Von Reinhold Schneider
Aufruf (Vorspruch)
Ein einiger Geist, ein einzig glutvoll Dringen
Erneuter Herzenskraft der großen Not
In Stolz und Demut läuterndes Gebot;
Ein reines Wort von allen Erdendingen:
Dein ist noch alles, würdest Du’s erringen,
Die Schuld bekennend, die Dein Herz umdroht
Und durch der Erde flammend Abendrot
Dich frei ins Licht, ins ungetrübte, schwingen.
Die Not will Größe; die der Geist vereint
Zerbrechen nicht, wenn nur sein glühend
Werben Der starren Seelen letzte Kälte taut.
Blick auf zum Stern, der furchtbar niederscheint!
Die sich nicht opfern, sinken oder sterben.
Dich ruft der Geist, der ewige Tempel baut.
24. 7. 1946
Wer aber Furcht hat, der ist nicht vollkommen in der Liebe. (1 Joh 4, 18)
Auf unser Land ist die Not in ihrer ganzen Wucht zurückgefallen, die von ihm ausgegangen ist. Wir müssen das Bewußtsein dieser Not vertiefen; in ihrem ganzen Umfange schildern können wir sie nicht. Was uns auch begegnen mag an Elend und Leid, ist nur ein einzelner Zug des unheimlichen Antlitzes, das wir nicht schauen können. Gefangenenheere liegen draußen in fremden Ländern, viele noch immer in unerreichbarer, verschleierter Ferne; die Krone der Städte ist gebrochen; die Bevölkerung zweier Provinzen wandert mit armer Habe an Trümmern vorüber; Flüchtlinge und Aufnehmende sind einander zur Last und lernen nur unter schwerer Mühe miteinander zu leben. Noch immer irrt verzweifeltes Suchen der auseinandergerissenen Menschen durch das Land; Unzählige finden den Weg aus der Trauer um geopferte Söhne und Gatten in den Tag und sein kaltes Gebot nicht mehr; noch ward ihnen keine Antwort gegeben auf die Frage nach dem Sinn der Opfer. Ein Abgrund von Leid ist in den Herzen der Trauernden aufgebrochen, den wir nicht ermessen können. Mit der Not um das Brot und den Raum, das Dach und das Feuer, der Not der Verlassenheit, mit einem jeden Schmerze verbündet sich die noch nicht recht erkannte Wahrheit, daß wir einen Sturz erlitten haben, der nicht seinesgleichen hat. Völlige Entmachtung und unerträgliche, unverwindliche Schande verschärfen das Leid, verkümmern eine jede Freude, beugen die Kraft, die helfen will. Als Gefahr über allen Gefahren droht eine Verdüsterung der Gemüter, gleichsam eine Verfinsterung der Luft, in der wir atmen und arbeiten sollen. Aber auch damit ist die Not noch bei weitem nicht bezeichnet. Ein Geschlecht wächst heran, das unter der Gewalt der Lüge betrogen worden ist um die echte Freude der Jugend, des Lernens, das rechte Bild der Welt. Jahr um Jahr konnte der Feind Unkraut säen. Wie sollten wir uns darüber wundern, daß die Saat aufgeht; daß in unzähligen Menschenseelen das ihnen eingesenkte Gut in entsetzlicher Bedrängnis ist und unter dem wuchernden Unkraut erstickt? Wir werden den Acker von heute auf morgen nicht reinigen, und am wenigsten verdienen diejenigen einen Vorwurf, in deren junge wehrlose Seele der verderbliche Samen geworfen worden ist. Und so wenig wie wir hoffen dürfen, heute oder morgen die Trümmer unserer Städte wegzuräumen, so wenig dürfen wir hoffen, in wenigen Jahren zertrümmerte Seelen wieder aufzubauen. Aus den Ruinen rinnt die Schwermut, die Verneinung und die Verzweiflung fort und fort ins Leben; so viele Tröstungen, die einstmals aufrichteten, vermögen nichts mehr. Und wenn sich vielleicht auch nur Wenige mit Ernst bemühen, zu erkennen, was wirklich geschehen ist und in welcher elenden, entwürdigten Gestalt unser Volk unter den Völkern erscheint, so dringt doch die Auswirkung dieser Entwürdigung in das ganze Leben ein. Mit den Bitten des Elends vereinen sich die Fragen der Ratlosen.
Die Macht der Lüge, die über uns geherrscht hat, ist wohl gebrochen, aber ihren Fluch hat sie uns zurückgelassen als das Gift der Uneinigkeit, der Selbsterniedrigung, des Hasses und Neides, einen Fluch, dessen Kraft noch wächst. Mangel und Schuld, Sorge und Not gehen durch das Land, alle Straßen sind für sie frei; verwirrte, geschlagene Geister öffnen ihnen die Tore, wo noch Tore stehen geblieben sind, oder sie kramen das schal gewordene Salz längst überwundener Lehren und Hoffnungen hervor, ohne zu merken, daß über ihnen die Sternbilder gewechselt haben und ein entsetzlicher Ernst gebietet. Denn während wir erst noch erfahren sollen, was der Feind gesät hat, und die Woge äußeren Elends schwillt – Alter hat kein Bett, auf dem es sterben darf, Jugend keinen Raum, wo sie gedeihen kann, redliche Arbeit langen Lebens ist um alle Ehre gekommen und empfängt zum Lohne ein Bettlerkleid –; während wir von der Not, die wir zu erkennen suchen, betäubt werden, befinden wir uns in einer Welt, die selber in äußerster Not ist. Mächte ballen sich und steigen als entsetzliche Wolkenbilder empor; es ist, als habe das grausige Gewitter des Krieges alle erhaltenden Kräfte zerrüttet, die Strömungen der Atmosphäre auf eine heillose Weise gestört. Uns ist die Freiheit der Entscheidung genommen; wir haben weder Fahne noch Namen, noch Ziel und Tat; was geschieht, müssen wir erleiden. Keine Hoffnung wäre törichter als die auf den Zusammenstoß der Gewalten über unserem Haupte; denn wir können nur Schlachtfeld werden. Jahr um Jahr haben wir es gehört, daß es besser sei, etwas Falsches zu tun als nichts, aber unsere Tat war Verderben. Nun handeln wir nicht mehr; es wird über uns bestimmt.
Und doch: wer spürte es nicht, daß eine ungebrochene Kraft im Volke ist, ein Wille zum Guten, zum Helfen! Wir müssen die Not erkennen in ihrer Unerbittlichkeit, und doch soll sie uns nicht so weit entmutigen, daß wir unser Grab suchen unter den Ruinen unserer Städte. Noch ist uns dieses Land gelassen unserer Liebe, unserer Verantwortung; alles Unheil, alle Verschuldung und Schande töten die Liebe zu unserer Erde, zu den Vermächtnissen des Geistes, zu den Menschen nicht. Und wo Liebe ist, da ist eine gewaltige Kraft. Schrecklicher als die Not ist die Herrschaft der Lüge gewesen; es gehörte zum Wesen dieser Herrschaft, daß sie sich mit Wohlstand umkleidete und mit der Blendung der Macht, mit einer Ordnung, die ihren Namen nicht verdiente, weil sie ohne Liebe war. In der Liebe liegt der erste Anspruch auf Dasein und Wirken. Wo sie sich meldet, da ist auch ein Recht, da kann ein größeres Recht wieder erworben werden. Echte Liebe kann nicht im Unrecht sein, nicht entrechtet werden. Es ist gewiß, daß die Not umfassende Maßnahmen fordert. Von ihnen zu sprechen fühlen wir uns nicht berufen. Sie müssen der Einsicht und Erfahrung, der genauen Kenntnis der Gegebenheiten und Mittel überlassen bleiben. Uns geht es um eine einzige Überzeugung: daß die Not andere Menschen, und das heißt nur die Erneuerung des eigentlich Menschlichen von uns verlangt. Keine Einrichtung, kein noch so wohl erwogener Plan werden ausreichen, wenn der Mensch nicht ein Geschenk hinzugibt aus seiner Herzenskraft, der unzerstörbaren Freiheit seines Opfermutes. Was auch unternommen werden mag: das eine ist gewiß, vollzogen werden muß es vom Menschen, der mehr leistet als ihm aufgetragen ist, vom Menschen, der sich unter der Gewalt des Leidens verwandelt hat. Mit dem Sein und Dasein, der Art zu denken, dem Verhalten zur Umwelt müssen wir beginnen. Wir werden dem Geschehen und seinem Gebote nur gerecht, wenn wir im Zusammenhang dieses Geschehens leben und versuchen, ihn unseren Mitmenschen zu erschließen. Wir dürfen nicht unsere Not allein sehen, wir müssen auch die Not sehen jenseits der Grenzen; wir dürfen niemals der Frage ausweichen, woher unsere Not kam. Den Flüchtlingen, die in unser Land strömen, wanderten andere voraus, die wir hinausgetrieben haben; wir haben geschwiegen zu ihrem Leid, und wenn wir heute nicht schweigen wollen, so müssen wir uns zuvor anklagen dieses verhängnisvollen Schweigens wegen. Unsägliches Leid ist dicht an uns vorübergegangen, Nacht für Nacht und Jahr für Jahr; wir sahen die Ausgestoßenen ohne Habe die verschlossenen Wagen besteigen, zur Fahrt in einen grausigen Tod – und wir blieben stumm; wir spürten die ohnmächtige Pein niedergetretener Völker und klagten nicht an. Es ist qualvoll, davon zu sprechen – und dies noch in der Stunde bitterster Not. Und doch ist in diesem Eingeständnis die einzige Hilfe, freilich eine Hilfe, die in Überwindungen errungen werden muß. Denn was wir erfahren, ist nicht sinnlos, und so wenig das Recht unumschränkt gebietet auf Erden, so mächtig auch das Unrecht ist, so waltet doch ein Zusammenhang zwischen Recht und Unrecht, und in diesem Zusammenhang stehen wir auch jetzt. Ihn zu erkennen, bedarf es allein des Mutes, unser Gewissen unnachsichtig zu befragen. Ist es nicht besser, diesen Zusammenhang sich einzugestehen als zu verbittern im Anblick gegenwärtiger Not? Hinter den Flüchtlingen erscheinen Ankläger, denen wir standhalten müssen; wir alle waren willentlich-unwillentlich in die Macht verstrickt, die Menschen ihrer Heimat beraubte, ehe unsere Landsleute heimatlos wurden.
Unrecht tilgt niemals Unrecht; kein Unrecht kann sich auf Unrecht berufen. Wir stehen im Leiden, nicht in der Verteidigung. Aber wo wir an Unrecht gemahnt werden und unser Unrecht erkennen, geht eine große Hoffnung auf. Wir können uns läutern: wir können in eine neue Beziehung zu den Menschen treten. Was wir nicht mehr gutmachen können an denen, die gestern in Nacht und Grauen an unserer Tür vorübergetrieben wurden, das können wir sühnen an denen, die heute vor unserer Tür stehen. Noch einmal: wir wissen es wohl, daß solche Erwägungen nicht erwünscht sind. Und doch können wir das Recht, das wir oftmals so bitter entbehren, nur wieder einsetzen im engsten und nächsten: in unserem eigenen Leben, unserem Denken und Tun. Wir selber müssen hell werden, wenn die Nacht ein klein wenig heller werden soll. Lernen wir die Zuversicht derer, die von Schuld und Sühne wissen, vom Erwähltsein, das darin besteht, daß wir entbehren und opfern dürfen für unermeßliche Verfehlung! Sühnende Liebe handelt über die Pflicht. Darauf aber kommt es an, daß mehr als die Pflicht getan werde. Denn die Not ist viel zu groß, als daß die Pflicht ihr noch steuern könnte. Es ist kein Hunger ohne Seelennot, und keine Gabe reicht hin, wenn die Liebe sie nicht bietet. Sie hat Unglücklichen gefehlt auf ihrem entsetzlichen Wege an die Stätte der Peinigung, unmenschlichen Todes; ihnen können wir nicht beistehen, aber wir wollen ihrer gedenken, bei einem jeden Opfer, einer jeden armen Liebestat. Die Not will, daß wir eins werden, daß wir »alle zusammen seien ein einziger Mensch«; und selbst wenn wir aus dem Zusammenhänge der Macht und der Ehre gerissen sind, so ist es doch nicht möglich, daß dieses unser Verwiesensein auf das Leid der Menschen, auf die Fortwirkung der an der Menschheit geschehenen Schuld aufgehoben wäre. Vergessen wir nicht, daß von Schuld nur gesprochen werden kann, wo dieser Zusammenhang besteht, und daß Sühne zu leisten ein heiliges Menschenrecht ist! Wird es behauptet und vollzogen, so muß es die anderen Rechte nach sich ziehen; sie sind schon in der Sühne bejaht und werden dem redlich Sühnenden zu irgendeiner Zeit wieder geschenkt werden.
Wir sind in die Grenzen unseres Landes gebannt und müssen es hinnehmen, wenn es uns – wie es wohl geschehen ist – verboten wird, vor der Welt, zur Welt zu sprechen. Unser sittliches Bewußtsein aber darf sich damit nicht bescheiden. Mitten in der furchtbaren Bedrängnis erweist sich die Wahrheit der Worte St. Augustins: »Wenn wir weit werden, wandelt Gott in uns.« Wir müssen weit werden: wir müssen wissen, daß dieses Leid, das wir sehen, ein Leid der mißhandelten Menschheit ist; sie kann nicht an einer Stelle der Erde erniedrigt werden, ohne am ganzen Leibe zu leiden; sie kann in uns nicht verzweifeln, verbittern, verkümmern, ohne in ihrem ganzen Leben zu erkranken. Sie hat kein Recht und im letzten Sinne keinen Grund, sich zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Orte aufzugeben; denn sie ist aufgerufen von Gottes Liebe zu einem einzigen, mächtigen, gläubigen Leben. »Und wenn Gott uns so sehr geliebt hat, so müssen auch wir einander lieben« (1 Joh 4).
Lieben heißt Wirken und Helfen; ihnen voraus gehen Glauben und Zuversicht. Wir müssen glauben an den Sinn der Not. Etwas kann durch sie besser werden als es vorher gewesen: es kann nur die Beziehung der Menschen untereinander sein, die gegründet ist auf die Liebe zu Gott. Die göttliche Liebe selbst hat es uns verheißen, daß, wer an sie glaubt, auch die Werke tun werde, die sie unter uns getan hat (Joh 14, 12); gelänge es uns, diese Worte zu erfüllen, so wird niemand ohne Hilfe sein. Dann wäre der Arzt der großen Not mitten unter uns, immer und überall. Hat der Erlöser die Menschheit in sich beschlossen, so bekennen wir uns zur Menschheit, indem wir uns zu ihm bekennen. Einmal müssen wir entbrennen, wenn von unserem Leben ein Feuer ausgehen soll in die verarmte, erstarrte Welt. Welche Gestalt sollte dieses Feuer in uns entzünden, wenn nicht die höchste, die jemals auf Erden gewandelt ist und den Namen »Mensch« auf wunderbar-unvergleichliche Weise erhöht und die Menschengestalt mit emporgenommen hat in die ewige Herrlichkeit? Je näher wir Christus kommen, um so besser werden wir helfen; in der Not werden wir ihm begegnen, und wo er uns begegnet, ruft er uns noch tiefer in die Not. Darin ist das ganze Geheimnis der Sinneswandlung, des erneuerten Menschentums beschlossen, die von uns gefordert werden, daß Christus lebe in uns; wir müssen es verstehen bis zu dem furchtbaren Ernste des Apostel Wortes: »Wer also weiß, Gutes zu tun, und es nicht tut, dem ist’s Sünde« (1 Jak 4, 17). Es ist Sünde, nicht zu beherbergen, nicht zu trösten, nicht um eine bedrohte Seele zu ringen wider den Bösen, nicht zu beten für die Kranken und Gebeugten. Vielleicht ist es schon Sünde, ohne Glauben, ohne Zuversicht zu sein.
Und es ist eine große Tat der mit Christus verbundenen Liebe, Zuversicht unter die Menschen zu tragen. Es ist kein Tod, der die verlassene, trauernde Seele nicht mit neuer Liebesmacht an die Ewigkeit binden möchte, keine Heimsuchung, in der nicht die Möglichkeit ist eines gnadenvollen Überwältigtwerdens durch das göttliche Walten, keine Gefahr, die den Glauben nicht seiner Vollendung entgegendrängte, keine Verletzung des Gewissens, die nicht mithelfen könnte, die Abkehr zu sprengen, mit der sich eine Seele umschlossen hat. Wir müssen nur den Mut haben zu der Wahrheit, daß, wenn unser Herz uns anklagt, Gott noch größer ist als unser Herz (1 Joh 3, 20). Wir müssen es lernen, groß von der Heimsuchung zu denken, auch wenn sie eine Heimsuchung ist der Schuldigen. Und wie ein Mensch, der zweifelt, ob Wahrheit sei, schon ein Wahres in sich hat, nach der Lehre Augustins – wie der um die Wahrheit wirklich Leidende nicht völlig außerhalb ihres Lichtkreises ist, so ist der am Leid der andern wirklich Leidende nicht getrennt von der göttlichen Liebe: leidet er doch daran, daß an einer bestimmten Stelle des Daseins die Liebe nicht getan wird, heilige Bande zerrissen sind, die Einswerdung nicht geschieht. Wo die Not wirklich eintritt, wo sie angenommen wird in ihrer Härte, da ist auch Notwende, der mögliche Anfang einer Umkehr der Menschen zu Gott, der Befriedung der Herzen.
Und also müssen wir ringen gegen die Verzweiflung. Wir müssen versuchen, sie aller Gründe zu berauben, die sie vorzubringen vermag. Denn erst in ihrem Siege läge der Untergang. Armut ist noch nicht Verderben; denn eben die Armen sind auserwählt zu Reichen an Glauben (1 Jak 2, 5). Aber die Armut muß von dieser Erwähltheit wissen: wir müssen sie ihr bezeugen. Und hat sie uns noch nicht getroffen, nicht heimgesucht, so müssen wir in der glaubensstarken Bereitschaft der Armut stehen. Unser Verhältnis zu den Gütern ist ein anderes geworden; zu oft hat uns der Tod gestreift, als daß wir noch besitzen könnten, wie wir einmal glaubten zu besitzen. Die Wurzeln sind gelöst. Nun sollen wir frei mit allem uns Anvertrauten schalten, in einem großen Sinne, indem wir antworten der großen Not. Es ist ein unschätzbares Geschenk schwerster Jahre, daß uns der Charakter unseres Daseins als eines Bildes und Gleichnisses wieder aufgeschlossen ist: wir alle wurden daran erinnert, daß Güter und Rang nur wie leichte Kleider verliehen wurden auf dem großen Welttheater, ehe unser Leben begann; was wir haben, bedeutet nicht viel, unendlich viel bedeutet, was wir damit tun. Es dürfte keinen Augenblick geben, da wir vergessen, wie nahe wir dem Fallen des Vorhangs sind: dann werden die Kleider uns abgefordert, und die Seele, die sich in ihnen verbarg, wird vor ihrem Richter stehen. Aber wir haben weniges so Ergreifendes erlebt in diesen Jahren als die Bewährung, die von vielen schon geleistet worden ist. Wir sahen Menschen, die als reiche Verwalter ehrwürdigen Vätererbes gelebt und nach bestem Willen und Wissen gewirkt hatten, zu Bettlern werden über Nacht: sie traten arm, aber als Begnadete aus dem so lange bewohnten, betreuten Haus, des äußersten Wertes bewußt, der unter der ertragenen Schickung nur edler wird Ehre allen, die uns gelehrt haben, unverwindlichen Verlust zu ertragen und frei zu sein!
Immer ist es das Wichtigste, daß ein Schmerz nicht vergeblich fragt, ein Geprüfter nicht verzweifelt. Wir müssen lernen, auf diese suchenden Stimmen zu hören, von denen die Nacht erfüllt ist. Wo Beterhände sinken wollen, müssen stärkere Hände schon bereit sein, sie zu stützen. Wir müssen es wieder und wieder sagen, daß es nicht der Erdenruhm ist, der das Bild eines Gefallenen in die Ewigkeit erhebt; daß vielmehr all seine Ehre und die Glorie seines Endes verborgen ist in Gott. Wir müssen im Leiden der Gefangenen das große Opfer sehen, das Stunde um Stunde für uns gebracht wird, auf daß wir frei werden von allem, dessen unser Gewissen uns bezichtigt, und wir dürfen nicht aufhören, den Gefangenen zu sagen, daß sie frei sind in der Entscheidung zu ihrem Leiden, in dem unsäglich schweren Entschluß zur Geduld. Die Entscheidung gegen unsere Tat ist gefallen; das Leiden ist unser Teil. Jetzt muß es sich zeigen, wie stark das Leiden ist. Indem wir mit einander und für einander leiden, Alle für Alle, werden wir eins. Solche Leidenskraft eines Volkes ist nicht vergeblich da und wird nicht untergehen.
Wir haben nicht anzuklagen, aber die Gewissen sollen wir erwecken. Die Anklage, die erschüttert und erhebt, erwache im Innern eines Jeden! Über allem und allem aber, was wir wirken, stehe der Friede! Es muß sich einmal zeigen im ganzen Ernste des Wortes, daß die Sanftmütigen das Erdreich besitzen und durch den Besitz hindurchgehen, ohne sich in seine Fesseln zu verfangen. Es muß sich auch zeigen, daß eine Versöhnung möglich ist über alles Begreifen. Wir vergessen das Wort eines Besuchers nicht: »Es gibt eine Gemeinschaft derer, die gelitten haben.« Machen wir diese Gemeinschaft ganz wahr! Wer das Zeichen des Leidens an diesen Jahren auf der Stirne trägt, ist uns nahe; es muß eine Möglichkeit geben, mit ihm zusammen zu wirken und sei es auch nur im Schweigen und Tragen, im Dulden und Hoffen. Es muß sich auch erweisen, daß es einen Trost gibt, der vor einer jeden Verbitterung bewahrt. Wir beklagen das Unrecht, weil es Unfrieden wirkt, aber wir glauben, daß es am sichersten überwunden wird von der Leidenskraft, die nicht richten, nur helfen, nur versöhnen will. Unbeirrbarer Wille zum Frieden, der heilig ernste Anfang eines ganz reinen Lebens, wahrhaftige Reue setzen sich langsam ins Recht. Sie teilen sich der Erde mit geheimer Segensmacht mit und werden ihren Gang beruhigen, ihre Unrast stillen.
Das ist ja im Grunde alles, was wir aufbringen können und zu geben haben: ein ernstes christliches Leben, der Beginn des Verwandeltwerdens in das die Menschheit durchdringende Leben des Herrn. Das erste Zeugnis dieses Lebens ist das Einssein, der Wille, eins zu werden. Wo wir uns überwinden um dieser Einheit willen, siegt die Gnade über die Not der Zeit, ist die Not an uns und andern zur Gnade geworden. Der Weg kann nur mitten durch das Leid führen, steht es doch in geheimnisvoller Entsprechung zur Macht der Schuld. Vielleicht, wenn wir den Mut haben, das Meer zu betreten, wird es sich teilen und uns eine Straße gewähren, wo wir keine erwarten konnten, und die Wolkensäule, auf der himmlisches Feuer liegt, schreitet uns voran.
Solche Stärke im Dulden, solcher Mut zur Not, solche Zuversicht als dreifacher Ausdruck der einen Liebe zu den Menschen und Gott müssen allem Beginnen vorausgehen. Der Friede muß in uns sein. Aber Gott ist der Friede. So ist der Friede die größte Macht. Wagen wir, uns für ihn zu entscheiden gegen jedes scheinhafte Versprechen der Auflehnung, des Widerstandes! Echtes Leid ist stumm; aber es trägt seine unverlierbare Würde; es zeugt für sich selbst. Echte Liebe kommt ihm gleich. Sie strömt unfehlbar in das rechte Wirken über, wenn sie nur fest in sich gegründet, wenn sie gebunden ist an Christus, unsern Herrn. Sie beide können und müssen die Zeit gewinnen. Das Leid ruft zu Gott zurück: die Liebe verkündet ihn in unserer Mitte.
Wir wollen nicht für einen Augenblick das Dringendste verkennen: das tägliche Brot soll heute verteilt werden; der Winter darf nicht über Unbeschützte kommen. Aber am Brot brechen wurde der Herr erkannt. Am Brotbrechen werden die erkannt werden, die sein sind, in denen Er lebt. Wir haben nur karges Brot zu geben. Aber wir werden erkannt werden am Brotbrechen: daran, ob wir helfen aus Christi Geist, Christi Leben. Und dies ist die unwiderrufliche Entscheidung. Diese Zeit ist uns gegeben, daß wir sie auskaufen: daß wir in ihr das Böse überwinden durch das Gute. Es ist uns in dieser Zeit das Zeugnis aufgetragen, daß die Lehre, zu der wir uns bekennen, aus Gott ist, und dieses Zeugnis besteht darin, daß die Lehre eins macht mit derselben Kraft, die den Sohn mit dem Vater einte. »Denn durch einen Geist sind wir alle zu einem Leibe getauft« (1 Kor 12, 13). Diese Wahrheit will jetzt und hier, durch uns, Geschichte werden, wie sie es einst geworden ist. Und also kommt es darauf an, daß der Mensch sich bereite, ehe er wirkt, auf daß er wirke aus dem rechten Geist; zu leicht könnte er sonst über seiner Geschäftigkeit, im Streit mit der Not, ihre Gnade versäumen. Ist aber der Mensch eingegangen in den »Schmelztiegel der Einheit« und gleichsam zermalmt worden wie die Weizenkörner sich zermalmen lassen, ehe unter Gottes Gewalt das Heilige, das »Denkmal der Passion« sich aus ihnen bildet, so werden die Heimgesuchten ihn nicht vergeblich bitten. Und ist er selber zum Bettler geworden, so hat er das Wort, das die Armen reich macht und ihres Erwähltseins, ihrer Würde versichert … Streben wir diesem zermalmten, wiedergeborenen Menschen zu mit unserer ganzen Kraft, bereiten wir in ihm die Werke vor, die vollbracht werden müssen: eine Hilfe über alle Kraft, nur nicht über die Macht der Gnade!
Unser Hilferuf an die Welt aber sei unser Entschluß zur Sühne, unsere Geduld, unser unbeirrbares Streben nach dem Frieden, auf dem die Verheißung ruht! Dieser Hilferuf hat anfangs wohl eine schwache Stimme und wird leicht vom Lärm der Erde übertäubt. Aber diese Stimme wächst von Tag zu Tag; sie ist ja der Ausdruck eines Lebens, zur Wirkung berufener Wahrheit. Und wo immer draußen dasselbe Leben gelebt wird, wo der Herr ist unter zweien oder dreien, da muß diese Stimme gehört werden. Über die Gräber der Gemordeten hinweg, über den Tod der Heimatlosen, die Trauer der Mütter, das ganze entsetzliche Unrecht der Zeit, das wie ein fressendes Feuer ausbrach aus unserem Lande, die armen, vergifteten Seelen, die verwirrten suchenden Geister, die Gedanken des Todes finden sich Ruf und Antwort zusammen, stellt, vom Bekenner zum Bekenner, Gottes Reich sich her. Diesen Glauben haben wir, und wir sprechen ihn mit aller Entschiedenheit aus.
Auf den Geist ist die Welt angewiesen. Und der Herr ist der Geist. Des Geistes erste Botschaft ist Zuversicht. Die Verirrungen des Geistes haben in den Abgrund geführt. Der Geist, der aus der Wahrheit ist, zur Wahrheit hindurchfand, und sei es in Todesnot, dieser Geist allein führt aus dem Abgrund heraus. Der Geist kann und darf nicht verzweifeln; ein einziges Wort ist ihm verweigert: die Ankündigung des Untergangs. Stehen uns für morgen oder übermorgen Begegnungen mit Völkern, mit ihrem Erbe, der Botschaft ihres Glaubens bevor, so wollen wir uns heute auf die Begegnung bereiten, indem wir uns sammeln in uns selbst und stark in uns selbst werden. Begegnungen finden nur statt zwischen Person und Person, nicht zwischen einem Untergehenden und einer Übermacht. Suchen wir unsere innerste Not auszukämpfen, ehe wir wieder in die Welt gerufen werden! Der Geist muß die zweifelnden, verzweifelnden Geister sehr ernst nehmen, – ernster, als er sie bisher genommen hat. Er muß mit aller Abkehr ringen: nicht um zu siegen, sondern um zu befreien. Der Christ will nicht siegen über seine Feinde: er will sie retten. Wir träumen nicht. Ringsum glüht Haß, schweigt dumpfe Verzweiflung, lästert die Abkehr, wächst die Not, steigt die Gefahr. Aber wir glauben. Noch ist kein Tag gekommen, an dem uns die Furcht völlig niedergerungen hat. Ihre Herrin ist die Liebe. Doch die Liebe ist nicht unsere Kraft. Es ist Gottes Kraft in uns. Und nur wenn wir Christus mit ganzer Seele suchen, bis wir uns verlieren an ihn und er in uns ersteht und uns eins macht, werden wir helfen können. Beten wir um den Geist, den Er uns verheißen hat, daß Er uns in sich verwandelt, gehen wir noch einmal, aber ohne Vorbehalt, ins Innerste: dann werden wir unversehens in die Wirklichkeit gelangen, in den Ansturm der Schmerzen, und wir werden in ihm beraten und begnadet sein. Über alles Begreifen hinaus wirkt das »beharrliche Gebet des Gerechten« (1 Jak 5, 16): das Gebet, das den Menschen in Gottes Wirken hineinzieht und ihn zum Boten und Werkzeug, zum Opfer und Zeugen, zum Versöhner und Retter macht.
Ursprünglich erschienen als Heft im Caritasverlag, Freiburg 1947.
Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 1978, S. 195-208.