Dietrich Ritschl über Martin Luther King, Jr.: „Martin Luther King, Jr. hat sich nie so verstanden, als legitimiere er seine Forderungen, Tröstungen und Voraussagen durch die Stärke seiner eigenen Analysen und Einsichten. Er wußte sich gedrängt und geführt, das zu sagen, was er aussprach und lebte. So haben ihn auch seine näheren und ferneren Anhänger verstanden. Die Wucht seiner Aussagen hatte etwas Prophetisches, daran zwei­felten auch die nicht, die nur teilweise mit ihm einig waren.“

Martin Luther King, Jr.

Von Dietrich Ritschl

Er wurde 39 Jahre alt, wie Dietrich Bonhoeffer. Er war klein von Statur, stark und muskulös. Er bewegte sich ruhig und sprach langsam, mit tiefer Stimme. Er schenkte dem Gesprächspartner seine volle Aufmerksamkeit, wirkte aber distan­ziert und doch zugleich gütig. Er schien fernere Ziele hinter den Aufgaben der Gegenwart zu sehen. Die ovalen Augen blickten kritisch. Er hatte eine große Ausstrahlung des Willens. Aber seine Anhänger sollten ihre Stuben und Büros nicht mit seinem Bild schmücken, denn er wollte gehört werden. Er war ein Mann des Wortes, wenngleich ausgestattet mit einem instinktiven Sinn für symbolische Handlungen.

Martin Luther King, Jr. – als er sechs Jahre alt war, nahm sein Vater aus Bewunderung für den Reformator den Mittelnamen Luther an – war ein ameri­kanischer Intellektueller und zugleich ein frommer Sohn der schwarzen Bapti­stenkirche in den Südstaaten. Er kam aus dem wohlhabenden Mittelstand der Schwarzen in Atlanta, hatte einen patriarchalischen Pfarrer als Vater und eine studierte Mutter. Seine Frau, sein Bruder und seine Schwester, der Großvater – alle ungemein fleißige und gescheite Menschen mit besten Qualifikationen aus College und Universität; sie waren Erfolgsmenschen. Und doch wußte er, was in den Herzen der Armen vorgeht und er kannte ihre Sprache. Ausgestattet mit den Reichtümern der Bildung als erfolgreicher Absolvent akademischer Institutio­nen der Nordstaaten, blieb er doch immer ein Südstaatler. Letztlich verstand er sich mit dem problematischen Lyndon B. Johnson besser als mit seinem wahren Freund und Protektor John F. Kennedy.

King wurde wider Erwarten Anführer des größten gewaltfreien Protests und Boykotts Amerikas. Er nahm Gandhis Ideen auf und besuchte deswegen 1959 Indien. Er hatte eine breite geschichtliche Bildung und wußte sie rhetorisch geschickt anzuwenden. Er konnte profunde psychologische und soziologische Zusammenhänge erkennen und nutzen. Aber all dies wurde weit überschattet durch die Tiefe der Einsichten in die Geschichten und die Prophetie des Alten und in das Liebesgebot des Neuen Testaments. Hier war die Quelle seiner Orientierung und der Grund seiner Hoffnung. Einzig könnte man daneben noch – an zweiter Stelle – seine nahezu religiöse Bewunderung der Grunddogmen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung nennen, die er ungezählte Male vol­ler Respekt und in der Erwartung ihrer Erfüllung zitierte. Die weltberühmte Rede vom »Traum«, die er 1963 in Washington auf den Stufen des Lincoln Memorial vor 250 000 Menschen hielt, ist eine einzige Synthese von biblischer Verheißung und amerikanischer Urhoffnung. King war ein überzeugter, demü­tiger Christ und zugleich ein leidenschaftlicher Amerikaner. An der Schande beider, seiner Kirche und seines Landes, trug er schwer. Die europäischen Kommentatoren, die ihn in den siebziger Jahren nicht selten zum Revolutionär modernen Stils oder zum marxistisch orientierten Analytiker seiner Gesellschaft umstilisieren wollten, verfehlten ihn ganz und gar.

Im folgenden soll diese kurze Skizze etwas breiter ausgeführt werden.

I. Der Intellektuelle

Man darf nie übersehen, daß King, der in wenigen Jahren der moralische Führer des »anderen Amerika« wurde, der – entgegen der Prognose der gängigen Theologien in Amerika und Europa – eine ganz schlichte Frömmigkeit der Nachfolge Jesu in die Herzen von Millionen von Menschen der westlichen Welt pflanzte, ein ungewöhnlich begabter und besessener Intellektueller war. Er umgab sich mit Büchern, ehe er lesen konnte. Schon als Kind arbeitete er unermüdlich mit Gedanken. Den Geschwistern und dem autoritären Vater bot er in Situationen der Krise heftigen Widerstand mit Argumenten und Zielstrebig­keit. In der Schule überspringt er zweimal eine Klasse und beginnt als Fünfzehn­jähriger mit dem College-Studium, drei Jahre jünger als die anderen. Beim Abschluß als Neunzehnjähriger schreibt er in einem Aufsatz über Bildungsziele, über ›education‹, noble Ziele, nicht Mittel zu Zielen, seien die eigentliche Aufgabe. »Oft frage ich mich, ob ›education‹ ihr Ziel wirklich erfüllt. Die Mehrzahl der sogenannten Gebildeten denkt weder logisch noch wissenschaft­lich. Auch die Presse, die Lehrer, die öffentlichen Redner und wohl auch die Prediger vermitteln uns keine objektiven und unparteiischen Wahrheiten. Ein Hauptziel von ›education‹ ist nach meiner Ansicht die Befreiung der Menschen aus dem Morast der Propaganda. ›Education‹ muß uns fähig machen zur Sichtung des Gegebenen, zur Unterscheidung von Wahrem und Falschem, Wirklichem und Unwirklichem, Fakten und Fiktionen … sie muß uns befähigen zum intensiven und kritischen Denken. Aber … Intelligenz allein ist nicht genug. Intelligenz plus Charakter – das ist das Ziel wahrer ›education‹. Vollstän­dige ›education‹ vermittelt nicht nur Konzentrationskraft, sondern würdige Ziele solcher Konzentration. Darum wird eine breite ›education‹ nicht nur auf akkumuliertes Wissen der Menschheit abzielen, sondern vor allem auf die gesammelte Erfahrung sozialen Lebens.« (Bennett, 29)

Als College-Student wollte er zunächst Advokat oder Arzt werden. Der Pfarrer­beruf lockte ihn wenig, weil er gegenüber den emotionalen Gottesdiensten der schwarzen Baptisten eine Ablehnung empfand. Ihn störte das »amen-ing«, die ständigen Zwischenrufe während der Predigt, ihn, der später ein Meister im rhythmischen Hervorlocken von Zwischenrufen wurde! Auch der Fundamenta­lismus im Umgang mit der Bibel, bei schwarzen sowie weißen Baptisten der Südstaaten ungebrochen, befremdete ihn. Aber schon als Achtzehnjähriger änderte er die Ziele. Nach einer Probepredigt in der großen Ebenezer-Kirche in Atlanta, der Gemeinde seines Vaters, wird er zum Prediger ordiniert und als »Assistant Pastor« eingestellt.

Seine Gesuche um Zulassung bei mehreren großen theologischen Fakultäten des Nordens werden positiv beantwortet. Er entscheidet sich für das Crozer Seminary in Pennsylvania. Nun steht er im Wettbewerb mit weißen Studenten. Die Geborgenheit des traditionsreichen Neger-Colleges in Atlanta, Morehouse College, wird Vergangenheit. Er bewährt sich glänzend, besucht neben den theolo­gischen Kursen in Crozer auch philosophische Seminare an der nahen University of Pennsylvania, liest Sartre, Heidegger und Jaspers, entwickelt eine Kritik an Hegels Phänomenologie, kommt unter den Einfluß der Bücher Walter Rauschenbuschs und Reinhold Niebuhrs. Gastvorträge des Pazifisten A.J. Muste und auch des Rektors der schwarzen Howard Universität, Mordecai Johnson, über Gandhi und die mögliche Nutzung seiner Ideen und Taktiken in Amerika, begeistern ihn und lassen ihn in die Stadt eilen »und ein halbes Dutzend Bücher über Gandhis Leben und Werk kaufen«.

Im Juni 1951 graduiert er zum »B. D.« und erhält als bester Student einen Preis für weiteres Studium zur Promotion. Alle Türen stehen ihm offen, Yale und die anderen großen »graduate schools«. Er wählt die Universität von Boston wegen der beiden Vertreter der Philosophie des Personalismus, Edgar S. Brightman und L. Harold DeWolf, und wegen der geographischen Nähe zu Harvard und den dortigen Möglichkeiten in der Philosophie. DeWolf wird sein Doktorvater. Bis zum Ende seines Lebens bleibt King dem Personalismus treu. Er neigt dazu, auch strukturelle Probleme in der Gesellschaft personalistisch anzugehen. Das mußte später zu Kollisionen mit dem radikaleren Flügel der »black power«-Bewegung führen. Aber King versucht in allen Krisen mit Hilfe der Niebuhrschen Unterscheidung zwischen »moral man« und »immoral society« die Angriffe abzuwehren und bei all seiner beißenden Kritik an Strukturen und Institutionen den Mitmenschen nicht zu versachlichen und zum Feind werden zu lassen.

In der Dissertation ging es um die Gotteskonzepte bei Tillich und bei Henry Nelson Wieman, einem der Vorväter der heute so weit diskutierten Prozeßtheologie. Die Arbeit hielt ihn bis 1955 in Atem, als er zum Ph. D. in systematischer Theologie promoviert wurde. Er klärte hier sein eigenes Verständnis vom personalen Wesen Gottes. Die Arbeit war mehr als eine akademische Übung: Wie manche amerikanische Theologen, so kannte auch er keine Gründe für eine Trennung zwischen wissenschaftlichem Erkennen und persönlichem Glauben.

Diese Einheit hat für uns Europäer etwas Naives und zugleich etwas Beschämen­des an sich. Coretta Scott, die graduierte Studentin der Musik am Konservato­rium Neuenglands, mit der er sich in diesen Jahren verlobte, kann darum in ihrer Biographie ganz überzeugend sagen, sie sei mit Martins Erkenntnissen über Gott ganz und gar einig, auch sie glaube, daß wir, die wir unser Leben Gott anheimgestellt haben, Instrumente in seinem Kampf – seinem ›glorious struggle‹ – gegen die Kräfte des Bösen in der Welt seien. (Coretta King, 92). In langen Nächten tippte sie seine Dissertation, als King schon eine Pfarrstelle an der Dexter Avenue Kirche in Montgomery angenommen hatte, die er an Wochenen­den von Boston aus versorgte. Er hatte Coretta gegen die anfängliche Skepsis des autoritären Vaters geheiratet, der andere Frauen für den Sohn auserkoren hatte. King war von schwarzen und auch von weißen Mädchen umschwärmt gewesen, aber er erklärte Coretta schon beim ersten Treffen, sie passe genau in sein »Bild einer Ehefrau«. Beglückt sagte er beim ersten Gespräch: »Du kannst ja denken!«, als er sinnvolle Reaktionen auf seine historischen und politischen Äußerungen erhielt. Coretta wurde bald ein beliebtes Mitglied der Großfamilie und ließ sich – zunächst zaudernd – von Vater King durch Untertauchen aufs neue taufen. Sie sollte eine echt baptistische Pfarrfrau an der Prestigegemeinde in der alten Hauptstadt der Konföderation der Südstaaten, Montgomery in Alabama, werden.

Er war ein amerikanischer Intellektueller. Er zitierte spontan Aristoteles, Augu­stin und Thomas oder Victor Hugo und Max Weber, aber als er in der Peterskirche in Rom war, kniete er nieder und betete. Er analysierte kühl und scheinbar emotionslos eine Krisensituation, aber er rief den aufgebrachten Massen unter Lebensgefahr und unter der Kritik der Anhänger zu: »Liebe soll unser regulatives Ideal sein, ›liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen !‹… wenn wir darin versagen, wird unser Protest als sinnloses Drama auf der Bühne der Geschichte enden … trotz der Mißhandlungen, die wir erfahren haben, wollen wir nicht bitter werden und unsere weißen Brüder hassen … Wie Booker T. Washington sagte: ›Laß keinen Menschen dich so hinunterreißen, daß du anfängst ihn zu hassen!‹ … Wenn Ihr mutig protestiert, aber mit Würde und christlicher Liebe, dann werden die Historiker, wenn in zukünftigen Generatio­nen die Geschichtsbücher geschrieben werden, innehalten und sagen: ›Da lebte ein großes Volk – ein schwarzes Volk – das neuen Sinn und neue Würde in die Adern der Zivilisation einfließen ließ.‹ Das ist unser Test, das ist unsere überra­gende Verantwortung.« (Bennett, 66)

II. Der Pfarrer des »Black Puritanism«

King war ein guter Tänzer, als Student und auch noch als Doktorand in Boston. Aber als Baptistenpfarrer tanzt man nicht mehr öffentlich – er tat es nur noch einmal bei einem Empfang nach der Verleihung des Friedensnobelpreises. Er trank keinen Alkohol. Er lebte in den Geschichten der Bibel. Seine Sprache war getränkt mit Anspielungen auf Gestalten und Sätze der Bibel. Darin war er wie die anderen schwarzen Prediger. Aber er drängte anderen die Bibel nicht auf, er setzte sie sozusagen bei allen Mitmenschen voraus. Er konnte ganze Reden oder gar Predigten halten ohne direkten Bezug auf Bibelstellen. Er konnte auch – wie es sonst nur die klassischen »Liberalen« taten – Jesus, George Washington, Abraham Lincoln und Dr. Mays, seinen Präsidenten vom Morehouse College, zusammen und sozusagen auf gleicher Ebene »zitieren«. Er konnte das darum, weil seine Autorität nicht aus dem direkten Bezug auf Schriften – und seien es biblische Schriften – stammte, sondern aus dem Geist, in dem er sprach. Nicht nur bei sich selbst, auch bei Gruppen und Arbeits-Teams hatte er ein Gespür für die Anwesenheit oder das Fehlen des Geistes. In seiner letzten Lebenswoche, in der tiefen Depression über das Scheitern des gewaltfreien Protestes in Memphis, verließ er die Mitarbeitersitzung, weil der Entscheid, ob er ein zweites Mal nach Memphis fahren sollte, nicht zustande kam. »Du kannst wieder hereinkommen, der Heilige Geist ist im Raum«, rief ihn einer der Freunde. Und nach dem letzten Interview seines Lebens, als neues Feuer der Depression Herr geworden war, fragte der Reporter: »Weshalb sind Sie so verändert seit gestern abend? Haben Sie mit jemand gesprochen?«. »Nein, ich habe mit niemand gesprochen. Ich habe mit Gott geredet.« (Bennett, 238; Coretta King, 311).

Das Gespür für das Fehlen und für die Gegenwart des Geistes, bei sich und unter seinen Freunden, das ist ein echtes Merkmal schwarzer – und man muß hinzufü­gen: puritanischer – Frömmigkeit. »Black Puritanism« ist vielleicht eine befremdliche Wortverbindung. Sie ist aber in vollem Ernst und sicher mit gutem Grund gebraucht worden. Nicht der Buchstabe, nicht eine Leitidee oder ein Dogma ordnen die Gedanken und Emotionen, sondern Gottes Geist selber. Daraus fließen erst in zweiter Instanz Prinzipien und Lebenshaltungen: Absti­nenz von Alkohol, absolute Ehrlichkeit auch im Kleinen, Konzentration auf Familienleben und Kinder, Demut im Urteil über Mitmenschen und ständige Bereitschaft zum Gebet.

Keine persönliche Anschuldigung hat King so tief gekränkt wie die üble Kam­pagne im Februar 1959, als ihm Steuerhinterziehung für die Jahre 1956 und 1958 vorgeworfen, ja, als er deswegen sogar verhaftet wurde. Er war zutiefst getrof­fen: »Wer wird mir jetzt noch glauben?«. Er hätte sich niemals für moralisch perfekt gehalten, aber eine Tugend hätte er: Ehrlichkeit. Es war keine geringe Sensation, als er Ende Mai von einer ganz aus Weißen bestehenden Jury freigesprochen wurde.

King war immer makellos gekleidet, zumeist dunkel. Nur zu Hause soll er sportliche Kleider getragen haben, als er mit den Kindern spielte oder am Flügel sich an Beethoven versuchte, wie seine Frau das nannte. Er kam mit ungewöhn­lich wenig Schlaf aus, las vor dem Frühstück eine Stunde in philosophischen und theologischen Büchern. Für die Vorbereitung einer normalen Sonntagspredigt brauchte er »mindestens 15 Stunden«. Meist predigte er nicht über, sondern anhand eines Bibeltextes. (Exegetisch streng einem Text folgende Predigten sind in amerikanischen Kirchen selten, auch in den konservativen Kirchen der schwarzen Kultur.) Die großen öffentlichen Reden hielt er oft nach kurzer Vorbereitung. Es finden sich in ihnen ungezählte Wiederholungen und die Wiederaufnahme ganzer Passagen aus alten Ansprachen. Die Tradition, Reden oder auch Predigten mehrmals oder nur wenig verändert vorzutragen, ist in Amerika weit verbreitet. Auch John Wesley sei sein Leben lang mit wenig über 40 Predigten ausgekommen, wird oft zur Erklärung gesagt. Die alten Worte müssen neu mit Geist erfüllt werden, darum geht es! Es ist interessant, daß King von sich selber sagt, er habe auch beim Wechsel von schwarzen zu mehrheitlich weißen Auditorien seine Reden kaum verändert. Anhand der Texte läßt sich aber nachweisen, daß sich doch Unterschiede finden. Inhaltlich bietet fast jede Rede Mahnungen und Analysen zu vier zentralen Themen: Gewaltfreiheit – Änderung der Sozialstrukturen – persönliche und kollektive Verantwortung – Preis für das Erringen der Freiheit. Dieser cantus firmus durchzieht auch die späten Reden Kings über das Armutsprogramm und gegen den Vietnam-Krieg. Er bestimmt auch die kirchlichen Predigten, soweit wir dies aus mündlichen Berichten schließen können.

In den Jahren, als King Pfarrer an der Dexter Avenue Kirche in Montgomery war, ging er fleißig den Alltagsaufgaben in der Seelsorge, dem Unterricht und den Krankenbesuchen sowie den Beerdigungen nach. Das wurde mit den anwachsenden Verpflichtungen zu Vortrags- und Kommissionsarbeiten, meist außerhalb der Stadt, immer schwieriger. In diese Zeit fallen Jahre mit über 200 auswärtigen Vorträgen, eine Reise nach Ghana, der Besuch bei Nehru in Indien, Verhaftungen und Gefängnisstrafen, Besuche beim Vizepräsidenten im Weißen Haus und bei Dwight Eisenhower, der Mordversuch durch eine schwarze, geistesgestörte Frau in Harlem … Nach fünfeinhalb Jahren nimmt King unter Tränen Abschied von der Dexter Gemeinde und zieht mit der Familie nach Atlanta, wo er in der Ebenezer Kirche von Martin Luther King Sr., Co-Pastor mit dem Vater wird. Er war entlastet, aber die tägliche Gemeindearbeit begann ihm zu fehlen.

Die Ironie seiner persönlichen Situation in den Vereinigten Staaten ist augenfällig (wenngleich von Europäern oft mißverstanden): Der schwarze Puritaner, Intel­lektuelle und zugleich emotionale Baptistenpastor, genießt den Schutz, ja die persönliche Freundschaft der Präsidenten, besonders Kennedys und Lyndon Johnsons, die nationale Presse steht auf seiner Seite, die Gewerkschaftsführer; die National Guard wird zu seinem Schutz aufgeboten, ja, städtische Polizeiwa­gen schützen ihn auf den Wegen von den Flugplätzen zu den Vortragshallen und -Stadien; er erhält ungezählte Ehrungen, Ehrendoktorate und Einladungen, das Fernsehen kooperiert bei den Reportagen über die Protestmärsche, seine Bücher finden reißenden Absatz – doch zugleich wird er in den Städten des heimatlichen Südens an Leib und Leben bedroht und geschändet, wird verhaftet und geschla­gen, seine Freunde mit Knüppeln und scharfen Hunden angegriffen. Etliche fanden den Tod. Bombenanschläge wurden die Regel, Gerichtsurteile spotteten jeder Rechtsauffassung, Verleumdungen waren an der Tagesordnung. Einerseits schickte John F. Kennedy die FBI, ihn zu beschützten, andererseits höhnte der mächtige FBI-Direktor J. Edgar Hoover, Dr. King sei »der größte Heuchler und Lügner im Land« und beauftragte seine Agenten, ihn zu beschatten. King sei nicht nur von kommunistischen Kräften beeinflußt und gesteuert, er sei auch sexueller Promiskuität überführt. Als im Herbst 1983 der Kongreß nach langen Diskussionen beschloß, jeden dritten Montag des Jahres zum Nationalfeiertag im Gedenken an Martin Luther King, Jr. zu erklären, hatten zuvor einige Ultrakonservative die verleumderischen Akten Edgar Hoovers hervorgeholt. Sie wurden ihnen von einem Senator als ein »Haufen Schmutz« vor die Füße geworfen. Beherrscht nun Kings Geist den Kongreß, nicht mehr die gespensti­sche Macht Hoovers?

Oft verstehen Europäer nur schwer die Ambivalenz der amerikanischen Situa­tion, die tiefen Spannungen zwischen einzelstaatlicher Autonomie und Bundes­regierung, zwischen progressiven, mehr oder minder intellektuell gebildeten Amerikanern, und der retardierenden Kraft der Millionen von konservativen Bürgern des unteren Mittelstandes einschließlich dem, was man in Europa Arbeiterschaft nennt. Denn es gilt: Je niedriger der soziale Hintergrund und je provinzieller die Ausrichtung, umso stärker der Widerstand gegen die Rassenin­tegration.

III. Der Führer der gewaltfreien Aktion

Von der sprichwörtlichen Demut und Ergebenheit der Kinder und Enkel der Negersklaven in Amerika, vom Hinhalten des Nackens unter Schlägen und Demütigungen, vom unterwürfigen Weggeben der letzten Persönlichkeitsrechte bis hin zu einem gewaltsamen Aufstand, dem Zurückschlagen aus Haß und dem Töten der Unterdrücker aus Rache, ist gewiß ein weiter Weg. Noch weiter aber ist der Abstand zwischen der traditionellen und passiven Ergebenheitshaltung und dem Mut zum gewaltfreien Widerstand, den Martin Luther King vom denkwürdigen Bus-Streik in Montgomery bis zum Ende seines Lebens ohne Beirrung predigte und vorlebte. Nicht nur Weiße mißverstehen diese Distanz und verkennen den gewaltigen Unterschied zwischen Passivität und gewalt­freiem Widerstand, auch viele Schwarze haben damals und heute Kings Predigt und Kings Leben mißdeutet als eine von indischen Gedanken verführte Neuauf­lage der alten Demutsideale der Schwarzen. Ja, mehr noch, die Weißen lernten zumeist Kings Bewegung der »nonviolence« entweder fürchten oder bewundern, je nach ihrer Grundhaltung in der Rassenfrage überhaupt. Die Schwarzen aber bildeten für King und seine schwarzen und weißen Mitstreiter zwei gefährliche Fronten der kritischen Ablehnung: Die alte Generation der Schwar­zen neigte noch mehrheitlich dem Lebensstil des gütigen Schlafwagenschaffners, des väterlichen Kellners, der von den weißen Kindern geliebten Mummy oder dem langsamen und liebenswerten Landarbeiter zu; die junge Generation prote­stiert gegen diese Tradition mit derselben Wucht, mit der sie die Fesseln der Segregation ablegen will, sie will Rache nehmen, ist bereit, Sachwerte und wohl auch Menschenleben zu zerstören. Kings Bewegung stand die ganzen Jahre über zwischen mehreren Fronten. Für den gedanklichen und ethischen Inhalt der Bewegung waren die Angriffe der Schwarzen weit gefährlicher als die der Weißen.

Aber auch Martin und Coretta King kannten die Erfahrung der Wut. Furchtbar sind die Berichte ihrer Ängste und kindlichen Wut, als ihre Väter gedemütigt wurden. Aus Konkurrenzangst und Rassenhaß wurde Corettas Vater Obie (Obadiah) Scott um seinen Verdienst betrogen, seine Sägemühle von Weißen abgebrannt, ein Onkel gelyncht und am Baum als Zielscheibe für Schießübungen aufgehängt. Der Vater wollte wohl auch einmal zum Gewehr greifen und die Mutter schlug einen Weißen mit dem Stock. Aber, als ein weißer Freund zu Obie Scott ins Haus zum Essen kam, wagte der Vater doch nicht, mit ihm an einem Tisch zu sitzen: »›No‹, my father said. ›No, I wouldn’t feel right doing it.‹« (Coretta King, 35). Gütig und bibelkundig waren diese Vertreter der alten Generation. Schärfer reagierte Kings Vater, Daddy King, der neben seiner großen Gemeinde noch allerhand geschickte Finanzinteressen verfolg­te und auch anderen zu ihrem Recht zu verhelfen wußte. Er widersprach dem Polizi­sten, der ihn mit »boy« und Mrs. King mit »girl« anredete.

Diese Eltern hatten ihre Kinder zwar gelehrt, die Rassentrennung sei böse und gegen Gottes Willen, und jeder Mensch, schwarz oder weiß, sei so gut wie sein Charakter. »Do right«, »folge Deinem Gewissen, Du bist ebenso viel wert wie jeder andere Mensch!« Immer wieder werden Ermahnungen und Tröstungen dieser Art berichtet. Aber diese Grundhaltung ist kein Ferment für eine Veränderung der Gesellschaft, sie bietet keinen Explosivstoff für die Überwindung des Rassismus. Diese negative Einsicht war die erste Lektion, die in der Bewegung des gewaltfreien Widerstandes gelernt werden mußte.

Gandhis Lehre vom gewaltfreien Widerstand hatte King auf dem Weg über Bücher erreicht. Er war tief beeindruckt, zweifelte aber, ob die Methode auf die Verhältnisse in den USA angewendet werden könnte. »Als ich tiefer in die Philosophie Gandhis eindrang, nahmen meine Zweifel an der Macht der Liebe allmählich ab, und ich erkannte zum erstenmal, was sie auf dem Gebiet der Sozialreform ausrichten konnte. Ehe ich Gandhi gelesen hatte, glaubte ich, daß die Sittenlehre Jesu nur für das persönliche Verhältnis zwischen einzelnen Menschen gelte. Das ›dem biete die andere Backe dar‹, ›liebe deine Feinde‹ galt meiner Meinung nach nur dann, wenn ein Mensch mit einem anderen in Konflikt geriet. Gandhi war wahrscheinlich der erste Mensch in der Geschichte, der Jesu Ethik von der Liebe über eine bloße Wechselwirkung zwischen einzelnen Menschen hinaus zu einer wirksamen sozialen Macht in großem Maßstab erhob.« (King, 1964, 74). Aus diesen Sätzen ist ersichtlich, wie King die Liebe Gottes in Jesus als Inhalt der Methode der Gewaltlosigkeit Gandhis versteht, und darum kann er auch öfter sagen, der Gehalt seiner non violence Bewegung käme von Christus, die Methode von Gandhi. Es ist freilich fraglich, ob Gandhis Methode von der satyagraha tatsächlich in gerader Linie vom Neuen Testament her zu verstehen ist. Gandhi war stark beeinflußt nicht nur von alter indischer Weisheit, sondern auch von dem bekannten Buch von Henry D. Thoreau, das 1849 unter dem Titel »Widerstand gegen zivile Regie­rung« und später unter dem Titel »Die Pflicht des zivilen Ungehorsams« (»The Duty of Civil Disobedience«) erschien. Es ist zudem auch strittig, ob nicht ein Unterschied gemacht werden muß zwischen »gewaltfreier« und »gewaltloser« Aktion. Gewaltfrei ist eine Aktion oder ein Protest, wenn niemals, auch nicht als ultima ratio, die Anwendung von Gewalt in Betracht gezogen wird. Gewalt­los ist ein Protest, wenn vorerst keine Gewalt eingesetzt werden soll. Manche Äußerungen Kings und seiner Anhänger gehen dahin zu vermuten, daß Gandhi eher die Methode der Gewaltlosigkeit als die Idee der totalen Gewaltfreiheit vertreten habe.

Während des bedeutenden Bus-Streiks in Montgomery, der im Dezember 1955 begann und fast ein Jahr dauerte, war die Idee der Gewaltfreiheit Gandhis noch nicht wirklich einflußreich. Sie nahm aber in dieser Zeit immer größeren Platz im Denken Kings ein. Er schreibt darüber ausführlich. Eine seiner systemati­schen Charakterisierungen zählt folgende grundlegende Bestandteile der Lehre vom gewaltfreien Widerstand auf:

  • Gewaltfreier Widerstand ist keine Methode für Feiglinge, keine Methode träger Passivität. Der Ausdruck »passiver Widerstand« erweckt oft den fal­schen Eindruck des Nichtstuens. Die Methode ist körperlich passiv, aber geistig stark aktiv. Es wird ständig versucht, den Gegner zu überzeugen, daß er im Unrecht ist.
  • Der Gegner soll nicht vernichtet oder gedemütigt werden, sondern es soll seine Freundschaft und sein Verständnis gewonnen werden, die Frucht ist »eine neue innige Gemeinschaft, während die Folge der Gewalttätigkeit tragische Verbitterung ist«.
  • Die Methode ist gegen die Mächte des Bösen gerichtet, nicht gegen Personen, die das Böse tun. Das Böse soll vernichtet werden, nicht die Menschen, die dem Bösen verfallen sind.
  • Wer nach der Lehre des gewaltfreien Widerstandes lebt, ist bereit, Demüti­gungen zu erdulden, ohne sich zu rächen, Schläge hinzunehmen, ohne zurückzuschlagen. »Vielleicht müssen Ströme von Blut fließen, ehe wir unsere Freiheit gewinnen, aber es muß unser Blut sein«, sagte Gandhi seinen Landsleuten. King hat diesen Ausspruch oft wiederholt. (King 1964, 79).

Im Laufe der Jahre wird diese Lehre von King mit immer tieferen biblischen Inhalten gefüllt. Das Wort »Freiheit«, »Freedom now«, wird zum zentralen Hoffnungsinhalt der ganzen Bewegung, King selber wird ihr Symbol. Er und die Seinen erleben schon im Kampf und in den Niederlagen den Beginn dieser Freiheit.

Ohne eine Organisation hätte die Anwendung der gewaltfreien Methode nur sporadisch und charismatisch hier oder dort eingesetzt werden können. Aber im Januar 1957 wird die SCLC, die Vereinigung der Christlichen Führer in den Südstaaten gegründet, und King wird als Leiter der Organisation gewählt. Von ihr gingen nun alle Aktionen der nächsten Jahre bis zu Kings Tod aus. Mit einiger Vorsicht lassen sie sich in zwei Gruppen aufteilen, die zeitlich durch einen Neuanfang im Jahr 1965 voneinander unterschieden werden können. Von 1957 bis 1965 beherrschte der »Kreuzzug für Bürgerrechte« mit der breiten Anwen­dung der Methode der »sit-ins« in Restaurants sowie die »Freedom-rides« durch gemischte Gruppen von Schwarzen und Weißen in öffentlichen Verkehrsmitteln das Feld. Ein Teil dieser Aktion war auch die große Demonstration in Albany/Georgia im Dezember 1961, die aber fehlschlug, weil es zu brutalen Ausschrei­tungen der Polizei kam, die von vielen Anhängern der Bewegung mit Gegenge­walt beantwortet wurden. King proklamierte einen »Tag der Reue«. Die Aktio­nen wurden daraufhin auf »Gebetswachen« beschränkt. Sie dienten der Medita­tion und der Aufklärung der Jugendlichen und anderer Schwarzer über Sinn und Ziel der gewaltfreien Aktionen. Von zentraler Wichtigkeit war die große Aktion zur Registrierung von Schwarzen bei den politischen Wahlen. Alte Gesetze sahen gewisse Minimalvoraussetzungen vor, etwa die Fähigkeit des Lesens und Schreibens, um am demokratischen Wahlprozeß teilnehmen zu können. Die Mehrheit der Schwarzen ist unter entstellter Verwendung dieser Vorschriften über Jahrzehnte von der Teilnahme an den Wahlen abgehalten worden. Nun wurden tausende von schwarzen und weißen Helfern in die ländlichen Gebiete und auch in die Städte des Südens entsandt, um den Schwarzen beim Registrie­ren zur Hand zu gehen. In Zahlen ausgedrückt ist der Erfolg dieser Aktion nicht sehr groß gewesen, aber die psychologische Wirkung war ungeheuer. Die Aktionen dieser Jahre kulminierten in dem großartigen »Marsch auf Washing­ton« im August 1963, als die ganze Nation wahrnehmen konnte, mit welcher Disziplin und innerer Begeisterung eine viertel Million Anhänger der Lehre vom gewaltlosen Widerstand Massenveranstaltungen durchzuführen wußten. Hier hielt King seine berühmte Rede »I Have a Dream«, deren Vision offenbar von ihm frei formuliert worden ist:

»… Ich weiß wohl, daß manche unter Euch hierhergekommen sind aus großer Bedrängnis und Trübsal. Einige von Euch sind direkt aus engen Gefängniszellen gekommen … Ihr seid die Veteranen schöpferischen Leidens. Macht weiter und vertraut darauf, daß unverdientes Leiden erlösende Qualität hat. Geht zurück nach Mississippi, geht zurück nach Georgia, geht zurück nach Louisiana, geht zurück in die Slums und Ghettos der Großstädte im Norden in dem Wissen, daß die jetzige Situation geändert werden kann und wird. Laßt uns nicht Gefallen finden am Tal der Verzweiflung. Heute sage ich Euch, meine Freunde, trotz der Schwierigkeiten von heute und morgen habe ich einen Traum. Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum. Ich habe einen Traum, daß eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben: ›Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: daß alle Menschen gleich erschaffen sind.‹ Ich habe einen Traum, daß eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia diese Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich habe einen Traum, daß sich eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt. Ich habe einen Traum, daß meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. … Ich habe einen Traum, daß eines Tages in Alabama … kleine schwarze Jungen und Mädchen die Hände schütteln mit kleinen weißen Jungen und Mädchen als Brüder und Schwestern. Ich habe einen Traum, daß eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und unebene Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen. Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück. Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, die schrillen Mißklänge in unserer Nation in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu verwandeln. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, zusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, zusammen für die Freiheit aufzustehen, in dem Wissen, daß wir eines Tages frei sein werden. Das wird der Tag sein, an dem alle Kinder Gottes diesem Lied eine neue Bedeutung geben können: ›mein Land, von dir, du Land der Freiheit, singe ich. Land, wo meine Väter starben, stolz der Pilger, von allen Bergen laßt die Freiheit erschallens Soll Amerika eine große Nation werden, dann muß dies wahr werden. So laßt die Freiheit erschallen von den gewaltigen Gipfeln New Hampshires. Laßt die Freiheit erschallen von den mächtigen Bergen New Yorks, laßt die Freiheit erschallen von den hohen Alleghenies in Pennsylvania. Laßt die Freiheit erschal­len von den schneebedeckten Rocky Mountains in Colorado. Laßt die Freiheit erschallen von den geschwungenen Hängen Californiens … Wenn wir die Freiheit erschallen lassen – wenn wir sie erschallen lassen von jeder Stadt und jedem Weiler, von jedem Staat und jeder Großstadt, dann werden wir den Tag beschleunigen können, an dem alle Kinder Gottes – schwarze und weiße Menschen, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken – sich die Hände reichen und die Worte des alten Negro Spiritual singen können: »Endlich frei! Endlich frei! Großer allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!‹«

Das Jahr 1963 war entscheidend gewesen. King hatte aus dem Gefängnis in Birmingham seinen großen Antwortbrief an acht Kirchenmänner geschrieben, die ihn zwar nicht lieblos, aber ohne Verständnis kritisiert hatten. Die Integra­tion der Universität von Alabama war durch Präsident Kennedy erzwungen worden, Medgar Evers, ein wichtiger Führer in Mississippi, war ermordet worden; am 22. November geschah der Mord an Präsident Kennedy. Als die Nachricht kam, sagte King: »This is what is going to happen to me also. I keep telling you, this is a sick society.« (Coretta King, 244) Im Sommer 1964 ist King im Weißen Haus anwesend beim Inkraftsetzen des civil rights act, durch den ein wichtiger Neuanfang erreicht worden war, gewiß nicht ohne den starken Einfluß und Druck der Bewegung des gewaltfreien Widerstandes. Von nun an beginnt sich Kings Aufmerksamkeit mehr und mehr den Nordstaaten und den erschreckenden Verhältnissen in den Slums der Großstädte zuzuwenden. Er verbindet das Problem der Rassentrennung zunehmend mit seinen Einsichten in die ökonomischen Spannungen und großen Ungerechtigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Seine Ziele und seine Methode haben sich nicht geändert. Sein Thema aber hat sich verbreitert.

IV. Der Prophet und Märtyrer

Die 2. Hälfte der 60er Jahre brachte zwei entscheidende Neuerungen. Die Vereinigten Staaten boten das erschreckende Bild wachsender Armut und Ver­elendung in den Großstädten, verfallener Schulsysteme auf dem Land, korrupter Politik in den Einzelstaaten, aber auch opferbereiter Intellektueller und Politiker auf der »überstaatlichen« Ebene. Amerika verlor Respekt unter den Verbünde­ten im Westen. Straßenschlachten, Brutalitäten der Polizei, Überfälle und Aufstände beherrschten das Bild. Die Großbrände in Watts, Newark und Detroit waren Signale der Zerstörungswut der Schwarzen in ihren Ghettos. Sie hatten genug von der Rede von »Integration« und »schwarz-weißen Komitees«. Die Gerichtshöfe hatten gesprochen und hatten wirklich Neues eingeleitet, aber man wollte keine Worte sehen, sondern Taten. Die Eingliederung in die Welt der Weißen, die so schrecklich versagt hatten, konnte nicht mehr das Ziel sein. Die Sehnsucht nach Integration wich einem neuen Kampf um die Identität des Schwarzen. (Ritschl, 1969, 131 ff.) Jetzt soll der amerikanische Schwarze Selbst­respekt, Stolz und echte Würde lernen. Er soll nicht nur vollen Anteil an der ökonomischen und politischen Macht Amerikas haben, er soll selbst eine eigene Machtgruppe darstellen. Ganz wesentliche Anteile der Geschichte der Schwar­zen in den USA werden kritisch betrachtet oder verneint. Dabei werden auch die starken christlichen Komponenten scharf kritisiert. Die »black-power-Bewegung« entsteht. Auf ihrem radikalen Flügel siedeln sich Führer der Schwarzen an, die eine mythologische Geschichte der schwarzen Rasse konstruieren, um den heute Leidenden neue Identität und echten Stolz einzuflößen. Es entsteht auch die Gruppe der »Black-Muslems«, die eine in wenigen Jahren sich entfal­tende Ideologie islamischer Rechtsvorstellungen und -werte in eine legendäre Geschichte der Schwarzen hineinprojiziert. Dies war die eine Neuerung in den Jahren seit 1965.

Das andere Ereignis war der immer brutaler und sinnloser werdende Krieg in Vietnam. Die Schwarzen unter den Soldaten waren überproportional repräsen­tiert und wußten noch weniger als ihre Kameraden, wofür sie kämpfen und sterben sollten. Der Krieg wurde immer teurer und – entgegen marxistischer Interpretation – wurde diese Entwicklung Anlaß zu starker Kritik am Krieg überhaupt und an den Kürzungen in den sozialen Bereichen im Bundeshaus­halt.

King setzte sich mit beiden Entwicklungen intensiv auseinander. Er hielt zahlrei­che Reden in kritischer Auseinandersetzung mit der »black-power-Bewegung«. Aber nie, ohne eine letzte Solidarität und ein tiefes Mitleiden mit allen Schwarzen auszudrücken. Zahlreiche Aufsätze spiegeln die Auseinandersetzung wider (z. B. King 1969, 1974). Wie hätte er die Suche nach Identität ablehnen können, da sie doch von Anfang an ein großes Ziel seiner Lehre des gewaltfreien Widerstandes war? Er distanzierte sich auch nicht vom Ziel, den Schwarzen Anteil an der »Macht« Amerikas zu gewähren. Aber er wollte »Macht« unter keinen Bedingungen mit »Gewalt« verwechselt sehen. »Black-power« darf nicht bedeuten, daß die Schwarzen in ihrer Suche nach neuer und fester Identität sich nun doch zu Gewaltakten hinreißen lassen. Aber die Gewalt war schon ausge­brochen in den Aufständen und Zerstörungen in den Großstädten. King erkannte, daß die Probleme in den Städten des Nordens von den traditionellen Rassenproblemen der Südstaaten verschieden waren. Er bemerkte auch zuse­hends die ökonomischen Faktoren in der Entstehung des Elends und Hasses. Die steigende Arbeitslosigkeit fand immer stärker seine Aufmerksamkeit. Gegen Ende seines Lebens hatte er mit Unterstützung der Bundesregierung sein riesiges Programm für die Armen Amerikas geplant und ins Rollen gebracht. Die Wochenzeitschrift »Look« brachte nach seiner Ermordung das eben von ihm formulierte Memorandum zur Erklärung und Rechtfertigung dieser gewaltigen Kampagne. Noch entscheidender aber war Kings berühmte Rede vor dem Gebäude der Vereinten Nationen am 4. April 1967, genau ein Jahr vor seinem Tod. Hier machte er die Mitarbeit in der Bürgerrechtsbewegung ethisch abhän­gig von der Teilnahme an Protesten gegen den Vietnam-Krieg. Damit brachte er viele der Liberalen in eine ernsthafte Krise. Theologische Gründe hatten ihn zu dieser Verknüpfung gezwungen. Die »Liberalen« (freilich ein schillerndes Sam­melwort) waren nun genötigt, sich zu entscheiden: Wollten sie weiterhin in Verfolgung alter amerikanischer Ideale, gestützt durch den höchsten Gerichts­hof und die Bundesregierung, ihren Kampf gegen die rassistischen Regierungen der Einzelstaaten weiterführen und zu Vietnam schweigen? Oder waren sie bereit einzusehen, daß beide Probleme unlösbar miteinander verbunden sind als zentrale Manifestationen der ganzen Menschenrechtsproblematik! Mußte bisher ein Anhänger der Bürgerrechtsbewegung des gewaltfreien Widerstandes bereit sein, Schläge, Schande und Gefängnis auf sich zu nehmen, weil er die Gesetze und Bestimmungen des Einzelstaates oder die Stadtverordnungen im Namen höherer Rechtsprechung übertreten hatte, so mußte er nun auch die höhere Rechtsprechung und die Entscheidungen der Bundesregierung kritisieren und ihnen gegenüber Ungehorsam erweisen. Damit war Kings alter Gedanke, den er unter Hinweis auf Augustin schon seit Jahren bedacht hatte, aufs neue relevant geworden: Ein verantwortlicher Mensch muß den Gesetzen und der Regierung nur so lange gehorchen, als er die Gesetze und die Regierung als gut erkennen kann. Daß damit freilich eine ganz zentrale Frage der Ethik und der politischen Philosophie radikal aufgeworfen war, wußte King von allem Anfang an. Nun war also die Einsicht, auch die Bestimmungen der Bundesregierung seien durch eine höhere Gerechtigkeit der Kritik unterworfen, offen ausgesprochen und zur Entscheidungsfrage geworden. Die einzigartig biblische Grundhaltung gegen­über Unterdrückern und Ausbeutern, die Kings Bürgerrechtsbewegung kenn­zeichnete, wurde nun auch auf die politischen und militärischen Feinde ange­wendet. Niemals kann es letztlich um die Vernichtung von Feinden gehen. Sozialer und militärischer Friede müssen unbedingt und ohne Abstriche als Integration verschiedener Kräfte, als Komplementarität sich widersprechender Meinungen, aber als Manifestation zwischenmenschlicher Solidarität verstanden werden. King war das Symbol der Bürgerrechtsbewegung geworden, wenn auch von seiner Monopolstellung zu Beginn der 60er Jahre viel abgebröckelt war. Aber er wurde nun zusätzlich das Symbol der Friedensbewegung in Amerika. Im Grunde ist er das bis heute geblieben.

Martin Luther King, Jr. hat sich nie so verstanden, als legitimiere er seine Forderungen, Tröstungen und Voraussagen durch die Stärke seiner eigenen Analysen und Einsichten. Er wußte sich gedrängt und geführt, das zu sagen, was er aussprach und lebte. So haben ihn auch seine näheren und ferneren Anhänger verstanden. Die Wucht seiner Aussagen hatte etwas Prophetisches, daran zwei­felten auch die nicht, die nur teilweise mit ihm einig waren. Es gibt bewegende Zeugnisse von versuchten und auch mißglückten Versöhnungsgesprächen zwi­schen den Führern der »black-power« und King. Niemals ist von diesen Män­nern in Zweifel gezogen worden, daß sie mit jemand im Gespräch waren, der sich nicht selbst und auch nicht durch die Massen legitimierte. Sein Tod am 4. April 1968 besiegelte diese Berufung.

Quellen

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Martin Luther King, Jr.: Why We Can’t Wait. New York 1964 (dt.: Warum wir nicht warten können. Frankfurt 1965).

Martin Luther King, Jr.: Where Do We Go from Here: Chaos or Community? New York 1967 (dt.: Wohin führt unser Weg? Chaos oder Gemeinschaft. Frankfurt 1968).

Martin Luther King, Jr.; The Trumpet of Conscience. New York 1967 (2. Aufl. 1968, mit einem Vorwort von Coretta King; dt.: Aufruf zum zivilen Ungehorsam. Düsseldorf-Wien 1969).

Martin Luther King, Jr.: Testament der Hoffnung. Letzte Reden, Aufsätze und Predigten. Eingeleitet und übersetzt von H. W. Grosse. Gütersloh 1974.

Darstellungen

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Berger, P. L., Neuhaus, R. J.: Protestbewegung und Revolution, oder Die Verantwortung der Radikalen. Radikalismus in Amerika (Engl. Garden City, N. Y. 1970). Frankfurt 1971.

Garrow, D. J.: Protest at Selma. Martin Luther King, Jr. and the Voting Rights Act of 1965. Yale 1979.

Grosse, H.: Die Macht der Armen. Martin Luther King und der Kampf um soziale Gerechtig­keit. Hamburg 1971.

Italiaander, R.: Martin Luther King. Berlin 1968.

Lewis, D.: King – A Critical Biography. New York 1970.

Oates, S. B.: Martin Luther King, Kämpfer für Gewaltlosigkeit. 1984.

Presler, G.: Martin Luther King. Hamburg 1984.

Raines, H.: My Soul is Rested. Movement Days in the Deep South Remembered. New York 1977.

Ritschl, D.: Zur Negerfrage in den amerikanischen Südstaaten. Berlin 1962.

Ritschl, D.: Kampf um Identität statt Sehnsucht nach Integration. Eine neue Phase im nordamerikanischen Rassenproblem. In: Rasse, Kirche und Humanum. Hg. von K.-M. Beckmann. Gütersloh 1969, 131-149.

Schulke, F.: Martin Luther King, Jr. A Documentary. Montgomery to Memphis. New York 1976.

Scott King, C.: My Life with Martin Luther King, Jr. New York-Chicago-San Francisco 1968 (dt.: Mein Leben mit Martin Luther King. Stuttgart 1970).

Steffani, W.: Martin Luther King: Theorie und Praxis gewaltfreier Aktion. In: Macht von unten. Hg. von Th. Ebert–H.-J. Benedict. Hamburg 1968, 9-35.

Quelle: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 10,2: Die neueste Zeit IV, Stuttgart: Kohlhammer 1986, S. 324-338.

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