und wenigstens etwas Freiraum zu fin­den für die Ideen, Gedanken und Verhaltensweisen, die uns die christliche Tradition beigebracht hat – aber immer noch in­nerhalb des Rahmens der „modernen wissenschaftl ichen Welt­anschauung“. Ein wahrhaft missionarischer Ansatz sollte diese beiden Strategien ablehnen; er sollte mutig und ohne Abstriche das christliche Dogma als „Vertrauensrahmen“ anbieten, der anders und (in mancher Beziehung) unvereinbar ist mit dem Rahmen, in dem die moderne europäische Kultur sich ent­wickelt hat; er sollte ganz unerschrocken und entschieden sein in der Verkündigung des christlichen „Dogma“, aber auch sehr bescheiden und lernbereit, wenn er sich auf den Dialog einläßt mit denen, die von anderen Grundüberzeugungen her leben.

  • Kein Zurück zu Konstantin

Bei dem Versuch, auf die erste Frage eine Antwort zu geben, habe ich augenscheinlich auch schon mit der Antwort auf die zweite begonnen. Es gehört heute schon fast zu den Gemein­plätzen, von Konstantins Bekehrung (ganz gleich, ob sie echt war oder „diplomatisch“) als einem der größeren Sündenfälle der Kirchengeschichte zu sprechen. Dies Urteil wird heute ge­fällt aus einem Kulturkreis heraus, der das Christentum aus dem öffentlichen Leben fast völlig in den privaten Bereich ab­gedrängt hat. Eine kurze Überlegung aber soll zeigen, auf wie schwachen Füßen diese Ansicht steht.

In der Mitte der Botschaft Jesu stand das Reich, die universa­le Herrschaft Gottes. Diese Botschaft meinte nicht ein inneres Seelenleben, das man losgelöst vom öffentlichen Leben der Welt betrachten kann. Die Kirche hat deshalb Jesus und seiner Botschaft die Treue gehalten, wenn sie sich nichts davon ab­markten ließ, daß der Anspruch Jesu eindeutig Vorrang hatte vor den Ansprüchen des Kaisers. Mit dieser Einstellung ging die Kirche natürlich auf Kollisionskurs mit der Macht des Kai­sers. Dabei wäre es so einfach gewesen, dieser Kollision aus dem Wege zu gehen. Das römische Gesetz unterschied nämlich zwischen dem „öffentlichen Kult“ und den vielen „privaten Kulten“, die besonders im östlichen Teil des römischen Reiches in Blüte standen. Die öffentlichen Kulte gipfelten in der Kaiser­verehrung und wurden als das Band gesehen, das die Gesell­schaft zusammenhielt. Die privaten Kulte dagegen umfaßten eine große Bandbreite von Gemeinschaften, die ihren Anhän­gern mittels verschiedener Glaubens- und Erkenntnisweisen persönliches Seelenheil anboten. Und diese religiösen Ge­meinschaften wurden mit einer Vielfalt von Begriffen bezeich­net. Die Gegner des Christentums gebrauchten solche Begriffe in Bezug auf die Kirche, aber anscheinend hat sich kein Christ der ersten drei Jahrhunderte ihrer jemals bedient. Mit anderen Worten: die Kirche hat sich selbst niemals betrachtet als eine Gemeinschaft zur Erlangung persönlichen Seelenheils für ihre Mitglieder. Hätte sie sich damit zufriedengegeben, hätte sie auch den Schutz des Gesetzes genossen – den gleichen Schutz, den Kirchen in unserer modernen Kultur genießen und zwar genau aus diesem Grund, daß sie nämlich keine Gefahr darstellen für die Ideologie, die das öffentliche Leben be­herrscht. Die Bibel der frühen Kirche, das griechische Alte Te­stament, benutzte zwei Begriffe, um die Gemeinde des Volkes Gottes zu bezeichnen. Einer davon, synagogos, war be­reits die gebräuchliche Bezeichnung für die jüdischen Gemein­den, die als religiöse Minderheiten überall im Römischen Reiche lebten. Die andere, ecclesia, bezeichnete die Volksver­sammlung, die von Zeit zu Zeit von der staatlichen Obrigkeit einberufen wurde. Zu dieser Versammlung wurden alle Bürger aufgeboten. Dort wurden die wesentlichen öffentlichen Ange­legenheiten einer Stadt erörtert und geregelt. Indem die Kirche sich Ecclesia Gottes nannte, machte sie klar, wie sie sich selbst verstand. Sie war die Volksversammlung, zu der alle Menschen aufgeboten werden, nicht einberufen durch einen Bürgermei­ster, sondern durch Gott selbst. In solch einer Versammlung kann natürlich auch kein irdischer Kaiser eine Oberhoheit be­anspruchen. Demgemäß konnte aber auch das römische Gesetz solch eine Art von Versammlung nicht zulassen.

Der Konflikt zwischen diesen beiden Ansprüchen wurde zweieinhalb Jahrhunderte lang mit unterschiedlich starken Gewaltmaßnahmen ausgetragen. Die Hoffnung auf Seiten der Kirche richtete sich nicht auf einen politischen Erfolg; der war ausgeschlossen. Ihre Hoffnung richtete sich auf die Erschei­nung des Gottesreiches, vor dem alle anderen Ansprüche zu­nichte würden. Die einzigen Waffen der Kirche waren das Wort Gottes und die Treue seiner Zeugen, der Märtyrer. Diese Waf­fen erwiesen sich schließlich als stärker als die Waffen des Kai­serreiches. Es verlor seine Widerstandskraft, weil die Weltan­schauung, auf die es sich stützte, auf zu schwachen Füßen stand. Die geistigen Reserven der klassischen Welt waren er­schöpft. Es geschah, wovon früher kein Christ zu träumen ge­wagt hätte: der Kaiser beugte sein Haupt unter das Joch Christi.

Was hätte die Kirche denn nun tun sollen? Hätte sie dem Kai­ser raten sollen, daß es für die Kirche und damit für Gottes Ab­sichten segensreicher wäre, wenn er ein Heide bliebe und mit der Verfolgung der Kirche fortführe? Vergessen, ja vergeben sollte man wohl die unsinnigen Begleiterscheinungen, mit de­nen der Kaiser fast wie ein zweiter Christus begrüßt wurde. Aber wie sonst hätte die Kirche zu jenem Zeitpunkt der Ge­schichte ihren Glauben an das Evangelium zum Ausdruck brin­gen können, das doch die Botschaft von der universalen Herr­schaft Gottes ist? Es ist wirklich schwer zu beurteilen, welche andere Möglichkeit denn zu jener Zeit bestanden hätte. Man mußte sich einlassen auf das Experiment, eine christliche poli­tische Ordnung zu schaffen. Sie wurde geschaffen, und zu ihren Früchten gehört die Entstehung des „christlichen Europa“, aus dem die moderne Welt hervorgegangen ist. Aber dieses Experi­ment scheiterte im hoffnungslosen Hader der Religionskriege. Europa kehrte dem sinnlosen Konflikt verdrossen den Rücken und fand einen neuen „Vertrauensrahmen“ für sein öffentliches Leben, den wir in Umrissen schon beschrieben haben. Es gibt für uns heute keinen Weg zurück zum konstantinischen Bünd­nis zwischen Kirche und Staat. Wir stehen jetzt vor der neuen Aufgabe, die man etwa so beschreiben kann: Wie kann man Christi Anspruch, der Herr allen Lebens zu sein, im Leben und Lehren der Kirche darstellen, ohne auf den konstantinischen Holzweg zu geraten? Die Antwort auf diese Frage wird Jahr­zehnte kostspieliger Forschung und Experimente erfordern, aber einige grundlegende Richtlinien kann man jetzt schon vor­zeichnen.

Jesu Auftrag war die Ankündigung und Darstellung des Got­tesreiches, eines Reiches, zu dem die ganze Schöpfung und al­les, was in ihr ist, gehören soll. Der Konflikt zwischen diesem Anspruch Gottes und der Macht, die die Weltherrschaft an sich gerissen hatte, wurde am Kreuz ausgefochten und entschieden. Der Sieg liegt jenseits des Todes. Aber in der Auferstehung Jesu und in der Gabe des Geistes haben wir schon jetzt in dieser Zeit ein Faustpfand und einen Vorgeschmack dieses Sieges erhal­ten. Der Erwartungshorizont für all unser Handeln in der Welt ist deswegen nicht ein irdisches Utopia, sondern die himmli­sche Stadt, die Gottes neue Schöpfung ist. Um unsere Frage an­gemessen beantworten zu können, brauchen wir als Schlüssel also eine richtige Eschatologie.

Die Bibel schließt mit der Vision einer heiligen Stadt, die vom Himmel auf die Erde kommt. Es ist die Vision einer Voll­endung, die das öffentliche und das private Leben der Men­schen umschließt. Zwischen beiden gibt es keine Trennungsli­nie mehr. Diejenigen, die vor jenem Tage sterben, werden in ihre „letzte Ruhestätte“ rund um die Kirche gelegt, in der die Lebenden weiterhin Gottesdienst halten. Wenn der Jüngste Tag kommt, werden alle zusammen das gleiche Ende erleben – Gericht und, für die Gesegneten, die himmlische Stadt.

Dieser biblische Rahmen wurde seit der Aufklärung ausge­wechselt gegen einen neuen, in dem öffentliche und private Zu­kunftshoffnung auseinanderfielen. Im Blick auf die Geschichte der Welt wird nunmehr die Person des Menschen zum Hoff­nungsträger für das Ziel der Geschichte. Die Menschen selbst werden mit all den neuen Kräften, die ihnen die Wissenschaft verliehen hat, die himmlische Stadt auf Erden schaffen. Diese Erwartung gibt nun einen Sinn für das Leben der Welt. Für den Einzelnen aber gibt es eine andere Hoffnung. Es ist die Hoff­nung der Seligkeit in einer anderen Welt, in die man gelangt, wenn der Tod einen von dieser Welt befreit. Von einem solchen Standpunkt her kann einem die zukünftige Geschichte dieser Welt gleichgültig sein. Oder ist (bzw. war) man evangelisch, wird nicht einmal mehr die Fürbitte erwartet für diejenigen, die noch mitten im Kampf stehen. Man ist ganz einfach dem Lauf der Geschichte entnommen.

Als praktische Folgerung aus dieser Art Zukunftshoffnung wird natürlich Religion zur Privatsache. Kirchen werden genau das, wozu die frühe Kirche sich nicht machen lassen wollte. Sie werden mit Sonderrechten ausgestattete geschlossene Gesell­schaften zur geistlichen Betreuung ihrer Mitglieder, welche die Aussicht haben, dann schließlich Seligkeit in einer anderen Welt zu erlangen. Die Kirche ist nicht mehr länger die Volks­versammlung Gottes; sie ist ein Sammelsurium religiöser Grüppchen, die allen möglichen Leuten ihre religiösen Bedürf­nisse erfüllen und damit natürlich die Tendenz fördern, daß „jeder sich seine Kirche selbst wählen kann“. Zwei Jahrhun­derte später ist heute die Zukunftshoffnung für die Welt fast völlig verschwunden. Wir glauben nicht mehr an „Fort­schritt“. Was die Philosophen des 18. Jahrhunderts über die himmlische Stadt schrieben, können wir heute nur noch mit traurigem Lächeln lesen. Und „Seelenheil“, das eine Religion als Privatsache anzubieten hat, ist der Vorstellung der Hindus viel näher als der biblischen, und deswegen ist es nur zu ver­ständlich, daß viele junge Leute zu der Auffassung neigen, daß sie im Osten etwas Besseres finden können.

Wollen die Kirchen wirklich ausbrechen aus ihrer langen (und ziemlich komfortablen) Verbannung in den privaten Sek­tor und wieder den Anspruch des Evangeliums auf das ganze öffentliche Leben erheben, ohne in die konstantinische Falle zu tappen, dann brauchen sie dringend eine Rückkehr zur bibli­schen Vision von den letzten Dingen. All unser Gehorsam im weltlichen Bereich wird unter dieser Vision zu stehen haben. Die Teile des Neuen Testamentes, die man gewöhnlich als „apokalyptisch“ bezeichnet, mußten in den Kirchen natürlich fremdartig und wunderlich erscheinen, solange sie sich auf den Bereich des privaten Lebens einschränken ließen. Aber gerade diese apokalyptischen Schriften weisen uns auf ganz wesentli­che Sachverhalte hin. Eine Lehre vom irdischen Fortschritt kann man auf sie nicht gründen. Aus ihnen können wir auch nicht die Hoffnung ableiten, als könne menschliches Bemühen Gerechtigkeit und Frieden auf dieser Erde herbeiführen. Im Gegenteil, sie lassen keinen Zweifel daran, daß die Auseinan­dersetzungen immer schrecklicher werden. Aber danach ver­sprechen sie uns Gerechtigkeit und Frieden als Gottes Gabe. Und deshalb können sie uns auffordern zu einer Geduld und Ausdauer, die bis zum Ende treu bleiben kann. Wie auf einem Bildschirm zeigen sie uns die Geschichte der Zukunft nach dem Muster, das Christen vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu kennengelernt haben.

Die Botschaft Jesu sprach von der Gegenwart des Gottesrei­ches inmitten der Geschichte als einer Wirklichkeit, mit der je­der Mensch zu rechnen hat. Diese Botschaft war an das Volk gerichtet. Sie sprach von Gottes Herrschaft über alle Völker und alle Kreatur. Als diese Botschaft zurückgewiesen wurde, folgte Jesus nicht dem Beispiel der Eiferer seines Volkes, die Gottes Herrschaft mit Gewalt aufzurichten suchten. Der Weg der Gewalt endete dann in der Tragödie von Massada, wo schließlich die letzten überlebenden Freiheitskämpfer sich selbst das Leben nahmen. Jesus hat sich aber auch nicht aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, um wie die Essener in der Wüste auf das Reich zu warten und dafür zu beten. Deren Weg endete in den zerfallenen Ruinen von Qumran. Nein, Jesus konfrontierte das öffentliche Leben seines Volkes, wo es nach Zeit und Ort am allerempfindlichsten war, mit dem Anspruch, sein König zu sein. Dieser Anspruch war ebenso kompromißlos wie ungeschützt und wurde verworfen. Jesus wurde umge­bracht, aber Gott ließ ihn von den Toten auferstehen (ein Ereig­nis in der Weltgeschichte, das unsere auf den Privatbereich be­schränkte Religion natürlich verkehrt hat in einen rein psychologischen Erfahrungsvorgang bei den Jüngern). Die Auferstehung ist seither Signal und Faustpfand für die Tatsa­che, daß Jesu Herrschaftsanspruch trotz seiner Verwerfung durch die Welt bestehen bleibt.

Christliche Nachfolge heißt dann, Jesus auf dem Weg, den er uns voranging, zu folgen in der Kraft des Lebens, das er neu gewonnen hat. Dieser Weg ist keineswegs der einer innerlich­geistlichen Pilgerschaft, er ist auch nicht der Weg einer Realpo­litik für neue gesellschaftliche Ordnung in der Welt. Nachfolge geht den Weg, den Jesus ging, mitten in die Geschäfte und Poli­tik dieser Welt, mit dem gleichen ungeschützten und kompromißlosen Anspruch. Jüngerschaft erwartet eine Welt voll Ge­rechtigkeit und Frieden, aber nicht als Ergebnis eigener Bemü­hungen, sondern als die Gabe des Gottes, der die Toten zum Leben erweckt und „ruft dem, was nicht ist, daß es sei“ (Römer 4,17). Sie erwartet die Heilige Stadt nicht als Ergebnis eigenen Handelns, sondern als Gabe von Gott. Doch sie ist sich bewußt, daß jeder Fluchtversuch aus dem öffentlichen Bereich in den privaten innerlichen Bereich Abwendung von der wahren Got­tesstadt bedeutet. Nachfolge erwartet die Stadt, „deren Bau­herr und Architekt Gott selber ist“, aber sie weiß auch, daß der Weg zu dieser Stadt durch Tiefen führt, in denen man sie aus dem Auge verliert. Jesus ging den Weg voran, der in das dunkle Tal führte, in dem wir selbst und unsere Werke verschwinden und begraben werden unter dem Schutt der Geschichte. Nach­folger werden deshalb ihre Hoffnungen und Erwartungen, die eigentlich nur der von Gott verheißenen Stadt gehören, nicht in irgendwelche politischen Programme investieren – sei es das Konzept einer wiederhergestellten „Christenheit“ oder die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft, in der alle Zwangsherrschaft ausgelöscht sein wird. Eine Wiederholung von Konstantin kann es nicht geben, weder auf der Linken noch auf der Rechten. Erforderlich ist die treue Nachfolge, die Jesus auf seinem Wege folgt und von der Hoffnung lebt, für die seine Auferstehung das äußerliche Faustpfand und die Gabe des Gei­stes der innere Vorgeschmack sind. Solche Nachfolge wird so­wohl im privaten wie im öffentlichen Bereich gleichermaßen darauf bedacht sein wollen, das Verständnis und die Ordnung des Lebens sichtbar zu machen, die als ihren „Vertrauensrah­men“ die Offenbarung, die Gott in Jesus gegeben hat, anbietet. Nachfolge wird Möglichkeiten suchen und finden, mit denen sie sichtbare Zeichen der unsichtbaren Königsherrschaft Got­tes aufrichten kann.

  • Haben wir einen Auftrag, uns „in die Politik einzumischen“?

Mein Versuch einer Antwort auf die zweite Frage hat schon zur dritten übergeleitet. Was sollen wir den vielen Christen sagen, die wie Dr. Edward Norman ganz selbstverständlich davon aus­gehen, daß Christentum „in erster Linie zu tun hat mit der Be­ziehung der Seele zur Ewigkeit“[19], und daß Christen sich des­halb vor dem Anspruch hüten sollten, ihr christlicher Glaube berechtige sie auch zu Urteilen im politischen Bereich? In den Reith-Vorlesungen, aus denen das Zitat stammt, hat Dr. Nor­man diese Sicht sehr eindrucksvoll dargestellt, und man muß ihm zugestehen, daß er recht hat mit seiner Behauptung, daß viel christliches Reden und Schreiben zu Fragen des öffentli­chen Lebens von derzeit gängigen Ideologien stärker beein­flußt ist als von der Bibel und vom christlichen Bekenntnis. An­dererseits erinnert der oben zitierte Satz daran, daß Dr. Nor­mans Religion den Upanischaden viel näher als der Bibel ist. Aber viele Christen haben ganz ähnliche Ansichten und sind dabei noch ehrlich überzeugt, sie stünden auf dem Boden der Bibel und des christlichen Bekenntnisses. Was kann man dazu sagen über das hinaus, was ich schon ausgeführt habe? Ich sehe zwar, daß diese Thematik sehr komplex ist, möchte aber doch die folgenden Gesichtspunkte zu bedenken geben.

1. Die Aufteilung der menschlichen Person in „Seele“ und „Leib“ ist eine Rückkehr zu der alten heidnischen Anschau­ung, von der die biblische Sicht die klassische Welt befreit hat­te. Kaum etwas ist beeindruckender als der Gegensatz, der an diesem Punkt zwischen der Bibel und den Hauptrichtungen in­dischen Denkens besteht. Indische Religion ist ein außeror­dentlich komplexes Gebilde aus Erfahrung, Denken und Han­deln, aber ein besonders beherrschendes Thema ist immer die relative Unwirklichkeit der „öffentlichen“ Welt gewesen. Dementsprechend glaubte man, daß das Wesen der menschli­chen Person entdeckt werden kann, wenn man alle diejenigen Seiten unserer menschlichen Natur abstreift, die uns mit der Welt der Natur und der Welt anderer Menschen verbinden. In einem bekannten Abschnitt des Taitiriya Upanischad wird z.B. gelehrt, daß man die wirkliche Person findet, wenn man hinter das Materielle („Nahrung“), das Lebendige („Atem“), das In­tellektuelle („Vernunft“) und das Spirituelle („Gemüt“) schaut.[20] Die wirkliche Person, das eigentliche Selbst ist hin­ter all dem verborgen. Das ist die „Seele“, die genauso wie in Dr. Normans Weltanschauung direkt auf die Ewigkeit bezogen ist. Blickt man in die Bibel, dann findet man überhaupt nichts von all diesen Versuchen, die wirkliche Person hinter all diesen mit ihr zusammenhängenden Elementen auszumachen. Im Ge­genteil, die menschliche Person ist von Anfang an beschrieben als die gegenseitige Beziehung von Mann und Frau, die gegen­seitige Verantwortung der Glieder einer Familie und der Fami­lien und Völker zueinander. Da gibt es keine Aufteilung zwi­schen innerlichen und äußerlichen Bereichen des Menschen. Die Aufspaltung in „Seele“ und „Leib“ ist der biblischen Welt­anschauung fremd. Und das entspricht der normalen gesunden menschlichen Erfahrung, denn wir werden überhaupt nur da­durch Personen, daß wir am gemeinschaftlichen Leben mit an­deren Menschen teilnehmen, in Verbindung und Abhängigkeit mit dem Leben der gesamten Schöpfung. Natürlich ist es wahr, daß wir uns selbst von innen sehen, andere aber uns und wir die anderen von außen sehen. Aber diese zwei ergänzenden Betrach­tungsweisen der menschlichen Natur können nicht zu einer Aufteilung der menschlichen Person in zwei verschiedene Größen führen. Das Reich Gottes, in Jesus gegenwärtig, hat es mit dem ganzen menschlichen Leben zu tun, in seinem öffentlichen Bereich ebenso wie in seinem privaten. In der Bibel gibt es überhaupt keinen Anhaltspunkt für die Ausklammerung des öf­fentlichen Bereichs menschlichen Lebens aus dem Gehorsam, den die Jünger ihrem Herrn schulden. Deswegen darf die Frage nicht heißen „Welche Begründungen kann man für christliche Beteiligung am öffentlichen Leben geben?“, sondern sie lautet „Welche Begründung gibt es für die Annahme, der öffentliche Bereich unserer menschlichen Existenz könne der Herrschaft Christi entzogen sein?“. Die Antwort heißt: „Keine.“

2. Trotzdem geht die ganze Sache tiefer, als die eben genann­ten schlagwortartigen Formulierungen vermuten lassen. Denn wir müssen davon ausgehen, daß wir auf den Gebieten unseres menschlichen Lebens, die wir nicht der Herrschaft Christi un­terstellen, keineswegs frei bleiben für unsere eigenen Entschei­dungen: Wir stehen dann unter einer anderen Macht. Wir wer­den, in der Sprache des Apostels Paulus, „Sklaven der Mächte und Gewalten“, der „Elemente der Welt“ (Galater 4,3). Mit diesen Formulierungen sprach Paulus Christen an, die der Mei­nung waren, ihr Gehorsam gegenüber Christus gehöre in den Bereich ihres Gehorsams gegenüber dem alttestamentlichen Gesetz. Sie sahen nicht, daß der christliche Gehorsam darüber hinaus geht. Deswegen muß Paulus ihnen gegenüber deutlich machen, daß das Gesetz, ursprünglich eine gute Gabe Gottes, zu einer versklavenden Macht wird, wenn es Christus keinen Platz einräumt. In verschiedenen Briefen sagt Paulus viel über diese „Mächte und Gewalten“. Sie sind die „Herren dieser Welt“, die die Königsherrschaft Jesu Christi nicht anerkennen, die ihn zu vernichten suchen und die doch selbst ihre absolute Macht schon verloren haben – nicht vernichtet, aber „ent­waffnet“ sind (1. Korinther 2,8; Kolosser 1,20). Sie wurden in Christus und für Christus geschaffen (Kolosser 1,16), und sie erfüllen einen guten Zweck (Römer 13,1). Sie bereiten den Weg für Christus (Galater 3,24, Römer 8,20f.). Aber wenn sie die absolute Herrschaft Christi nicht anerkennen und für sich selbst absolute Herrschaft beanspruchen, dann werden sie zu Instrumenten des Bösen. Das Gesetz, eigentlich Gottes Gabe, wird so zu einem knechtenden Joch. Die Macht des Kaisers, von Gott verliehen zur Wahrung des Rechtes, wird zu einer Ver­körperung dämonischen Übels (vgl. Römer 13 und Offenba­rung 13).[21] In der Geschichte unserer eigenen Kultur gibt es schauerliche Beispiele für das, was Paulus beschreibt. Denn in unserer modernen Welt wurden schon von Anfang an wirt­schaftliche Zusammenhänge nicht mehr als Teil der Ethik be­trachtet, sondern als ein selbständiges Wissensgebiet, in dem eigene Gesetze herrschen, die man durch Analyse und Induk­tion erkennen kann. Dieser neue Glaube fand seinen Ausdruck im Mythos der „unsichtbaren Hand“, durch die sichergestellt sei, daß die Zusammenfassung aller persönlichen Eigeninter­essen schließlich zum allgemeinen Wohlstand führen würde. Gute Christen glaubten dann angesichts der entsetzlichen Grausamkeiten der „bösen Mühlen Satans“, es sei unmöglich, dem Rad „wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit“ in die Spei­chen zu fallen. Sie dachten, die Ausübung der Königsherr­schaft Christi könne in das selbständige Reich der Wirtschaft nicht hineinreichen und es bliebe ihnen nichts anderes übrig, als den Opfern Nächstenliebe zu erweisen. Blake hat die Lehre der Bibel sehr richtig gedeutet, wenn er hier das Wort „sata­nisch“ gebraucht. Jeder Bereich menschlichen Lebens, den man der Herrschaft Christi entzieht, bleibt nicht zu unserer ei­genen Verfügung; er fällt unter eine andere Herrschaft.

Ein besonders treffendes Beispiel dafür finden wir in unserer Zeit im heutigen Südafrika. Die Apartheidsdoktrin ist zum Teil zurückzuführen auf die Lehre der Missionare, die die kulturel­len Werte der afrikanischen Völker erhalten und sie davor be­wahren wollten, in die Form europäischer Kultur gepreßt zu werden. Damit wollten sie eigentlich nur würdigen, daß Gott in seiner Güte unsere menschliche Persönlichkeit weitgehend durch Familienbindungen, Sprache und Kultur prägt. Aber sobald Rasse absolut gesetzt wurde und behandelt wurde wie ein unwandelbarer Bestandteil der Schöpfung, innerhalb dessen und unter dem das Erlösungswerk Christi empfangen werden muß, wurde aus etwas ursprünglich Gutem ein Instrument sata­nischer Bosheit.

Die entscheidende Frage für Christen ist also nicht, ob sie als Christen öffentliche Verantwortung wahrnehmen dürfen oder nicht. Sondern es ist die Frage, ob unsere Verantwortung im öf­fentlichen Bereich unter der Herrschaft Christi oder unter der Gewalt des Bösen wahrzunehmen ist.

3. Aber was ist mit „christlicher Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung“ gemeint? Hier begeben wir uns auf ein weites Feld schwieriger Fragen.

a) Zu unterscheiden ist einerseits zwischen den Handlungen einzelner Christen und andererseits den Aktionen und Erklä­rungen der Kirche als einer Körperschaft, die durch ihre Amts­träger wirkt – sei es eine Hierarchie oder eine Synode. Die Deutlichkeit dieser Unterscheidung ist unterschiedlich. Sie hängt davon ab, wieweit eine Kirche allen Mitgliedern eine wichtige Rolle bei der offiziellen Entscheidungsfindung zuge­steht. Aber letztlich hängt das Zeugnis der Kirche im Blick auf das öffentliche Leben mehr vom alltäglichen Verhalten ihrer Mitglieder ab als von offiziellen Worten und Aktionen. Wenn eine Kirche offiziell als Körperschaft handelt, hat sie Freiheit, sich zu einer Angelegenheit öffentlichen Interesses zu äußern oder nicht. In jedem Fall hat es die Kirche mit dieser Angele­genheit zu tun, weil ihre Mitglieder – Bürger, Arbeiter, Unter­nehmer, Lehrer, Schriftsteller, Kaufleute und Kunden – Mit­glieder der Gesellschaft sind, deren Reden und Tun das öffent­liche Leben in dieser oder jener Richtung beständig mitprägt. Schon deswegen gibt es hier gar keine Möglichkeit, dem Pro­blem aus dem Wege zu gehen. Für die Mitglieder der Kirche stellt sich daher die Frage, ob ihre Urteile und auch ihre Worte und Taten in der Öffentlichkeit von den herrschenden öffentli­chen Meinungen oder von ihrem christlichen Gehorsam be­stimmt sind. Wenn eine Kirche als ganze zu öffentlichen Fragen Stellung nehmen möchte, ist sie sicher gut beraten, wenn sie sich dabei auf solche Fragen beschränkt, bei denen größere ethische Grundsätze auf dem Spiel stehen. Aber die Kirche muß ihren Mitgliedern ständig Hilfestellung geben, wenn sie ihr Urteil zu solchen Fragen im Licht ihres Glaubens bilden wollen. Wer in der Kirche für Lehre und Seelsorge verantwort­lich ist, macht sich schuldig, wenn er das nicht versucht.

b) Es ist allgemein anerkannt, daß Christen kein besonderes politisches Programm völlig in Einklang bringen können mit ihrem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, so wie er uns in Christus bekannt geworden ist. Wo politische Programme absolut gesetzt wurden, hat das immer verheerende Folgen ge­habt. Wenn wir den Satz ernst nehmen, daß wir Menschen Sün­der sind, wird uns das davor bewahren, auf bestimmte politi­sche Programme Hoffnungen zu setzen, wie sie so eigentlich nur auf das Letzte gerichtet sein können. Aber es wäre natürlich falsch, wenn man sich aus dieser richtigen Einsicht in die Fehl- barkeit allen menschlichen Urteils zu einem völligen Relativis­mus verleiten ließe, zu einem politischen Halbdunkel, in dem alle Katzen grau sind. Das könnte z.B. zu der Schlußfolgerung führen, daß es aus christlicher Sicht keinen Unterschied gibt zwischen Julius Nyereres Tansania und Frankos Spanien.[22] Es war eines der ganz großen Verdienste von Reinhold Niebuhr, daß er deutlich machen konnte, wie auf der einen Seite die Absolutsetzung christlicher Werte in der Politik katastrophale Fol­gen hatte, und daß gleichzeitig Christen absolut verpflichtet sind, zu unterscheiden zwischen dem relativen Mehr oder We­niger an Gerechtigkeit und Freiheit und sich aktiv einzusetzen für das, was relativ besser ist.

c) Unter Christen wird es immer unterschiedliche Meinun­gen, unterschiedliche Urteile und unterschiedliches Engage­ment geben in den politischen Tagesfragen. Aber zwei Dinge müssen dazu noch gesagt werden.

Erstens müssen die Unterschiede beständig und lebendig zur Diskussion gestellt werden. Denn es geht hier um Recht und Unrecht, Gehorsam und Ungehorsam. Es geht dabei nicht um eine Geschmackssache, bei der man sich gegenseitig eine un­terschiedliche Meinung zugestehen kann. Denn wenn wir ein­ander annehmen in Christus, weil wir alle begnadigte Sünder sind, dann sind wir auch in die Pflicht genommen, einander überzeugen zu wollen von dem, was wir für die Konsequenzen aus unserem Glaubensgehorsam im Bereich der Öffentlichkeit halten. Dieses ständige Bemühen, uns im Blick auf die Öffent­lichkeitsaufgabe der Kirche gegenseitig zu überzeugen und zu korrigieren, ist ein notwendiger Bestandteil kirchlichen All­tagslebens.

Doch wird man zweitens festzustellen haben, daß es für Ent­scheidungsmöglichkeiten auch Grenzen gibt. Es kann im Be­reich des öffentlichen Lebens Entscheidungen geben, die die ganze Kirche als häretisch und unvereinbar mit christlicher Nachfolge erklären muß.

Die Fügsamkeit der offiziellen deutschen Kirchen gegen­über der Rassenpolitik der Nazis und die Unterstützung der weißen Niederländisch Reformierten Kirchen für die Rassen­politik der derzeitigen südafrikanischen Regierung gelten heu­te weithin als typische Beispiele einer Haltung, die die Kirche nicht mehr hinnehmen kann, weil sie im Widerspruch zur christlichen Nachfolge steht. Sicher gibt es noch mehr Beispie­le. Eine Weltwirtschaftsordnung zum Beispiel, die beständig und unerbittlich daran arbeitet, die Welt zu teilen in einen Sek­tor für die Reichen, die Jahr für Jahr noch reicher werden wol­len, und einen Sektor für die Armen, die immer tiefer in Armut versinken, steht in flagrantem Widerspruch zum Willen Gottes, wie er uns in Christus offenbargeworden ist. Es kann berechtig­te Meinungsunterschiede geben darüber, wie man denn sonst die Weltwirtschaft ordnen könne. Aber wenn das Anliegen der Christenheit gleichgesetzt wird mit der entschlossenen Vertei­digung des derzeitigen kapitalistischen Systems, notfalls sogar mit nuklearen Waffen, dann ist die Frage nach den Grenzen zu­lässiger Meinungsunterschiede, die Frage nach dem Abfall vom christlichen Glauben gestellt.

4. Eine Reihe weiterer Schwierigkeiten ergeben sich aus dem gegenwärtigen Stand biblischer Wissenschaft, die in den ver­gangenen beiden Jahrhunderten ihre wissenschaftlich-kritische Arbeit an der Bibel vor allem im „Vertrauensrahmen“ der Aufklärung getan hat. Typisch für diese Methode war, wie wir gesehen haben, die Verschiebung des Ansatzpunktes für eine „Erklärung“, weg von der Offenbarung und hin zur Beob­achtung und Analyse wahrnehmbarer Fakten, in der Absicht, die dahinterstehenden „Gesetze“ zu entdecken und sie dement­sprechend richtig einzuordnen. Dieser „Rahmen“ setzte vor­aus, daß der Text der Bibel mit der gleichen Methode unter­sucht wurde wie jeder andere Text der gesamten Literatur des Altertums. Generationen von Gelehrten haben mit dieser Methode gearbeitet und herausgefunden, daß die Bibel in ihrer heutigen Gestalt das Ergebnis eines langen Prozesses ist, in dem gesprochenes und geschriebenes Material aus mehr als tausend Jahren Geschichte des westasiatischen Kulturberei­ches gesammelt, herausgegeben, neu geschrieben und weiter­gegeben wurde.

Die Folge davon ist, daß es für einen Menschen der moder­nen westlichen Kultur immer schwerer wurde, die Bibel als eine Richtschnur für eigenes Verhalten zu betrachten – sei es im privaten oder im öffentlichen Leben. Hier sind zwei beson­dere Probleme angesprochen. Erstens hat die moderne histori­sche Wissenschaft deutlich gemacht, daß die kulturelle Welt, in der und für die diese Texte ursprünglich geschrieben wur­den, nur in einem Winkel abseits der großen Weltgeschichte lebte. Das macht es für den modernen Leser schwer, ihre An­wendbarkeit auf die Welt des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Zweitens hat die Wissenschaft gezeigt, daß die biblischen Schriften in ihrer heutigen Gestalt die Zusammenstellung von vielen Bausteinen sind, die in ihrer ursprünglichen Form ganz unterschiedliche und z.T. gegensätzliche Ansichten darstell­ten. Ein auffälliges Beispiel dafür ist die Nebeneinanderstel­lung der beiden offensichtlich ganz gegensätzlichen Verständ­nisse des Königtums im 1. Buch Samuel. Für fast jedes ethische Problem unserer Zeit kann man in der Bibel Texte finden, mit denen man sich gegenseitig ausschließende Entscheidungen begründen kann.

Wer sich also nur einzelne Texte herauspickt, kann sich nicht zu Recht auf die Bibel berufen.

Aber was ist die Alternative, wenn wir nicht völlig darauf verzichten wollen, uns auf die Schrift zu berufen? Dann kann man wohl nur ganz ernst nehmen, daß der Kanon als die ver­bindliche Zusammenstellung biblischer Schriften die Unter­schiedlichkeit innerhalb der Bibel sowohl zuläßt als auch be­grenzt. Wenn wir also die Schrift auslegen wollen, müssen wir uns schon der Mühe unterziehen, über alle Text-, Literar-, historische, formgeschichtliche und Redaktions-Kritik hinaus danach zu fragen, wie der einzelne Text sich zur Bibel als Gan­zes verhält. Dieser Arbeitszweig „Kanonkritik“, an dem zur Zeit Theologen in den USA arbeiten, scheint mir eine vielver­sprechende Hilfestellung geben zu können für die ständige Auf­gabe der Kirche, die Bibel auszulegen.

Aber jede Berufung auf die Autorität der Bibel weckt Fragen, die bis zum Kern der Auseinandersetzung mit der „modernen“ Kultur vorstoßen. Die biblischen Schriften sind im Glauben ge­schrieben mit der Absicht, Glauben zu wecken. Sie wollen Antwort geben auf die grundlegenden Fragen zu Herkunft, Sinn und Ziel menschlichen Lebens. Eine Art wissenschaftli­cher Exegese, die sich angeblich neutral mit diesen Fragen befaßt, ist außerstande, den Text in seiner ursprünglichen Absicht zu deuten, besonders die Absicht, Glauben zu wecken. Der Ge­lehrte untersucht den Text, aber er läßt sich nicht selbst untersu­chen. Hier ist Neutralität schon eine Entscheidung gegen den Glauben, den der Text gerne wecken möchte. Solch ein An­spruch auf Neutralität wäre tatsächlich irreführend. Der Ge­lehrte geht dann an den Text heran mit den Voraussetzungen moderner wissenschaftlicher Forschung. Diese Voraussetzun­gen entscheiden darüber, welche Fragen gestellt werden müs­sen und welche Methoden man zu ihrer Beantwortung braucht. Im 19. Jahrhundert wurden die analytischen Methoden kriti­scher Wissenschaft mit außerordentlichem Erfolg eingesetzt, als man die fünf Moses-Bücher, den Pentateuch, in kleinstmögliche Bausteine zerlegte und sie dann wieder zusammenfügte zu einem Bild, das den zeitgenössischen Ideen von Entwick­lung und Fortschritt genau entsprach. Dieses Programm wurde auch noch mit echt evangelistischem Eifer durchgeführt; eine neue Sicht der Dinge sollte an die Stelle der alten treten, um die biblische Geschichte für den modernen Menschen annehmbar zu machen. Aber das war natürlich keine Neutralität.

Es gibt keine wissenschaftliche Tätigkeit, die über den Inter­essen steht. Jede Wissenschaft ist zielgerichtet. Das trifft auf die Untersuchung biblischer Texte ebenso zu wie auf jede an­dere Untersuchung auch. Die Verfasser biblischer Texte haben in vielen Fällen frühere Texte ausgelegt. Was dabei ihr Interesse war, scheint dem modernen Ausleger klar zu sein, wenn er ihre Interpretation von seinem Standpunkt aus untersucht. Der schwarze Prediger einer schwarzen britischen Großstadtge­meinde beschäftigt sich mit den Texten von seinem Anliegen her, Glauben zu wecken an einen Gott, der die Unterdrückten befreit und den Fremdlingen ihr Recht verschafft. Seine Ausle­gung kann nicht über den Dingen stehen, und der Prediger nimmt nicht für sich in Anspruch, neutral zu sein. Genauso ha­ben auch die wissenschaftlichen Theologen an den Universitä­ten ihre Interessen. Das können die gleichen Interessen sein wie die der Prediger, bei manchen der größten Gelehrten ist das so. Andere sind mehr an der Aufmerksamkeit der akademi­schen Kollegen interessiert, die sie brauchen, wenn sie ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen und damit anderen zu­gänglich machen wollen. Dieses Interesse wird natürlich die Fragen beherrschen, die ihrer Forschung zugrunde liegen, und die Methoden leiten, die sie bei der Forschung anwenden. Sie suchen zwar ehrlich nach gesicherten und verläßlichen Ergeb­nissen, aber vermutlich wissen sie genau, daß nach den Spiel­regeln ihrer Wissenschaft ein unerbittlicher kritischer Maßstab auch an ihre vorgebrachten Schlußfolgerungen angelegt wird und daß ihre „gesicherten Ergebnisse“ bestimmt hinterfragt werden und nach ein paar Jahren überholt sind. Zur Zeit jedoch sind die Wissenschaftler Teil eines Systems, in dem Erfolge beurteilt werden nach den Maßstäben, die unsere Kultur ge­setzt hat, und sie sind selbst daran interessiert, in diesem Sinne erfolgreich zu sein – sie möchten ihre Arbeit veröffentlichen und im akademischen Bereich vorankommen. Ihr Interesse ist genauso handgreiflich wie das des Predigers.

Aber welche Art von Interesse ist der Schlüssel zum Ver­ständnis der Bibel?

Ein neutraler Standpunkt ist hier ausgeschlossen. Eine Beru­fung auf die Autorität der Bibel ist nicht zu empfehlen, wenn man ihre Wahrheit oder Zuverlässigkeit modernen Menschen „beweisen“ möchte, denn der Beweis würde genau auf den Vor­aussetzungen beruhen, die die Bibel in Frage stellt. Natürlich muß es erlaubt und möglich sein, die Bibel aus der Sicht unse­rer Kultur zu interpretieren, genau wie es möglich und erlaubt sein muß für einen Hindu, einen Moslem oder einen Marxi­sten, sie aus seiner Sicht zu interpretieren. Die Kirche kann und muß von ihnen allen lernen. Aber die Kirche ist die Gemein­schaft, die in ununterbrochener Folge seit Abraham von dem Glauben lebt, den die Bibel bezeugt. Und gegenüber allen an­deren Behauptungen wird sie ständig daran festhalten, daß die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle nur in diesem Glauben erkannt werden kann. Eine solche Feststellung kann in ihrer Endgültig­keit nur der Glaube treffen; sie kann nicht noch einmal bestätigt werden von irgendeinem Standpunkt, der vorgeblich noch zu­verlässiger ist. Die Kirche ist nun einmal in ihrer Auslegung der Schrift zu Glaube und Gehorsam verpflichtet. Jede Genera­tion, die die Schrift nach ihren eigenen Voraussetzungen zu verstehen sucht, hat deshalb dauernd davon auszugehen, daß die Schrift selbst diese Voraussetzungen in Frage stellt. Für die Kirche kann die Bibel niemals eine Sammlung alter Texte sein, die „objektiv“ von irgendeinem Wissenschaftler untersucht werden können, der selbst in keinerlei Beziehung zu ihrer Wahrheit steht. Wenn die Kirche sich selbst ständig den Worten der Schrift aussetzt, findet sie sich auch selbst in Frage gestellt, sieht ihr eigenes Vorverständnis auf dem Prüfstand und wird immer neuen Zugang zu ihrem Verständnis suchen. Nur in die­sem Zusammenhang von Glaube, Offenheit und Gehorsam kann die Kirche die Bibel richtig verstehen. Das eigentliche „Interesse“ der Kirche am Studium der Schrift ist nur das Lob dessen, der durch die Schrift zur Kirche spricht.

Nun hat die Kirche zwar nie aufgehört, die Bibel in ihren Got­tesdiensten und privaten Andachten hoch zu schätzen. Aber wenn es darum geht, sich für das Verhalten im öffentlichen Le­ben auf die Bibel als verbindliche Richtlinie zu berufen, dann beobachtet man einen auffälligen Mangel an Selbstvertrauen. Viele Christen sehen sich heute in der gleichen Verlegenheit, die zur Zeit der Reformation zu beklagen war. Damals war die Bibel den Laien nicht mehr zugänglich, sie war gewissermaßen Eigentum des Klerus geworden. Heute muß man fragen, ob sie nicht sozusagen Eigentum einer gelehrten Zunft geworden ist, so daß der normale Christenmensch sich außerstande sieht, sie ohne Hilfe eines geschulten Experten zu verstehen.

Aber der normale Christenmensch weiß auch, daß die Er­gebnisse moderner kritischer Wissenschaft natürlich kurzle­big sind. Die kritische Methode verschlingt systematisch ihre eigenen Produkte. Selbst der gutunterrichtete Laie bleibt des­halb immer noch im Zweifel, ob sein Kenntnisstand nicht schon längst wieder überholt ist.

Andererseits muß man klar und deutlich sagen, daß die Bibel den Laien nicht einfach dadurch wieder zugänglich gemacht werden kann, daß man sie den Wissenschaftlern entzieht. Die Ergebnisse zweier Jahrhunderte kritischer Forschung können nicht einfach ausgelöscht werden. Und die Laien selbst sind Teil der modernen Kultur und können nicht unbeschadet ihr geistiges Leben in zwei Bereiche teilen, von denen der eine mit dieser Kultur und der andere mit der Bibel lebt. Der erforderli­che Schritt ist viel aufregender und kostspieliger: Der biblische Glaube muß nun der modernen Kultur wahrhaft missionarisch entgegentreten. Damit meine ich, daß unsere Kultur zwar ernst genommen werden muß, aber nicht als eine letzte Wahrheit, von der aus die Bibel beurteilt werden könnte. Statt dessen ist der modernen Welt der Spiegel der Bibel vorzuhalten. Damit wollen wir lernen, wie wir als Teil der modernen Kultur unsere eigenen Voraussetzungen überprüfen und unser Denken und Handeln neu aufnehmen müssen. Das ist, glaube ich, jetzt un­sere Aufgabe.

Die Kirche hat nie aufgehört, die Bibel in die Mitte ihres Le­bens zu stellen. Damit bekennt sie sich beständig zu einem „Vertrauensrahmen“, der anders und älter ist als unsere Kultur. Wozu wird es fuhren, wenn man die Wertvorstellungen und Voraussetzungen unserer Kultur denen der Bibel gegenüber­stellt? Auch auf die Gefahr hin, für oberflächlich gehalten zu werden im Blick auf die großen und vielschichtigen Probleme, die von Philosophen, Theologen und Bibelwissenschaftlern schon so intensiv diskutiert wurden, wage ich es dennoch, in kurzer Form die folgenden Richtlinien für solch einen missio­narischen Einsatz vorzuschlagen.[23]

a) Auch die Bibel ist nicht geschützt vor dem, was Walter Lippmann die „Säuren der Modernität“ nennt. Sie kann nicht ausgenommen werden von der kritischen Analyse, der die Kul­tur der Aufklärung jede Form von Erfahrung unterworfen hat. Und wir sollten wohl auch nicht wünschen, daß es anders wäre. Wir haben aber achtzugeben auf die Grenzen, die auch diese Art der Analyse naturgemäß hat. Solange wir ihre Geltung für unsere anderen Erfahrungsbereiche anerkennen, können wir ihre Anwendung auf die Bibel nicht verwehren, wenn wir diese nicht aus der wirklichen Welt in eine Scheinwelt verbannen wollen. In dem berechtigten Anliegen, den Grundsätzen christ­lichen Glaubens treu zu bleiben, gerät man nur allzu leicht in die Falle eines Fundamentalismus, der die Bibel als eine „wis­senschaftliche“ Beschreibung der erfaßbaren Dinge versteht. Genau das aber ist typisch für die Art, wie die Aufklärung auf die Dinge zuging: Die unabhängige Vernunft befaßt sich mit „objektiven“ Tatsachen der Vergangenheit. Wenn beispiels­weise die Schöpfungslegenden der Genesis für Feststellungen gehalten werden wie etwa Darwins „Ursprung der Mensch­heit“, so daß man sich zwischen diesen beiden entscheiden muß, dann wird die Bibel gelesen durch eine Brille, die die Auf­klärung geschaffen hat. Diese Sorte „Fundamentalismus“ ist ein Produkt moderner Kultur. Für seine Vertreter ist es leicht, sich in der modernen Welt zu Hause zu fühlen und von allen An­geboten der modernen Welt zu profitieren. Dieser Fundamen­talismus ist etwas völlig anderes als die vorkritische Haltung je­ner, die den „Säuren der Modernität“ niemals ausgesetzt waren und deswegen die Bibel ganz natürlich als Teil ihrer eigenen Welt lasen.

b) Die Bibel muß wie jeder andere Text für sich selber spre­chen dürfen. Man darf sie nicht zwingen, in anderen Katego­rien als in ihren eigenen zu reden. Genau das geschieht aber, wenn man sie einschränkt auf eine Reihe von Lehraussagen. Wenn wir uns wirklich auf die Bibel einlassen, hören wir sehr viele Stimmen, und sie lassen sich ganz unterschiedlich ver­nehmen. In der Prophetie z.B. spricht eine menschliche Stimme das göttliche Wort der Verheißung und der Warnung zu einer bestimmten Zeit in eine bestimmte Situation. In den Er­zählungen hören wir eine anonyme Stimme, die uns von den großen Taten Gottes erzählt und so seinen Willen kundtut. In der Weisung der Thora gibt Gott seinem erlösten Volk eine An­leitung, wie es diesen Willen immer mehr persönlich und in­nerlich erfassen kann. Die Weisheitsliteratur richtet sich an alle Menschen und stellt ihr richtiges Verhalten in den Zusammen­hang des gesamten Weltgeschehens. Und in den Psalmen und Liedern hören wir die Stimme der erlösten Gemein­de in Lob­preis, Danksagung und Ergebung an Gott, der durch die Pro­pheten spricht, in der Geschichte handelt und mit Weisung und Weisheit beschenkt. Diese unterschiedlichen Stimmen lassen sich auf je eigene Weise vernehmen, und nur so dürfen wir sie hören. Man darf sie nicht umformen in eine Reihe von Sätzen, die man dann verdichten kann zu „offenbarter Wahrheit“, die in Gegensatz zu stellen sei zu dem Wissen, das wir uns durch die Erforschung der Natur und ihrer Gesetze erworben haben.

c) Wie kann denn dann die Bibel als Träger der Offenbarung verstanden werden? Ich habe ihre Vielseitigkeit betont, und ohne Frage hat die moderne Wissenschaft ans Licht gebracht, wie ungeheuer vielschichtig die verschiedenen Stränge inner­halb jedes dieser Elemente miteinander verknüpft sind. Sie hat die vielen verschiedenen Quellen aufgedeckt, aus denen die Bi­bel ihren Stoff geschöpft hat. Sie hat die sozialen, kulturellen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Interessen ver­deutlicht, die an ihrer Ausformung beteiligt waren. Doch die Bibel kommt zu uns in ihrer „kanonischen“ Gestalt, als Ergeb­nisjahrhundertelanger Deutung und Umdeutung, Bearbeitung und Wiederbearbeitung. Ihre Einheitlichkeit beruht auf be­stimmten genau erkennbaren Zentralpunkten. Das sind Ereig­nisse im Laufe der Geschichte, die als einzigartige Offenbarun­gen der Gegenwart und des Handelns Gottes gedeutet werden. Wesentlich sind hier zwei herausragende Schwerpunkte – Is­raels Befreiung aus Ägypten und alles Geschehen um den Mann Jesus von Nazareth. Das erste Ereignis hat eine Schlüsselfunk­tion für die vielfältigen und unterschiedlichen Aussagen des Alten Testamentes; das andere ist der Schlüssel für die ver­gleichsweise sehr unterschiedlichen Aussagen des Neuen Te­stamentes. Das zweite zentrale Ereignis weist zurück auf das erste. Darum können alle Ereignisse um Jesus dargestellt wer­den als die letzte Erfüllung der Ereignisse um den Exodus.

Diese Ereignisse sind von Anfang an (wie übrigens alle „hi­storischen Tatsachen“) gedeutete Ereignisse. Sie werden ge­deutet als Handeln Gottes, als die Gegenwart des Absoluten mitten im Lauf der Geschichte. Aber auch diese Deutung ist in jeder Generation und in jeder Kultur wieder und wieder neu ge­deutet worden. Wir sehen, wie dieser Prozeß sich durch alle Schichten des biblischen Materials hindurchzieht. Die Spra­che, die zunächst nur deuten will, wird ein Text, der seinerseits der Deutung bedarf, und so weiter bis ans Ende der Zeit. Es wird nie genügen, nur den Text zu zitieren.

Doch der Text kann deshalb nicht einfach gestrichen werden. Die Ereignisse sind nicht bloße Symbole für eine dahinterlie­gende Wirklichkeit, die man auch ohne diese Symbole erken­nen könnte. Wenn das so wäre, dann hätten wir es bei geistigen Begriffen mit der letzten Wirklichkeit zu tun, bei ihren ge­schichtlichen Erscheinungsformen aber bestenfalls mit ihrer Veranschaulichung. Andererseits sind die Ereignisse auch nicht nur Beispiele einer allgemeinen Regel, die man auch ohne sie formulieren könnte. Alle solche Versuche, die Ereignisse zu verkehren in Symbole oder Beispiele zeitloser Wahrheiten, die man in Sätze und Formeln fassen kann, stehen im Gegensatz zum Wesen dessen, was die Bibel uns als „Zeugnis“ anbietet.

d) Das Zeugnis ist eine Ausdrucksform, die etwas anderes ist als die bloße Feststellung eines Sachverhaltes, der unmittelbar verständlich ist oder der von unmittelbar verständlichen Vor­aussetzungen her bewiesen werden kann. Das Zeugnis ist keine logisch zwingende „Vernunftwahrheit“. Ein Zeuge trägt im Rahmen eines gerichtlichen Prozesses mit seiner Aussage zur Wahrheitsfindung bei. Was er sagt, ist während des Prozesses keineswegs schon allgemein bekanntes Wissen. In der gesam­ten Bibel haben die Aussagen über die großen Ereignisse von Befreiung und Versöhnung den Charakter eines Zeugnisses. Diese Aussagen werden im Zusammenhang einer Auseinan­dersetzung um die Wahrheitsfindung gemacht. Der Zeuge oder die Zeugin stellt sich mit seinem oder ihrem ganzen Leben hin­ter eine Aussage, der durchaus widersprochen werden kann. In dieser Aussage sind Sachverhalt und Deutung nicht voneinan­der zu trennen, und sie geschieht angesichts der Mächte, die sie bestreiten – der „Götzen“, des „Herrschers dieser Welt“. Ob die Aussage stimmt, wird sich erst herausstellen, wenn die Ver­handlung zu Ende ist und der Richter das Urteil verkündet hat. Wer nach irgendeiner anderen Feststellung der Richtigkeit fragt, der zeigt, daß er nicht verstanden hat, worum es geht.

e) Was ist der Inhalt des Zeugnisses? Im wesentlichen ist es ein Hinweis auf den lebendigen Gott, der Spuren seiner Gegen­wart und seines Handelns in den zur Debatte stehenden Ereig­nissen hinterlassen hat. Es sind „Spuren“. Man kann Gott nicht erfassen in den Aussagen, die wir machen, oder in den Visio­nen, die wir haben. Auf die Frage „Wie ist dein Name?“ ist die Antwort „Ich werde sein, der ich sein werde“ (Exodus 3,14).

Sie heißt nicht „Ich bin, was ich bin“, eine Übersetzung, die sich auf die griechische Überlieferung der Exodusgeschichte zurückführen läßt und die leicht dazu fuhren kann, daß der le­bendige Gott der Bibel durch das „Absolute“ ersetzt wird oder durch „transzendentes Wesen“, eine Vorstellung, die der Ver­stand aus den Prozessen des Denkens heraus selbst formulieren kann. Wir haben es aber mit einer wirklichen Begegnung zu tun, einem Zusammentreffen mit einem anderen, nicht mit einem Teil der Ausstattung des denkenden Verstandes. Der le­bendige Gott geht uns voran, aber er kommt auch, um uns zu treffen, und es gibt Zeugen, die aussagen können, daß Gott sie gerufen hat. Wir haben es nicht mit einer Idee unter anderen Ideen zu tun, die ihren Ursprung in unseren eigenen Denkpro­zessen hat. Wir haben es zu tun mit jemand, der uns begegnet und uns ruft in den Ereignissen, die zu einem Teil der Ge­schichte werden, Ereignisse, die uns einladen, den Verspre­chungen dessen zu trauen, den wir jetzt nicht von Angesicht zu Angesicht sehen können, der aber – seiner Verheißung gemäß – vor uns hergeht als der schon Gegenwärtige.

Den gleichen Sachverhalt finden wir im Neuen Testament. Der lebendige Gott war im Menschen Jesus gegenwärtig, aber die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle zu verstehen, war nicht ein­mal seinen nächsten Jüngern geschenkt; sie werden sie erfah­ren durch den lebendigen Geist Gottes, wenn sie ihm folgen auf dem Wege des Kreuzes und wenn sie Träger seines Zeugnisses werden.

f) Dieses Zeugnis aber muß jetzt gegeben werden, nämlich im Verlauf des Prozesses, in dem es zur Debatte steht. Die Kul­tur, zu der wir gehören, schätzt die Unabhängigkeit der Ver­nunft über alles. An zwei Punkten setzt das Zeugnis der Schrift an, diese Kultur in Frage zu stellen.

Unsere Kultur reagiert empfindlich auf die Vorstellung, daß das Absolute sich im Laufe geschichtlicher Ereignisse zu er­kennen gibt. Es war ja schon fast ein allgemein anerkannter Grundsatz geworden, daß „die zufälligen Geschichtswahrhei­ten niemals zum Beweis für die notwendigen Vernunftwahrhei­ten werden können“ (Lessing). Nach den derzeit herrschenden Denkvoraussetzungen unserer Kultur hat die menschliche Ver­nunft in ihrer Unabhängigkeit direkten Zugang zur Wahrheit. Danach können mehr oder weniger zufällige Ereignisse der Geschichte die Wahrheit zwar veranschaulichen, aber sie kön­nen sie nicht beweisen. Wer aber sagt „Gott war in Christus“ oder wer das Jesuswort zitiert „Ich bin der Weg“, der greift diese Voraussetzungen an. Denn das sagt ja, daß die menschli­che Vernunft für den Zugang zu letzter Wahrheit abhängig sei von einem bestimmten Ereignis innerhalb all der anderen zu­fälligen geschichtlichen Ereignisse. Die Behauptung, daß das Transzendente nur erkannt werden kann im Blick auf eine ganz bestimmte Reihe von Ereignissen mit all ihrer Gebundenheit an Zeit, Ort, Rasse, Kultur und Sprache, ist ein direkter Angriff auf die Souveränität der unabhängigen Vernunft, die in unserer Kultur so hoch geschätzt wird.

Diese Herausforderung wird als besonders anstößig emp­funden, weil sie wie die Invasion einer fremden Macht er­scheint, die die Freiheit des Forschens und die Freiheit des Ge­wissens bedroht. Daran sind wir Christen leider mitschuldig, weil wir Gottes Offenbarung fälschlich so dargestellt haben, als sei sie eine Sammlung von „Wahrheiten“, die sich säuberlich abfüllen lassen in eine Reihe von Lehren und Bekenntnissen, die dann durch die Kirche ihr Gütesiegel erhalten. Die Aufklärung war mindestens zum Teil eine berechtigte und angemessene Auflehnung gegen eine Autorität, die sich zu Unrecht auf die Offenbarung berief. In dem Kampf, den die Vertreter der Auf­klärung und die Pioniere der modernen Wissenschaft für die Freiheit des Gewissens und die Freiheit der Forschung ausfoch­ten, standen die Christen allzu oft auf der falschen Seite. Das muß man zugeben. Aber wenn wir frühere Irrtümer einsehen und zugestehen, darf uns das doch nicht daran hindern, daß wir jetzt das Zeugnis geben, das von uns erwartet wird. Unsere Kul­tur beruht auf einer Illusion. Menschliche Vernunft und men­schliches Gewissen sind nicht autonome Größen. Der mensch­liche Geist ist über die sichtbare Welt keineswegs absoluter Herrscher. Die moderne Wissenschaft hat es zwar glänzend verstanden, die Welt auf ihre Weise zu erklären und zu nutzen, doch diese Weise ist keineswegs die allein mögliche, für sich allein genommen, kann sie vielmehr nur zum Tode fuhren. In weiten Bereichen können wir Erfahrungen nur dann machen, wenn wir unsere Herzen und Sinne öffnen für den Zauber der Schönheit, für die tiefe Bedeutung unserer Einbindung in die Schöpfung und vor allem für die Ausstrahlungskraft der Liebe. Solche Erfahrung ist Erfahrung von Wirklichkeit. Aber wir können sie nur machen, wenn wir unser Wollen bewußt auslie­fern an eine Wirklichkeit, die jenseits unseres eigenen Hori­zontes liegt. Weil wir aber Teil des ganzen Zusammenspiels ge­schaffener Dinge sind, kann uns der Anruf von draußen auch nur durch geschaffene Dinge und geschichtliche Ereignisse er­reichen. Und er erreicht uns nur als gedeutete Geschichte. In diesem Sinn haben unsere Vernunft und unser Gewissen eine nicht übertragbare Verantwortung für die Wahrnehmung dieser Ereignisse. Aber es ist Teil der menschlichen Tragödie, daß die Verantwortung des sich selbst zugewandten Menschen als Un­abhängigkeit aufgefaßt wird. In der Illusion dieser autonomen Unabhängigkeit nimmt der Mensch den Anspruch der Offen­barung in bestimmten Ereignissen nur noch als Bedrohung und als Invasion wahr. Aber das Zeugnis, das die Kirche zu geben hat, ist das Zeugnis einer Offenbarung, die nicht als Invasion von außen die Freiheit des menschlichen Geistes bedroht, son­dern die als Ruf der Liebe den Geist des Menschen allein be­freien kann.

g) Aber es bleibt ein Zeugnis, es ist kein zwingender Beweis. Es wird abgelegt (und das muß noch einmal gesagt werden) im Zusammenhang einer Gerichtsverhandlung, in der der Zeuge oder die Zeugin sein oder ihr Leben an eine Wahrheit bindet, die nicht vor dem Ende erweisbar ist. Wenn die Kirche mutig genug ist, ihr Zeugnis für den lebendigen Gott abzulegen, der sich offenbart hat in bestimmten Ereignissen und in den Schrif­ten als ersten Zeugnissen dieser Ereignisse, dann wird sie un­ausweichlich mit unserer zeitgenössischen Kultur in Konflikt geraten. Sie muß den ganzen „Vertrauensrahmen“ des säkula­ren Denkmodells in Frage stellen, in dem unsere Kultur lebt und wirkt. Sie muß klar und eindeutig nach einer radikalen Umkehr rufen, einer Umkehr des Geistes zu einer anderen Sicht der Dinge und einer Umkehr des Willens zu einer anderen Art des Handelns. Sie muß dem vergeblichen Versuch, die bi­blische Sicht der Dinge durch Anpassung an die Voraussetzun­gen unserer Kultur schmackhaft zu machen, ganz und gar ent­sagen.

h) Doch die Kirche kann dieses Zeugnis nicht abgeben, in­dem sie einfach die Worte der Bibel zitiert. Wie in der Schrift selbst und wie in allen darauffolgenden Zeiten und Kulturen, dürfen wir auch in unserer Zeit und Kultur die Mühe nicht scheuen, den Inhalt in der Sprache und im Denken unserer Zeit weiterzusagen. Das ist immer ein riskantes Unternehmen, weil das eigentliche Zeugnis auf dem Wege der Interpretation verlorengehen kann. Man kann leicht aufzeigen, wie die Gestalt Jesu in einer Kultur nach der anderen zum Spiegelbild ihrer eigenen Ideale wurde. Die Gemäldegalerie mit Jesusporträts, wie sie in den verschiedenen Jahrhunderten gemalt wurden, läßt uns mehr über die Maler als über Jesus erfahren. Wie also kann die einmal ergangene Offenbarung in den einmaligen Ereignissen, von denen die Bibel spricht, ohne Aufgabe ihres wesentlichen Kernes in die Begriffe einer Kultur so übertragen werden, daß es dabei zu einer wirklichen Auseinandersetzung kommt?

Die Antwort darauf kann nur gegeben werden mit dem Hin­weis auf das Wirken des Heiligen Geistes, der der Kirche ver­heißen ist, wenn sie für die Sache ihres Zeugnisses zu leiden bereit ist (vgl. Markus 13, 11). Nur das Zeugnis des Geistes macht das Zeugnis der Kirche möglich (Johannes 15, 18-27). Der Geist ist der Ankläger, der die allgemein anerkannten Grundsätze einer Kultur unter das Gericht stellt (Johannes 16, 7-11). Die Gegenwart des Geistes ist der Kirche als Ganzes ver­sprochen. Eine der Folgerungen daraus ist die, daß wir unser Zeugnis nur dann erfolgreich ablegen können, wenn wir es ge­meinsam ablegen mit denen, deren Kultur anders ist als die un­sere.

i) Die Verheißung des Heiligen Geistes für die Kirche ist in den Evangelien immer verbunden mit dem Hinweis auf einen Konflikt. Damit ist jener Prozeß gemeint, in dem es um den Er­weis der Wahrheit geht. Die Verheißung des Geistes ist der Kir­che gegeben, die in diesem Prozeß standhaft bleibt. Die missio­narische Auseinandersetzung mit unserer Kultur wird nicht nur eine Auseinandersetzung mit Worten sein. Sie wird Aktionen einschließen, die zum Konflikt und zum Leiden führen. Es wäre unrealistisch, etwas anderes zu erwarten. Der „Vertrau­ensrahmen“, den die Kirche anzubieten hat anstelle dessen, der unsere Kultur bisher geformt und beherrscht hat, hat (wie wir sahen) seine Mitte und Quelle in der werbenden Liebe, auf die wir nur in Glaube, Liebe und Gehorsam antworten können. Es geht nicht nur darum, „das Wesen der Dinge“ in einem neuen Licht zu sehen; es geht auch darum, daß wir merken, was in die­sem Lichte zu tun ist. Die Art von „Verständnis“, die sich aus der Annahme des Zeugnisses ergibt, ist nicht nur ein Sehen; es ist auch ein Handeln und Erwarten. Es ist jene Art der Erkennt­nis, die aus Glaube, Hoffnung und Liebe besteht: Der Glaube riskiert alles für ein Zeugnis, dessen Wahrheitsgehalt erst am Ende erwiesen wird; die Hoffnung drängt im Vertrauen auf die­ses Ende immer nach vorne; und die Liebe ist ein Überfluß an Leben, durch Gottes Tat in Christus befreit von der Selbstsucht, und führt zu Taten, die das unverkennbare Zeichen des Kreuzes tragen. Denn das Kreuz ist Mitte und Höhepunkt von Gottes Handeln.

V. Einladung zum Suchen neuer Wege

Meine Darlegungen in diesem Aufsatz sind fast überall offen für kritische Rückfragen. Ich versuche, eine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, die jetzt der Prüfung bedarf durch Men­schen der verschiedensten Wissenszweige, die mehr davon ver­stehen. Ich habe geschrieben in der Hoffnung, daß jetzt Rück­fragen kommen und Nachprüfungen erfolgen. Denn ich glaube, daß meine Hauptthese wahr ist, selbst wenn ich sie un­zulänglich vorgetragen habe. Wenn sie aber wahr ist, dann müs­sen die Kirchen wieder die Initiative ergreifen. Dann ist es nicht mehr ausreichend, „christliche Lösungen“ für die Probleme unserer Gesellschaft anzubieten. Denn der gesamte Rahmen, in dem diese „Probleme“ sichtbar werden, ist in Frage zu stel­len . Die britischen Kirchen haben sich kürzlich darum bemüht, z.B. in der Dokumentation „Britain today and tomorrow“. Sie haben Kritik erfahren besonders deshalb, weil ihre Anregun­gen von zeitgenössischen liberalen Auffassungen stärker be­stimmt waren als von der Auslegung der Bibel und der christli­chen Überlieferung.

Wir brauchen offenbar einen Anstoß, der tiefer ansetzt und einige der Voraussetzungen in Frage stellt, die in unserer Kultur als „selbstverständlich“ gelten. Natürlich muß die Kirche auch weiterhin ihre Botschaft und ihren Dienst anbieten als Antwort auf das Sehnen und Hoffen der Menschen. Aber es ist die Frage, ob solch ein Angebot überhaupt gemacht werden kann, ob nicht die Erwartungen der Menschen heute so weit gehen, daß sie gar nicht mehr erfüllt werden können. Es ist also die Frage zu stellen, ob die „Revolution der Erwartungen“, die zu einem so herausstechenden Merkmal der modernen Welt ge­worden ist, nicht in Enttäuschung enden muß, weil sie auf Selbsttäuschung aufgebaut ist.

Nun kann man, soviel ist klar, nicht einfach aus der Bibel ein paar Prinzipien entwickeln und sie auf die moderne Gesellschaft anwenden. Das wäre ein Rückfall in das alte Mißverständnis von Offenbarung. Es käme darauf an, mitten in unse­rer Gesellschaft ein Zeuge für das Handeln des lebendigen Got­tes zu werden, den wir nach den Berichten und Deutungen der Bibel in seinem Heilshandeln kennenlernen können. Es käme darauf an, ein Leben zu führen in der Erwartung und Hoffnung, die Gottes Handeln heute möglich macht. Wir können nicht da­von ausgehen, daß alle Christen in den vielschichtigen und wechselnden Situationen immer darin übereinstimmen, was denn nun zu tun sei. Aber wir können die Bereiche benennen, wo die Voraussetzungen unserer Kultur entschieden in Frage zu stellen sind. Als Beispiele dafür möchte ich fünf Bereiche Vor­schlägen. Dabei habe ich die Hoffnung, daß diejenigen, die sich in diesen Bereichen auskennen, durch eine gründliche Un­tersuchung uns helfen können bei einer Bestimmung der Situa­tion und der Schlußfolgerungen, die wir in unserem Reden und Tün daraus zu ziehen haben.

a) Ein erster Bereich umfaßt das Selbstverständnis des Men­schen. Die Aufklärung sah den Menschen in seiner Selbstbe­stimmung als Mittelpunkt von Erkenntnis und Urteil, so daß jede Art von Fremdbestimmung zu verwerfen war. Aus dieser Sicht wird dann gefolgert, daß jeder Mensch das Recht hat, seine eigenen Fähigkeiten bis zu einem Höchstmaß zu ent­wickeln, das eingeschränkt wird nur durch die gleichen Rechte anderer Menschen. Das beherrschende Prinzip war deshalb das der Gleichheit, weil jeder Mensch gleiche Rechte hat. Gleichheit heißt also im Idealfall, daß jeder das hat, was er für die Entfaltung seiner Persönlichkeit braucht, und daß jeder selbst beurteilen kann, was er dazu braucht. Aus dieser Sicht ist Abhängigkeit von anderen unvereinbar mit der Würde des Menschen.

Die biblische Sicht des Menschen ist hiervon in jeder Hin­sicht verschieden. Da gibt es keine wirkliche Menschlichkeit ohne Beziehungen. Das heißt, daß gegenseitige Abhängigkeit für wirkliche Menschlichkeit unabdingbar ist. Das Leitprinzip darf darum nicht Gleichheit sein, sondern Gegenseitigkeit, wenn man Paulus ernst nimmt mit seinem ständigen Hinweis auf die Aufgaben, die wir einander schulden. Die Gotteseben­bildlichkeit des Menschen liegt in diesen gegenseitigen Bezie­hungen und wird besonders deutlich in der gegenseitigen Ab­hängigkeit von Mann und Frau (Genesis 1,27). Mensch sein kann man nur in Beziehung zu anderen, und die wirkliche Be­ziehung zwischen Menschen kommt in dem Satz zum Aus­druck „Seid einander untertan“. So gesehen, finden die Men­schen ihre Würde da, wo sie ihre Selbstbestimmung fürein­ander aufgeben, und verlieren sie da, wo sie ihre „Gleichbe­rechtigung“ in den Mittelpunkt stellen. Der Mittelpunkt, der den ganzen „Rahmen“ zusammenhält, ist der Gott, der sich mit seiner Bundestreue auf die Menschen einläßt. Denn er hat sie zu einem Spiegelbild göttlicher Treue geschaffen, damit sie sich gegenseitig Treue erweisen.

Man müßte nach den Folgen fragen, die diese Ansicht für un­sere Wirtschaftssysteme hat. Die beiden Hauptrichtungen kon­kurrierender Wirtschaftsphilosophien – in der Welt, die sich selbst „frei“ nennt, und der anderen, die sich selbst „soziali­stisch“ nennt – gründen sich auf die Sicht, die die Aufklärung vom Menschen hatte. Beide stecken in tiefen Schwierigkeiten. Beide versprechen viel, ohne es halten zu können. Ob es wohl möglich ist, eine völlig andere Sicht zu skizzieren, wie ein Wirtschaftsleben aussehen könnte, das sich leiten läßt von der biblischen Sicht des Menschen? Zwar hat es schon bemerkens­werte Ansätze in dieser Richtung gegeben. Aber ist es nicht jetzt an der Zeit, sich mehr Mühe zu geben, um herauszufin­den, wie das praktisch aussieht?

b) Ein zweiter Fragenbereich wird sich mit dem Ziel mensch­lichen Lebens zu beschäftigen haben. In unserem Kulturbe­reich ist es allgemein als selbstverständlich anerkannt, daß das „Streben nach Glück“ das eigentliche Ziel jedes Menschen ist. Gegen diese Annahme haben wir Zeugnis abzulegen von einem anderen Verständnis von Glück. Glück ist in biblischer Sicht eine Gabe Gottes, nicht etwas, was der Mensch selbst erreichen kann. Der bekannteste biblische Abschnitt dazu sind die Selig­preisungen (Matthäus 5, 3-11). Sie verheißen denjenigen Glück, die heute von den meisten Menschen zu den Elendesten gerechnet werden. Allerdings gibt es heute bei den „moder­nen“ Menschen, besonders bei den jungen, eine wachsende Einsicht, daß „Glück“ in der Form, in der es in unserer Kon­sumgesellschaft durch die Medien vorgegaukelt wird, keines­wegs wirkliches Glück ist; sie haben erkannt, daß Menschen­würde durch die Überfülle an Gütern, die dank der modernen Technik zur Verfügung stehen, nicht unbedingt garantiert wird, sondern eher verlorengeht.

In einer Welt, in der nur eine kleine Minderheit Zugang zu diesem Wohlstand hat und in der die Mehrheit immer noch ei­nen verzweifelten Kampf ums Überleben führt, ist es schon mehr als Heuchelei, wenn die Nutznießer westlichen Reich­tums diesen ständig in Frage stellen. Aber schlimmer als Heu­chelei ist die widersinnige Vorstellung, daß „Entwicklung“ für die ganze Menschheit darin bestehen sollte, den Rest der Welt auf den Lebensstandard der reichen Minderheit zu bringen. Wenn eine Herde über einen tiefen Abhang in einen Abgrund stürzt, dann sind doch wohl die langsameren zu beglückwün­schen!

Wir – Reiche und Arme zusammen – werden danach zu fra­gen haben, welche Modelle es geben kann für die Entwicklung der Welt. Solche Modelle hätten zu wurzeln in der gegenseiti­gen Verantwortlichkeit aller. Sie wird wirkliche Menschen­würde sicherstellen, denn sie kann uns völlig befreien von der Illusion, daß „Glück“, wie „moderne“ Gesellschaften es such­ten, je das Ziel menschlichen Lebens und das Kennzeichen menschlicher Würde sein kann. Eine so verstandene Entwick­lung wird aber für die Welt der Reichen zu einschneidenderen Veränderungen führen als für die Armen.

c) Ein dritter Fragenbereich wird sich mit den Aufgaben und Rechten von Regierungen zu befassen haben. Die Gründungs­väter der Vereinigten Staaten von Amerika haben die sicher schon sehr dünnen Bindungen zertrennt, die sie noch mit dem alten Königtum verbunden hatten. Danach hatten sie aber keine übergreifende Autorität mehr, die die von ihnen eingesetzte Re­gierung legitimieren konnte. Deswegen suchten sie eine Art übergreifender Legitimation in „selbstverständlichen“ Wahr­heiten, die nicht mehr nur Ansichtssache sein konnten, sondern für alle verbindlich waren. (Hannah Arendt macht auf einen kleinen Denkfehler aufmerksam, der den Gründern der USA unterlief, als sie die Wir-Form für die Präambel der Verfassung gebrauchten: „Wir halten es für selbstverständliche Wahrhei­ten …“Konsequent hätte es heißen müssen „diese Wahrheiten sind selbstverständlich“. Ein Rest von persönlicher Ansicht war also doch noch da.) Zu den Wahrheiten, die man für selbstver­ständlich hielt, gehörte auch die Rolle der Regierungen als Ga­ranten der Rechte jedes Menschen auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Die französische Revolution hat (im Ge­gensatz zur amerikanischen) keine übergreifende Autorität, aber überwältigende Macht gefunden im „allgemeinen Willen des Volkes“. Dieser Wille war allerdings weder eindeutig noch beständig und wurde so schließlich Beute eines einzelnen Dik­tators.

Die beiden vergangenen Jahrhunderte haben eine enorme Erweiterung der Rolle nationaler Regierungen erlebt, mit der sie dem allgemeinen Verlangen nach Leben, Freiheit und Glück zu entsprechen suchten. Statt gegenseitiger Verpflich­tungen wurden aber jetzt die gleichen Menschenrechte betont. Die „selbstverständliche“ Auffassung, die Durchsetzung die­ser Rechte sei die Pflicht der Regierungen, hat die Völker über­all dazu verführt, ihren Regierungen Verantwortung für menschliches Glück aufzuerlegen, wie man sie in vorherge­henden Zeiten keiner Regierung je zugemutet hätte. Von den Regierungen wurde jetzt der Segen erwartet, „der dich erhält, wie es dir selber gelallt“. Weil aber keine Regierung diese Er­wartung erfüllen kann, war Zynismus die Folge.

Zynismus aber führt allzu leicht zu einer Art Reaktion gegen staatliche Wohlfahrtseinrichtungen, die – so kann man es z.B. jetzt in Großbritannien sehen – eigentlich eine Reaktion zu­gunsten der Reichen auf Kosten der Armen ist. Zynismus bringt nichts. Wir müssen nach Wegen suchen, in denen gegen­seitige Verantwortung am Wohlergehen aller sich ausdrücken kann. An dieser Verantwortung müssen alle beteiligt sein, und zwar in einer stärker persönlichen und unmittelbaren Weise, als sie in den unausweichlich bürokratischen Zwängen des staatli­chen Sozialwesens möglich ist. Für die Suche nach neuen We­gen ist man hier auf die fachmännische Begleitung derer ange­wiesen, die praktische Erfahrungen im Bereich des Sozialwe­sens gesammelt haben. Weil sich die Aufgaben staatlicher und kommunaler Behörden und freier Wohlfahrtsverbände oft überschneiden, liegen hier sehr vielschichtige Probleme. Dann kann es nur nützlich sein, wenn im Hintergrund nicht das auf­klärerische, sondern das biblische Bild von der Menschen­würde steht. Darin ist menschliches Leben mehr von gegensei­tiger Verantwortung bestimmt als vom Bestehen auf gleichen Rechten, und Glück ist dann nicht ein „Recht“, sondern eine Gabe, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, daß sie uns ge­rade dann überrascht, wenn wir gar nicht mit ihr gerechnet haben.

d) Auch auf einem vierten Gebiet wird unsere Sicht von der Zukunft zu untersuchen sein. Die Aufklärung hat die Hoffnung auf ein irdisches Utopia hervorgebracht. Wenn man nur die Vernunft und das Gewissen von den Fesseln des Dogmas be­freien und mit Hilfe der naturwissenschaftlichen Methode sich die Schöpfung zunutze machen und die Gesellschaft ordnen könne, sei ein solches Utopia zu erreichen. Die liberale Sicht eines stufenweisen Fortschritts, die sich noch bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein auswirkte, ist heute völ­lig verschwunden. Die Hoffnung auf ein Utopia, das man durch eine gewaltsame Revolution erreichen könne, findet man nur noch bei einer kleinen Minderheit. Die überwiegende Mehr­heit hofft anscheinend überhaupt nicht mehr auf irgendeine ir­dische Zukunft. Aber ohne Hoffnung gibt es kein Handeln, das Leben käme zum Stillstand.

Lassen wir uns aber leiten von der Sicht der Bibel, dann wird unsere Zukunftshoffnung eben­so fest wie realistisch sein. Die apokalyptischen Schriften des Neuen Testaments – so habe ich ausgeführt – zeichnen uns ein Bild von der Zukunft auf dem Hintergrund des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu. (Zwischen den Leidensankündigungen und den apokalypti­schen Abschnitten der synoptischen Evangelien gibt es eine auffällige sprachliche Parallele: In beiden Fällen „muß dies al­les geschehen“.) Hier sieht man nichts mehr von stufenweisem Fortschritt. Hier sieht man verschärfte Konflikte, Zusammen­bruch dessen, was scheinbar so fest gegründet war, und schließ­lich den Sieg jenseits aller Finsternis.

Die Konflikte entstehen durch das Auftauchen von „falschen Messiassen“, also solchen, die das ganze Heil versprechen, aber zu anderen Bedingungen als der Nachfolge Jesu auf dem Wege zum Kreuz. „Das ganze Heil“, Freiheit von allem irdi­schen Übel als einer innerweltlichen Möglichkeit, ist eine Vor­stellung, die nur im Rahmen einer Kultur wachsen konnte, die die Ankündigung des Evangeliums kennt, daß der Tag des Heils nahe ist. Das Kommen des wahren Messias ruft die falschen auf den Plan. Irdisches Heil, das man erlangen kann ohne die Nachfolge auf dem Weg zum Kreuz, ist eine Verheißung, die nur in einer vom Evangelium geprägten Gesellschaft offene Ohren finden konnte. Diese Verheißung trügt und kann nur zur Katastrophe führen.

Christen hingegen können von der Zukunftsvision des Neuen Testamentes her ebenso realistisch wie hoffnungsvoll, ebenso gespannt wie geduldig sein. Daß Jesus siegt, ist ausgemacht. Aber dieser Sieg liegt hinter dem Tod und hinter der Auflösung sowohl unserer Person als auch unserer Gesellschaften. Alles, was wir tun, wird deshalb nicht mehr von Furcht bestimmt. Statt dessen wird es Zeichencharakter haben – etwa so wie Je­remía ein Stück Land kaufte in einem Gebiet, das noch von Feinden besetzt war. Es werden Zeichen der Hoffnung sein. Diese Hoffnung richtet sich aber nicht auf das persönliche See­lenheil; sie richtet sich auf die Erfüllung des ganzen Willens Gottes in Natur und Geschichte. Deshalb wird solches Handeln sich nicht auf die Privatsphäre beschränken, sondern auch im öffentlichen Leben wirksam werden.

e) Und schließlich wird sich ein fünfter Fragenbereich mit den zeitgenössischen Vorstellungen von dem, was Erkenntnis heißt, zu beschäftigen haben. Das ist die grundlegendste Auf­gabe, weil die Methoden des Erkennens, wie sie seit dem 17. Jahrhundert durch die moderne Wissenschaft entwickelt wur­den, grundlegend für die gesamte westliche Kultur geworden sind. Ein neuer Dialog mit der Wissenschaft ist die größte intel­lektuelle Aufgabe, vor der die Kirche steht. Für diesen Dialog ist der Weg bereitet durch tiefgehende Veränderungen im Be­reich der Wissenschaft (besonders der Physik) im Laufe dieses Jahrhunderts. Mit einem Zitat von Michael Polanyi habe ich in einem vorhergehenden Kapitel die Richtung angedeutet, in die nach meiner Meinung der Dialog gehen muß. Dabei stehen die unermeßlichen und unwiderruflichen Errungenschaften der modernen Wissenschaft außer Frage. Genauso unmöglich wäre der Versuch, den gewaltigen Gewinn zu übersehen, den wir der Technik zu verdanken haben. Das muß ausdrücklich gesagt werden im Blick auf einige rein negative Elemente im Denken der „grünen“ Bewegungen.

Worum es geht, ist die Frage, was „Erkennen“ sei. Es geht um die Art und Weise, in der Menschen die Wirklichkeiten, in denen sich menschliches Leben abspielt, verstehen und eine praktische Beziehung zu ihnen herstellen können. Die Wissen­schaft kann und will auf diese Frage gar keine vollständige Ant­wort geben. Aber die wissenschaftlichen Leistungen der letz­ten beiden Jahrhunderte sind so ehrfurchtgebietend, daß wir versucht waren zu meinen, die wissenschaftlichen Methoden böten den passenden Schlüssel, uns das Wissen in all seiner Fülle zu erschließen .Diese Versuchung hat uns an den Rand der Katastrophe geführt.

Lassen wir uns leiten von der Sicht der Bibel, dann werden wir erkennen, daß Wissen im tiefsten Sinn andere Einstellun­gen und Verpflichtungen erfordert als die, die seit der Zeit der Aufklärung zu Idealen erhoben wurden. Im Mittelpunkt der bi­blischen Sicht steht die Beziehung des Vertrauens zu einer per­sönlichen Wirklichkeit, die viel größer ist als wir selbst. Ohne dieses Vertrauen wird uns das wahre Wissen vom Wesen der Dinge verborgen bleiben. Wollen wir also aus dieser Sackgasse herauskommen, in der wir zur Zeit stecken, brauchen wir eine Gleichgewichtsverschiebung von Glaube und Zweifel in dem Vorgang des Verstehens. Wir müssen wieder neu erkennen, daß Kritikfähigkeit nicht an erster, sondern an zweiter Stelle kommt, denn sie ist nur auf dem Hintergrund von Überzeugun­gen sinnvoll, die sich im Glauben gründen. Sonst kann uns Kri­tikfähigkeit nur in einen nihilistischen Skeptizismus führen, in dem es kein Wissen mehr gibt, weil nichts mehr wissenswert ist. Mit dieser Fragestellung betreten wir zusammen mit Wis­senschaftlern, Lehrern und Philosophen weite Problemberei­che, in denen die Zukunft der Wissenschaft und das Wesen der Bildung zu behandeln sind. Auch Naturwissenschaftler haben inzwischen klar erkannt, daß ihr Werk ethisch nicht neutral ist. Sie sind sehr betroffen von dem ethischen Dilemma, das durch die Ergebnisse ihrer Arbeit für die Gesellschaft entstanden ist. Was wir also brauchen, ist ein Gedankengebäude, in dem ethi­sche Überlegungen nicht nur die Rolle haben, Ergebnisse wis­senschaftlicher Forschung nach außen hin zu regeln. Die Wis­senschaft ist ja selbst nur ein Teil eines Verstehensprozesses, von dem man die Ethik nicht ablösen kann. Denn alles Erken­nen geschieht im Handeln von Menschen, die sich vor Gott und gegenseitig verantwortlich wissen. Lehrer und Eltern sind beunruhigt über den geringen Stellenwert religiöser und mora­lischer Unterweisung in den Lehrplänen. Sie stecken in der Klemme zwischen unseren wissenschaftlich geprägten Le­bensvorstellungen einerseits und den aus der christlichen Ver­gangenheit überkommenen Wertvorstellungen andererseits. Eltern bitten für ihre Kinder um religiöse Unterweisung, aber es dauert nicht lange, bis die Kinder entdecken, daß die Eltern selber nicht glauben, was sie ihren Kindern gerne beibringen lassen möchten. Dazu kommt, daß jetzt viele Kinder aus Hin­du-, Sikh- und Moslemfamilien westliche Schulen besu­chen. Das macht das Problem auch nicht leichter, und Lehrer sollen nun „Religion“ lehren als einen Teil der Kultur und nicht, wie es richtig wäre, als Hinführung zur Wahrheit. Folge­richtig werden die Fragen nicht mehr zugelassen, die die Reli­gion an die „Kultur“ richten könnte, wie sie in den anderen Unterrichtsstunden vermittelt wird (natürlich nicht als Teil der „Kultur“, sondern als „Wesen der Din­ge“). Die moderne wis­senschaftliche Weltanschauung wird gelehrt als die wahre Dar­stellung des Wesens der Dinge, Religion hingegen wird gelehrt als Teilaspekt einer Kultur, der in verschiedenen Modellen an­geboten wird.

Zusammenfassung

Ich habe versucht, in den fünf Abschnitten des vorhergehenden Kapitels auf einige der weitreichenden Fragen hinzuweisen, die man stellen muß, wenn unsere moderne Kultur mit der bi­blischen Sicht vom Wesen der Dinge konfrontiert wird. Die Antwort auf diese Fragen muß von sachkundigen Menschen gegeben werden, die in den verschiedenen Fachgebieten und den betreffenden verschiedenen Aktionsbereichen zu Hause sind. Dieser kleine Aufsatz wurde geschrieben als eine Einla­dung an die Kirchen, sich über eine Reihe von Jahren dieser Mühe zu unterziehen. Das führt dann vielleicht schließlich zu einer größeren Tagung, bei der die Ergebnisse der Gruppenar­beit zusammengetragen werden können.

Mein Ausgangspunkt war die Einsicht, die ich für begründet halte und mit der ich nicht allein stehe, daß wir uns dem Ende eines 250 Jahre dauernden Zeitabschnitts nähern, in dem un­sere moderne europäische Kultur sich vertrauensvoll dem Rest der Welt als Fackelträger für menschlichen Fortschritt angebo­ten hatte. Angeregt durch Polanyi habe ich darauf hingewiesen, daß wir in einer Situation sind, vor der sich in einer ganz ähnli­chen Weise schon Augustinus gesehen hatte. Eine Kultur von einmaligem Glanz lag im Sterben. Sie hatte die Kraft zur Selbsterneuerung verloren. Was Augustinus damals anbot, be­ruhte nicht auf „selbstverständlichen“ Grundsätzen der klassi­schen Kultur. Es war ein neues Modell, ein neuer Rahmen für Verstehen und Erfahrung. Er beruhte auf der Tat Gottes, der in Jesus Mensch geworden war und dadurch Gottes Willen für alle Geschichte und jedes menschliche Wesen kundgetan und wirk­sam gemacht hat. Dieser neue Rahmen drückte sich aus in den beiden Dogmen von der Inkarnation und der Dreieinigkeit. Er war ein Geschenk, das man im Glauben empfangen konnte, und Ausgangspunkt für einen neuen Aufbruch zum Verstehen. Wir stehen heute, glaube ich, in einer vergleichbaren Situation. Sie ist natürlich nicht identisch mit damals. Von der Vergangenheit können wir lernen, daß wir niemals zu ihr zurückkehren kön­nen. Jede Art von Heimweh nach einer christianisierten Welt oder nach der Unschuld einer vortechnischen Zeit haben wir auszuschließen. Aber ich glaube, wir können dem Beispiel Au­gustins folgen, wenn wir willens sind, wagemutig und ohne Be­fangenheit unserer sterbenden Kultur den Verständnisrahmen anzubieten, der sich gründet auf das Werk Jesu, und unsere Zeitgenossen einzuladen, gemeinsam mit uns energisch zu ver­suchen, unsere Erfahrung im Licht und in der Kraft dieses Na­mens neu zu verstehen und zu verwerten.

Übersetzt aus dem Englischen von Gerhard Koslowsky. Erschienen 1985 im Aussaat- und Schriftenmissions-Verlag (Neukirchen-Vluyn).


[1] Der Titel eines Buches von W.E. Hocking, das erst 1956 veröffentlicht wurde.

[2] Vgl. Carl Becker, Die himmlische Stadt der Philosophen des 18. Jahrhunderts, 1932.

[3] a.a.O. S. 51 f.

[4] D’Alambert. Eléments de philosophie (1759), in Ernst Cassirer. The Philosophy of the Enlightenment, ET Princeton University Press, 1951.

[5] European Thought, 1680-1720.

[6] The Seventeenth Century Background, 1934, S. 10f.

[7] Der in dieser Hinsicht sehr wichtige Wechsel vom 17. zum 18. Jahrhundert wird von Cassirer wie folgt beschrieben: „Die von der Metaphysik des 17. Jahrhunderts entwickelten systematischen Konzepte sind noch fest in theologischem Denken verankert mit all ihrer Originalität und Unabhängigkeit. Für Descartes und Malebranche sowie für Spinoza und Leibniz gibt es keine Lösung des Problems der Wahrheit unabhängig von einer Lösung des Problems ‚Gott‘, weil Kenntnis des göttlichen Seins das höchste Prinzip von Erkenntnis ist, von dem alle anderen Gewißheiten abgeleitet sind. Jedoch wechselt im Denken des 18. Jahrhunderts das intellektuelle Schwerpunktzentrum seine Position. Die verschiedenen Felder der Wissenschaft, Naturwissenschaften, Geschichte, Rechte, politische Wissenschaften, Kunstgeschichte – ziehen sich schrittweise zurück von der Vorherrschaft und der Bevormundung durch die traditionelle Metaphysik und Theologie. Sie starren nicht länger auf die abstrakte Idee eines Gottes, um sich zu rechtfertigen und zu legitimieren; die verschiedenen Wissenschaften bestimmen nun selbst ihr Konzept auf der Basis ihrer eigenen, spezifischen Art. Die Beziehungen zwischen der Idee ‚Gott‘ und den Ideen von Wahrheit, Moral, Gesetz sind keineswegs dabei aufgegeben, aber die Art und Weise, wie sie aufeinander bezogen sind, verändert sich. Es findet gleichsam ein Austausch statt der Symbole, die für die Inhalte stehen. Was vorher Grundlage für andere Ideen war, kommt nun in die Lage, selbst begründet werden zu müssen. Was bisher anderen Konzepten zur Rechtfertigung diente, findet sich jetzt in der Position eines Konzepts, das selbst der Rechtfertigung bedarf. Schließlich ist sogar die Theologie des 18. Jahrhunderts von diesem Trend beeinflußt. Sie gibt den absoluten Vorrang, dessen sie sich früher erfreut hatte, auf; sie setzt keine Norm mehr, sondern unterwirft sich bestimmten Grundnormen, die aus einer anderen Quelle abgeleitet sind – ausgestattet mit Verstand als dem Inbegriff unabhängiger intellektueller Kräfte.“ (Cassirer, a.a.O., S. 163)

[8] Vgl. Peter Berger u.a., The Homeless Mind1973, Kap. 3, Excursus.

[9] Über die Revolution, 1963, Kap. 3.

[10] Vgl. Cassirer, a.a.O., S. 16.

[11] Siehe Gita Meta, „Karma-Cola“, 1980.

[12] Personal Knowledge, 1958, S. 256f.

[13] a.a.O. S. 266.

[14] A.a.O.,, S. 266.

[15] A.a.O., S. 268.

[16] A.a.O., S. 267.

[17] A.a.O., S. 267.

[18] The Open Secret, 1978, S. 31.

[19] Christianity and World Order, 1979, S. 80.

[20] Taitiriya Upanischad, II, 1-5.

[21] Grundsätzlich behandelt wurde dieses Thema von H. Berkhof, Christ and the Powers, ET 1962 Herald Press, Scottdale, Pa.

[22] E. Norden, a.a.O., S. 81.

[23] Die folgenden Ausführungen verdanke ich der Anregung von Paul Ricoeur, Essays in Biblical Interpretation.

Hier der Text als pdf.

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