Dietrich Bonhoeffers theologisches Gutachten über Staat und Kirche: „Die Verweigerung des Gehorsams in einer bestimmten geschichtlichen, politischen Entscheidung der Obrigkeit kann ebenso wie diese Entscheidung selbst nur ein Wagnis auf die eigene Verantwortung hin sein. Eine geschichtliche Entscheidung geht nicht in ethische Begriffe auf. Es bleibt ein Rest: das Wagnis des Handelns. Das gilt für die Obrigkeit wie für den Untertanen.“

Theologisches Gutachten. Staat und Kirche[1]

Von Dietrich Bonhoeffer

1. Begriffliches

Der Begriff des Staates ist dem Neuen Testament fremd. Er ist antik–heidnischen Ursprungs. An seine Stelle tritt im Neuen Testament der Begriff der Obrigkeit. Staat bedeutet geordnetes Gemeinwesen, Obrigkeit ist die Macht, die die Ordnung schafft und aufrechterhält. Im Staatsbegriff sind Regierung und Regierte zusammengefaßt, im Begriff der Obrigkeit sind allein die [507] Regierenden gemeint. Der Begriff der Polis, der für den Staatsbegriff konstitutiv ist, steht mit dem Begriff der Exousia in keinem notwendigen Zusammenhang. Die Polis ist für das Neue Testament ein eschatologischer Begriff, die künftige Stadt Gottes, das neue Jerusalem, das von Gott beherrschte himmlische Gemeinwesen. Die Obrigkeit ist nicht wesentlich auf die irdische Polis bezogen, sie kann über diese hinausgreifen (wie sie auch in der kleinsten Gemeinschaftsform des Vater–Kind–, Herr– Knecht–Verhältnisses vorhanden ist). Es ist also in dem Begriff der Obrigkeit keine bestimmte Form des Gemeinwesens, keine bestimmte Staatsform enthalten. Obrigkeit ist von Gott geordnete Vollmacht, weltliche Herrschaft in göttlicher Autorität auszuüben. Obrigkeit ist Stellvertretung Gottes auf Erden. Sie ist nur von oben her zu verstehen. Obrigkeit geht nicht aus [508] dem Gemeinwesen hervor, sondern sie ordnet das Gemeinwesen von oben her. Wenn es exegetisch richtig sein sollte, sie als Engelmacht anzusehen, so wäre damit auch nur ihre Stellung zwischen Gott und der Welt bezeichnet. Theologisch ist nur der Begriff der Obrigkeit, nicht der des Staates verwertbar. Dennoch kommen wir in der konkreten Betrachtung um den Staatsbegriff natürlich nicht herum.

Im Begriff der Kirche haben wir, besonders wo seine Beziehung zur Obrigkeit bzw. zum Staat geklärt werden soll, zu unterscheiden zwischen dem geistlichen Amt und der Gemeinde bzw. den Christen. Das geistliche Amt ist die von Gott geordnete Vollmacht, geistliche Herrschaft in göttlicher Autorität auszuüben. Es geht nicht aus der Gemeinde, sondern aus Gott hervor. Während das weltliche und das geistliche Regiment streng [509] zu unterscheiden sind, sind die Christen doch zugleich Bürger, und die Bürger wiederum stehen, ob glaubend oder nicht, zugleich unter dem Anspruch Jesu Christi. So ist das Verhältnis des geistlichen Amtes zur Obrigkeit ein anderes als das der Christen. Dieser Unterschied ist zur Vermeidung dauernder Mißverständnisse im Auge zu behalten.

2. Die Begründung der Obrigkeit

A. Aus der Natur des Menschen

Die Antike, besonders Aristoteles, begründet den Staat aus dem Wesen des Menschen. Der Staat ist die höchste Vollendung des Vernunftwesens der Menschen, ihm zu dienen ist höchster Zweck menschlichen Lebens. Alle Ethik ist politische Ethik. Tugenden sind politische Tugenden. Diese Begründung des Staates ist in ihrem Prinzip von der katholischen Theologie übernommen worden. Der Staat geht aus der menschlichen Natur hervor. Die Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen wie das Herrschaftsverhältnis gehören zur Schöpfung. Der Staat erfüllt innerhalb des Natürlich–Schöpfungsmäßigen die Bestimmung des menschlichen Wesens, er ist die „höchste Entfaltung des natürlichen Gemeinschaftswesens“ (Schilling, Moraltheologie II, Seite 609). Diese aristotelische und thomistische Lehre findet sich in etwas modifizierter Form in der anglikanischen Theologie. Sie ist aber auch in das moderne [510] Luthertum eingedrungen. Der Zusammenhang zwischen natürlicher Theologie und Inkarnationstheologie bei den Anglikanern (der übrigens von den jungen Anglokatholiken in seiner Bedenklichkeit jetzt klar durchschaut wird und durch eine theologia crucis korrigiert wird) eröffnet die Möglichkeit einer eigenartigen natürlich–christlichen Begründung des Staates. Das moderne Luthertum hat auf dem Wege über Hegel und die Romantik den natürlichen Staatsbegriff in sich aufgenommen. Der Staat ist hier die Erfüllung nicht des allgemein–menschlichen, vernünftigen Wesens, sondern des Schöpfungswillens Gottes im Volk. Staat ist wesentlich Volksstaat. Das Volk vollendet ein gottgewolltes Schicksal im Volksstaat. Es kommt hier auf die Inhalte im einzelnen nicht an. Der antike Staatsbegriff lebt in den Gestalten des Vernunftstaates, des [511] Volksstaates, des Kulturstaates, des Sozialstaates und schließlich auch und entscheidend: des christlichen Staates weiter. Der Staat ist der Vollender bestimmter gegebener Inhalte, ja er wird in letzter Zuspitzung dieser Lehre zum eigentlichen Subjekt dieser Inhalte, also des Volkes, der Kultur, der Wirtschaft, der Religion. Er ist „der wirkliche Gott“ (Hegel). Allen diesen Lehren ist gemeinsam das Verständnis des Staates als Gemeinwesen, durch das der Obrigkeitsbegriff nur schwer und auf Umwegen gewonnen wird. Im Grunde muß ja dann auch die Obrigkeit aus dem Wesen des Menschen abgeleitet werden, und es wird daher schwierig, sie zugleich als die Zwangsgewalt zu verstehen, die sich gegen den Menschen kehrt; denn eben in einer Zwangsgewalt unterscheidet sich die staatliche Obrigkeit wesentlich von der freiwilligen Über- und Unterordnung, die es in jedem Gemeinwesen gibt. Wo immer der Staat aus dem geschaffenen Wesen des Menschen hergeleitet [512] wird, wird der Obrigkeitsbegriff aufgelöst und von unten her rekonstruiert, auch dort, wo man dies gar nicht will. Wo der Staat zum Vollender aller menschlichen Lebens- und Kultur-gebiete wird, büßt er seine eigentliche Würde, seine spezifische Autorität als Obrigkeit ein.

B. Aus der Sünde

Die Reformation hat im Anschluß an Gedanken Augustins den antiken Staatsbegriff überwunden. Sie begründet den Staat nicht als Gemeinwesen in der geschaffenen Natur des Menschen (obwohl auch derartige Ansätze bei den Reformatoren vorliegen), sondern sie begründet den Staat als Obrigkeit im Sündenfall. Die Sünde hat die göttliche Einsetzung der Obrigkeit notwendig gemacht. Die Obrigkeit soll durch das ihr von Gott verliehene Schwert die Menschen vor dem Chaos, das die Sünde anrichtet, schützen. Sie soll den Verbrecher strafen und das Leben bewahren. Damit wird die Obrigkeit begründet als Zwangsgewalt und als Hüterin einer äußeren Gerechtigkeit. Beides wird von der Reformation in gleicher Weise [513] beachtet. Jedoch ging die Entwicklung des Denkens in zwei Bahnen auseinander. Die einen bestimmten den Begriff der Gerechtigkeit durch den Begriff der Zwangsgewalt und wurden zum Begriff des Machtstaates geführt. Die anderen bestimmten die Macht durch die Gerechtigkeit und kamen zum Begriff des Rechtsstaates. Jene sahen Exousia allein dort gegeben, wo die Macht war, diese allein dort, wo das Recht war. Damit verkürzten beide den reformatorischen Begriff der Exousia. Gemeinsam aber blieb beiden, daß sie den Staat nicht als Erfüllung geschöpflicher Gegebenheiten, sondern als von oben her gesetzte Ordnung Gottes erkannten. Der Staat wird nicht von unten, vom Volk, von der Kultur etc. her, sondern von oben her, d.h. in echtem Sinne als Obrigkeit verstanden. Darin also blieb der ursprüngliche, reformatorische und biblische Ansatz erhalten. Der Staat ist also nicht wesentlich Volks–, Kultur– etc. –Staat. Das alles sind nur mögliche, von Gott zugelassene Formen des staatlichen Gemeinwesens, die durch eine uns bisher vielleicht noch unbekannte Fülle anderer Formen ersetzt werden können. Im Unterschied zu den von Gott zugelassenen Formen des Gemeinwesens ist die Obrigkeit von Gott selbst gesetzt und verordnet. Volk, Kultur, Sozialwesen etc. sind Welt. Obrigkeit ist mit göttlicher Autorität ausgestattete Ordnung in der Welt. Obrigkeit ist nicht selbst Welt, sondern von Gott. Auch der Begriff des christlichen Staates läßt sich [514] von hier aus nicht halten, denn der Obrigkeitscharakter des Staates besteht unabhängig von der Christlichkeit der obrigkeitlichen Personen. Obrigkeit gibt es auch bei den Heiden.

C. Von Christus her

Besonders aus dem zuletzt Gesagten, aber auch aus allem Vorhergehenden wird deutlich, daß die Begründung des Staates aus der Sünde wie diejenige aus der Natur des Menschen zu einem Begriff des Staates an sich, also abgesehen von seiner Beziehung auf Jesus Christus, führt. Der Staat ist, ob als Schöpfungs- oder als Erhaltungsordnung, für sich da, mehr oder weniger unabhängig von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Bei allen Vorzügen der zweiten Begründung vor der ersten läßt sich doch auch hier diese Feststellung nicht umgehen. Nun entsteht aber die Frage, woher ich über das Paradies oder über den Sündenfall etwas theologisch Haltbares – im Unterschied von einer allgemein christlichen Philosophie – zu sagen vermag, wenn nicht von Jesus Christus her. Durch Jesus Christus und zu Jesus Chri- stus hin sind alle Dinge geschaffen (Joh. 1, 3; 1. Kor. 8, 6; Hebr. 1, 2) und gerade auch „die Throne, Herrschaften, Fürstentümer, Obrigkeiten“ (Kol. 1, 16). Nur in Jesus Christus hat dies alles überhaupt seinen Bestand (Kol. 1, 17). Er aber ist derselbe, der „das Haupt der Gemeinde“ ist (Kol. 1, 18). Es läßt sich also theologisch von der Obrigkeit, sofern die von Gott eingesetzte Obrigkeit und nicht irgendein philosophischer Obrigkeitsbegriff gemeint ist, unter keinen Umständen unabhängig von Jesus Christus, und zwar ihm als dem Haupt seiner Gemeinde, also unabhängig von der Kirche Jesu Christi reden. Die echte Begründung der Obrigkeit ist also Jesus Christus selbst. In 7 Stücken läßt sich das Verhältnis Jesu Christi zur Obrigkeit ausdrücken:

I. Als Schöpfungsmittler, „durch den“ auch die Obrigkeit geschaffen ist, ist Jesus Christus die einzige und notwendige Beziehung zwischen der Obrigkeit und dem Schöpfer; es gibt [515] keine Unmittelbarkeit der Obrigkeit zu Gott; Christus ist ihr Mittler.

II. Wie alles Geschaffene, so hat auch die Obrigkeit nur „in Jesus Christus Bestand“, also ihr Wesen und Sein. Wäre Jesus Christus nicht, so wäre kein Geschaffenes mehr; es wäre also im Zorne Gottes vernichtet.

III. Mit allem Geschaffenen ist die Obrigkeit ausgerichtet „zu Jesus Christus hin“. Ihr Zweck ist Jesus Christus selbst. Ihm soll sie dienen.

IV. Da Jesus Christus alle Gewalt im Himmel und auf Erden hat (Mt. 28, 18), ist er auch der Herr der Obrigkeit.

V. Durch die Versöhnung am Kreuz hat Jesus Christus die Beziehung zwischen der Obrigkeit und Gott wiederhergestellt (Kol. 1, 20).

VI. Über diese Beziehungen zu Jesus Christus hinaus, die die Obrigkeit mit allem Geschaffenen gemeinsam hat, steht die Obrigkeit noch in einem besonderen Verhältnis zu Jesus Christus:

a) Jesus Christus ist unter Zulassung der Obrigkeit gekreuzigt worden.

b) Die Obrigkeit, die die Unschuld Jesu erkannte und offen bezeugte (Joh. 18, 38; vgl. auch im Prozeß des Paulus die Rolle des Lysias, Felix, Festus, Agrippa), hat damit ihr eigentliches Wesen bekundet.

c) Die Obrigkeit, die es nicht wagte, in obrigkeitlicher Gewalt zu ihrer Erkenntnis und ihrem Urteil zu stehen, hat ihr Amt unter dem Druck des Volkes preisgegeben. Darin liegt keine Verurteilung des Amtes als solchem, sondern nur der mangelhaften Ausübung dieses Amtes.

d) Jesus hat sich der Obrigkeit unterworfen, hat sie aber daran erinnert, daß ihre Macht nicht menschliche Willkür, sondern „Gabe von oben herab“ sei (Joh. 19, 10).

e) Jesus hat damit bezeugt, daß die Obrigkeit in rechter oder in schlechter Ausübung ihres Amtes, eben weil sie Macht von oben herab ist, ihm nur dienen kann. Ihn von Schuld freisprechend [516] und ihn doch zur Kreuzigung ausliefernd, mußte die Obrigkeit bezeugen, daß sie im Dienste Jesu Christi steht. So hat gerade durch das Kreuz Jesus die Herrschaft über die Obrigkeit wiedergewonnen (Kol. 2, 15), und es wird am Ende aller Dinge „alle Herrschaft, Obrigkeit und Gewalt“ durch ihn „aufgehoben“ (im doppelten Sinne) sein.

VII. Solange die Erde steht, wird Jesus immer zugleich der Herr aller Obrigkeit und das Haupt der Gemeinde sein, ohne daß Obrigkeit und Gemeinde je eins werden. Zuletzt aber wird eine heilige Stadt (Polis) sein ohne Tempel, denn Gott und das Lamm werden selbst der Tempel sein (Apk. 21), und die Bürger dieser Stadt sind Gläubige aus der Gemeinde Jesu in aller Welt, und die Herrschaft in dieser Stadt übt Gott und das Lamm. In der himmlischen Polis werden Staat und Kirche eins sein.

Allein die Begründung der Obrigkeit in Jesus Christus führt über die naturrechtlichen Begründungen hinaus, auf die zuletzt die Begründungen aus dem Wesen wie aus der Sünde des Menschen hinauslaufen. Die Begründung aus dem Wesen des Menschen sieht in den Gegebenheiten der Völker etc. die naturrechtliche Grundlage des Staates. Von ihr aus läßt sich Imperialismus und Revolution, d.h. Revolution nach außen und nach innen, rechtfertigen. Die Begründung aus der Sünde muß zur Begrenzung des Machtbegriffes durch den Rechtsbegriff naturrechtliche Normen auffinden und wird durch diese stärker konservativ ausgerichtet sein. Weil aber Begriff und Inhalt des Naturrechts vieldeutig ist (je nachdem, ob es von irgendwelchen Gegebenheiten oder irgendwelchen Normen her gewonnen wird), darum genügt er nicht zur Begründung des Staates. Naturrechtlich läßt sich der Gewaltstaat wie der Rechtsstaat, der Volksstaat wie der Imperialismus, die Demokratie wie die Diktatur begründen. [517] Festen Boden unter den Füßen gewinnen wir allein durch die biblische Begründung der Obrigkeit in Jesus Christus. Ob und wieweit dann von hier aus ein neues Naturrecht gefunden werden kann, ist eine bisher noch offene theologische Frage.

3. Der göttliche Charakter der Obrigkeit

A. In ihrem Sein

Die Obrigkeit ist uns nicht als Idee oder als Aufgabe, sondern als Wirklichkeit, als „seiende“ (Röm. 13, 1 c) gegeben. In ihrem Sein ist sie göttliches Amt. Die obrigkeitlichen Personen sind Gottes „Liturgen“, Diener, Stellvertreter (Röm. 13, 4). Das Sein der Obrigkeit ist unabhängig von ihrem Zustandegekommensein. Ob auch der Weg des Menschen zum obrigkeitlichen Amt immer wieder durch Schuld gehen mag, ob an fast jeder Krone Schuld hängt (Shakespeares Königsdramen), das Sein der Obrigkeit steht jenseits ihres irdischen Entstehens; denn die Obrigkeit ist Ordnung Gottes nicht in ihrem Entstehen, aber in [518] ihrem Sein. Wie alles Bestehende ist auch die Obrigkeit in gewissem Sinne jenseits von Gut und Böse, d.h. sie hat nicht nur ein Amt, sondern auch ein geschichtliches Sein. Sie verliert durch ein ethisches Versagen noch nicht eo ipso ihre göttliche Würde. „My country, right or wrong, my country“ gibt diesem Tatbestand Ausdruck. Es ist die geschichtliche Beziehung von Seiendem zu Seiendem, die sich im Verhältnis Vater–Kind, Bruder–Bruder, Herr– Knecht wiederholt und hier sofort einleuchtend ist. Es gibt keine ethische Isolierung des Sohnes von seinem Vater, es gibt sogar auf Grund des Seienden ein notwendiges Mittragen, Mitaufsichnehmen der Schuld des Vaters oder Bruders. Es ist kein Ruhm, auf den Ruinen seiner Vaterstadt zu stehen in dem Bewußtsein, selbst jedenfalls nicht schuldig geworden zu sein. Das ist der Selbstruhm des Moralisten gegen die Geschichte. Der klarste Ausdruck für diese Würde der Obrigkeit, die auch in ihrem geschichtlichen Sein ruht, ist ihre Macht, ist das Schwert, das sie führt. Auch dort, wo die Obrigkeit schuldig, ethisch angreifbar wird, ist ihre Macht von Gott. Sie hat ihren Bestand allein in Jesus Christus und ist durch das Kreuz Christi mit Gott versöhnt (siehe oben). [519]

B. In ihrem Auftrag

Das Sein der Obrigkeit ist verbunden mit einem göttlichen Auftrag. Nur in der Erfüllung des Auftrages erfüllt sich ihr Sein. Ein völliger Abfall von ihrem Auftrag würde ihr Sein in Frage stellen. Dieser völlige Abfall aber ist durch Gottes Vorsehung nur als endgeschichtliches Geschehen möglich und führt dort zu einer unter schweren Martyrien sich vollziehenden völligen Absonderung der Gemeinde von der Obrigkeit als der Verkörperung des Antichrist. Der Auftrag der Obrigkeit besteht darin, mit der Ausübung weltlicher Schwert- und Gerichtsgewalt der Herrschaft Christi auf Erden zu dienen. Die Obrigkeit dient Christus, indem sie vermittels des ihr und ihr allein an Gottes Statt verliehenen Schwertes eine äußere Gerechtigkeit herstellt und bewahrt. Sie hat dabei nicht nur die negative Aufgabe, die Bösen zu strafen, sondern auch die positive Aufgabe, die Guten bzw. die Frommen (1. Petr. 2, 14!) zu loben. Damit fällt ihr einerseits eine Gerichtsgewalt zu, andererseits ein Erziehungsrecht zum Guten, d.h. zur äußeren Gerechtigkeit. Wie sie dieses Erziehungsrecht ausübt, ist freilich eine Frage, die erst im Zusammenhang des Verhältnisses der Obrigkeit zu den anderen göttlichen Ordnungen behandelt werden kann. Die viel behandelte Frage, worin das Gute, die äußere Gerechtigkeit, die die Obrigkeit zu pflegen habe, bestehe, löst sich leicht, wenn man die Begründung der Obrigkeit in Jesus Christus im Auge behält. Jedenfalls kann dieses Gute nicht in Widerspruch zu Jesus Christus stehen. Das Gute besteht darin, daß in jedem Handeln der Obrigkeit dem letzten Ziel, nämlich dem Dienst an Jesus Christus, Raum gelassen wird. Nicht ein christliches Handeln, aber ein Handeln, das Jesus Christus nicht ausschließt, ist gemeint. Zu [520] einem solchen Handeln gelangt die Obrigkeit, wenn sie den Inhalt der zweiten Tafel in den jeweiligen geschichtlichen Situationen und Entscheidungen zum Maßstab nimmt. Woher kennt aber die Obrigkeit diese Inhalte? Zunächst aus der Predigt der Kirche. Für die heidnische Obrigkeit aber gilt, daß eine providentielle Übereinstimmung zwischen den Inhalten der zweiten Tafel und dem dem geschichtlichen Leben selbst innewohnenden Gesetz besteht. Die Nichtbeachtung der zweiten Tafel zerstört das Leben selbst, das die Obrigkeit erhalten soll. So führt der Auftrag das Leben zu schützen, recht verstanden, von selbst zur Wahrung der zweiten Tafel. Ist damit der Staat doch wieder aus dem Naturrecht begründet? Nein; denn es geht ja hier nur um die Obrigkeit, die sich selbst nicht versteht, und die nun doch providentiell zu denselben für ihren Auftrag entscheidenden Erkenntnissen kommen kann, wie sie für die sich selbst recht verstehende Obrigkeit in Jesus Christus offenbar sind. Also ließe sich sagen, daß hier das Naturgesetz auf Jesus Christus gegründet ist.

Der Auftrag der Obrigkeit besteht also darin, um ihre wahre Begründung wissend oder nicht, durch Schwertgewalt eine äußere Gerechtigkeit herzustellen, in der das Leben erhalten und so für Christus offen gehalten bleibt.

Gehört zum Auftrag der Obrigkeit auch die Wahrung der ersten Tafel, d.h. die Entscheidung für den Gott und Vater Jesu Christi? Wir wollen diese Frage in dem Abschnitt über Obrigkeit und Kirche behandeln und hier nur dies sagen: Die Erkenntnis Jesu Christi gehört zur Bestimmung aller Menschen, also auch der obrigkeitlichen Personen. Zum obrigkeitlichen Auftrag als solchem aber gehört das Lob und der Schutz der Frommen (1. Petr. 2, 14), unabhängig von der Glaubensentscheidung der obrigkeitlichen Personen. Ja erst im Schutz der Frommen erfüllt die Obrigkeit ihren wahren Auftrag, Christus zu dienen. [521]

Der Auftrag der Obrigkeit, Christus zu dienen, ist zugleich ihr unabwendliches Schicksal. Sie dient Christus, ob sie wissend oder unwissend, ja ob sie ihrem Auftrag treu oder untreu ist. Sie muß ihm dienen, ob sie es will oder nicht. Will sie es nicht, so dient sie durch das Leiden der Gemeinde dem Zeugnis des Namens Christi. So eng und unlösbar ist die Beziehung der Obrigkeit zu Christus. Sie kann ihrem Auftrag, Christus zu dienen, so oder so nicht entgehen. Sie dient ihm durch ihr Dasein.

C. In ihrem Anspruch

Der Anspruch, den die Obrigkeit auf Grund ihrer Macht und ihres Auftrages hat, ist Gottes Anspruch und bindet das Gewissen. „Um des Gewissens willen“ (Röm 13, 5), was auch interpretiert werden kann als „um des Herrn willen“ (1. Petr. 2, 13), fordert die Obrigkeit Gehorsam. Solcher Gehorsam verbindet sich mit Ehrerbietung (Röm 13, 7; 1. Petr. 2, 17). In Ausübung des obrigkeitlichen Auftrages ist die Gehorsamsforderung unbedingt, qualitativ total, sie erstreckt sich auf Gewissen und leibliches Leben. Glauben, Gewissen und leibliches Leben sind im Gehorsam gegen den göttlichen Auftrag der Obrigkeit gebunden. Ein Zweifel kann erst dort entstehen, wo Inhalt und Umfang des obrigkeitlichen Auftrags fraglich wird. Der Christ ist nicht gehalten und nicht imstande, in jedem Einzelfall das Recht der obrigkeitlichen Forderung zu prüfen. Seine Gehorsamspflicht [522] bindet ihn solange, bis die Obrigkeit ihn direkt zum Verstoß gegen das göttliche Gebot zwingt, bis also die Obrigkeit offenkundig ihren göttlichen Auftrag verleugnet und so ihres Anspruchs verlustig geht. In Zweifelsfällen ist der Gehorsam gefordert; denn der Christ trägt nicht die obrigkeitliche Verantwortung. Überschreitet aber die Obrigkeit an irgendeiner Stelle ihren Auftrag, z.B. indem sie sich zum Herrn über den Glauben der Gemeinde macht, so ist ihr zwar an dieser Stelle der Gehorsam um des Gewissens willen, um des Herrn willen zu verweigern; es ist aber nicht erlaubt, aus diesem Verstoß verallgemeinernd zu folgern, daß diese Obrigkeit nun auch in anderen oder gar in allen anderen Forderungen keinen Anspruch auf Gehorsam mehr hat. Der Ungehorsam kann immer nur eine konkrete Entscheidung im Einzelfall sein. Verallgemeinerungen führen zu einer apokalyptischen Diabolisierung der Obrigkeit. Auch eine antichristliche Obrigkeit bleibt in bestimmter Hinsicht immer noch Obrigkeit. Es wäre also nicht erlaubt, einer Obrigkeit, die die Kirche verfolgt, die staatlichen Steuern zu verweigern. Umgekehrt ist die Tatsache des Gehorsams gegen die Obrigkeit in ihren staatlichen Funktionen, Steuerzahlungen, Eid, Kriegsdienst, immer ein Beweis dafür, daß diese Obrigkeit noch nicht apokalyptisch verstanden wird. Ein apokalyptisches Verständnis einer konkreten Obrigkeit müßte den totalen Ungehorsam zur Folge haben; denn dann ist jeder einzelne Akt des Gehorsams offenkundig mit einer Verleugnung Christi verbunden (Apk. 13, 7). Da in allen staatlichen Entscheidungen die geschichtliche Verstrickung in die Schuld der Vergangenheit [523] unübersehbar groß ist, ist das Urteil über die Rechtmäßigkeit einer einzelnen Entscheidung meist nicht vollziehbar. Hier muß das Wagnis der Verantwortlichkeit unternommen werden. Die Verantwortung für ein solches Wagnis seitens der Obrigkeit aber kann in concreto (d.h. abgesehen von der allgemeinen Mitverantwortung der Einzelnen für das politische Handeln) auch nur die Obrigkeit tragen. Selbst dort, wo die Schuld der Obrigkeit stark ins Auge fällt, darf die Schuld, die diese Schuld geboren hat, nicht außer acht gelassen werden. Die Verweigerung des Gehorsams in einer bestimmten geschichtlichen, politischen Entscheidung der Obrigkeit kann ebenso wie diese Entscheidung selbst nur ein Wagnis auf die eigene Verantwortung hin sein. Eine geschichtliche Entscheidung geht nicht in ethische Begriffe auf. Es bleibt ein Rest: das Wagnis des Handelns. Das gilt für die Obrigkeit wie für den Untertanen.

4. Die Obrigkeit und die göttlichen Ordnungen in der Welt

Die Obrigkeit hat den göttlichen Auftrag, die Welt mit ihren von Gott gegebenen Ordnungen auf Christus hin zu erhalten. [524] Sie allein trägt dazu das Schwert. Jedermann ist ihr zum Gehorsam verpflichtet. Aber mit ihrem Auftrag und ihrem Anspruch setzt sie immer schon die geschaffene Welt voraus. Die Obrigkeit hält das Geschaffene in seiner Ordnung, aber kann selbst das Leben nicht erzeugen, sie ist nicht schöpferisch. Sie findet aber in der Welt, die sie beherrscht, zwei Ordnungen vor, durch die Gott der Schöpfer seine Schöpfermacht ausübt, und auf [die] sie darum wesensgemäß angewiesen ist: die Ehe und die Arbeit. Beide läßt die Bibel uns schon im Paradies vorfinden und bezeugt damit, daß sie zu Gottes Schöpfung gehören, die durch und zu Jesus Christus ist. Beide bleiben auch nach dem Fall, d.h. so, wie wir sie allein kennen, göttliche Zuchtund Gnadenordnungen, da Gott sich als der Schöpfer auch [525] der gefallenen Welt erweisen will, und da er die Welt in Christus bestehen läßt und Christus zu eigen macht. Ehe und Arbeit stehen von Anfang unter einem bestimmten göttlichen Mandat, das im Glaubensgehorsam gegen Gott ausgeführt werden muß. Ehe und Arbeit haben daher ihren eigenen, nicht durch die Obrigkeit begründeten, sondern von ihr anzuerkennenden Ursprung in Gott. Durch die Ehe wird das leibliche Leben fortgepflanzt, werden Menschen erzeugt zur Verherrlichung und zum Dienst Jesu Christi. Das schließt aber ein, daß die Ehe nicht nur die Stätte der Erzeugung, sondern auch die der Erziehung der [526] Kinder zum Gehorsam Jesu Christi ist. Die Eltern sind für das Kind Gottes Stellvertreter als seine Erzeuger und als seine Erzieher. Durch die Arbeit wird eine Welt der Werte zur Verherrlichung und zum Dienst Jesu Christi geschaffen. Wie in der Ehe ist es auch hier nicht die göttliche Schöpfung aus dem Nichts, aber es ist auf Grund der ersten Schöpfung ein Schaffen von Neuem, in der Ehe von neuem Leben, in der Arbeit von neuen Werten. Dabei umfaßt die Arbeit den ganzen Bereich vom Ackerbau über die Wirtschaft zu Wissenschaft und Kunst (vgl. Gen. 4, 17 ff.). So erhält um Jesu Christi willen die Ehe und mit ihr die Familie, die Arbeit und mit ihr das Wirtschaftsleben, Bildung, Wissenschaft und Kunst ein eigenes Recht. Das bedeutet, daß die Obrigkeit für diese Bereiche nur regulative, aber nicht konstitutive Bedeutung besitzt. Die Ehe wird nicht durch die Obrigkeit, aber vor der Obrigkeit geschlossen. Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst werden nicht von der Obrigkeit selbst gepflegt, aber sie unterstehen ihrer Aufsicht und in gewissen (hier nicht näher darzulegenden) Grenzen ihrer Lenkung. Niemals aber wird die Obrigkeit zum Subjekt dieser Arbeitsgebiete. Wo sie ihre Autorität über ihren Auftrag hinaus geltend macht, wird sie auf die Dauer ihre echte Autorität darüber einbüßen.

Von der Ordnung der Ehe und der Arbeit ist unterschieden die Ordnung des Volkes. Ihr Ursprung liegt nach der Schrift [527] weder im Paradies noch in einem ausdrücklichen göttlichen Mandat. Das Volk ist einerseits (nach Gen. 10) natürliche Folge der Ausbreitung der Geschlechter auf Erden. Es ist andererseits (Gen. 11) eine göttliche Ordnung, die die Menschheit in der Zerrissenheit und in gegenseitigem Nichtverstehen leben läßt und sie dadurch erinnert, daß ihre Einheit nicht in ihrer eigenen Machtvollkommenheit, sondern allein in Gott, d.h. im Schöpfer und Erlöser liegt. Es fehlt aber in der Schrift jeder besondere Auftrag Gottes für das Volk. Während Ehe und Arbeit göttliche Ämter sind, ist das Volk eine geschichtliche Wirklichkeit, die in besonderer Weise hinweist auf die göttliche Wirklichkeit des einen Volkes Gottes, auf die Kirche. Die Schrift gibt keinen Hinweis auf das Verhältnis von Volk und Obrigkeit, sie fordert nicht den Volksstaat, sie weiß von der Möglichkeit, daß mehrere Völker unter einer Obrigkeit vereinigt sein können. Sie weiß, daß das Volk von unten her wächst, daß aber die Obrigkeit von oben her eingesetzt ist.

5. Obrigkeit und Kirche

Die Obrigkeit ist um Christi willen eingesetzt, sie dient Christus, sie dient damit auch seiner Kirche. Die Herrschaft Christi über alle Obrigkeit bedeutet allerdings keineswegs die Herrschaft der Kirche über die Obrigkeit. Aber derselbe Herr, dem die Obrigkeit dient, ist das Haupt der Gemeinde, der Herr der Kirche. Der Dienst der Obrigkeit an Christus besteht in der Ausübung ihres Auftrages, durch Schwertgewalt eine äußere Gerechtigkeit sicherzustellen. Es ist darin ein mittelbarer Dienst an der Gemeinde, die nur so ein „ruhiges und stilles Leben“ führen kann (1. Tim. 2, 2). Durch ihren Dienst an Christus ist die Obrigkeit mit der Kirche wesenhaft verbunden. Wo sie ihren Auftrag recht erfüllt, kann die Gemeinde in Frieden leben, denn Obrigkeit und Gemeinde dienen demselben Herrn. [528]

A. Der Anspruch der Obrigkeit an die Kirche

Der Anspruch der Obrigkeit auf Gehorsam und Ehrerbietung erstreckt sich auch auf die Kirche. In bezug auf das geistliche Amt zwar kann die Obrigkeit nur den Anspruch erheben, daß dieses Amt nicht in das weltliche Amt eingreife, sondern seinen eigenen Auftrag erfülle, in dem ja die Mahnung zum Gehorsam gegen die Obrigkeit mit einbegriffen ist. Über diesen Auftrag selbst, wie er im Pfarramt und im Amt der Leitung der Kirche ausgeübt wird, hat die Obrigkeit keine Gewalt. Sofern das geistliche Amt öffentlich ausgeübtes Amt ist, hat die Obrigkeit einen Anspruch auf Aufsicht, daß alles ordentlich, d.h. der äußeren Gerechtigkeit gemäß, zugeht. Nur in dieser Hinsicht hat sie auch einen Anspruch, was personelle Besetzung und Gestaltung des Amtes angeht. Das geistliche Amt selbst ist der Obrigkeit I nicht unterworfen. Jedoch hat die Obrigkeit den vollen Gehorsamsanspruch auf die christlichen Gemeindeglieder. Damit stellt sie sich nicht als zweite Autorität neben die Autorität Christi, sondern ihre eigene Autorität ist nur eine Gestalt der Autorität Christi. Im Gehorsam gegen die Obrigkeit gehorcht der Christ Christus. Der Christ hört als Bürger nicht auf Christ zu sein, sondern er dient Christus in anderer Weise. Damit ist der echte obrigkeitliche Anspruch auch schon inhaltlich ausreichend bestimmt. Er kann den Christen nie gegen Christus führen, er hilft ihm vielmehr, Christus in der Welt zu dienen. Die obrigkeitliche Person wird dem Christen so zum Diener Gottes.

B. Der Anspruch der Kirche an die Obrigkeit

Die Kirche hat den Auftrag, alle Welt unter die Herrschaft Jesu Christi zu rufen. Sie bezeugt der Obrigkeit den gemeinsamen Herrn. Sie ruft die obrigkeitlichen Personen zum Glauben an Jesus Christus um ihrer Seligkeit willen. Sie weiß, daß im Gehorsam gegen Jesus Christus der obrigkeitliche Auftrag recht vollführt wird. Ihr Ziel ist nicht, daß die Obrigkeit christliche [529] Politik, christliche Gesetze etc. macht, sondern daß sie rechte Obrigkeit im Sinne ihres besonderen Auftrages sei. Die Kirche führt die Obrigkeit erst zum Verständnis ihrer selbst. Sie beansprucht um des gemeinsamen Herrn willen das Gehör der Obrigkeit, den Schutz der öffentlichen christlichen Verkündigung gegen Gewalttat und Blasphemie, den Schutz der kirchlichen Ordnung vor willkürlichem Eingriff, den Schutz des christlichen Lebens im Gehorsam gegen Jesus Christus. Die Kirche kann von diesem Anspruch niemals lassen. Sie muß ihn auch solange öffentlich vernehmlich werden lassen, als die Obrigkeit selbst den Anspruch erhebt, die Kirche anzuerkennen. Wo freilich ausgesprochen oder faktisch die Obrigkeit sich gegen die Kir- che stellt, kann der Zeitpunkt kommen, da die Kirche ihren Anspruch zwar nicht aufgibt, aber doch auch ihr Wort nicht mehr verschleudert. Sie weiß ja, daß die Obrigkeit, ob sie ihren Auftrag recht oder schlecht versieht, ihrem Herrn und damit auch der Kirche immer nur dienen muß. Die Obrigkeit, die der Kirche den Schutz versagt, stellt die Kirche damit um so sichtbarer in den Schutz ihres Herrn. Die Obrigkeit, die ihren Herrn lästert, bezeugt damit um so vernehmlicher die Kraft dieses Herrn, der in den Martyrien der Gemeinde gepriesen wird.

C. Die kirchliche Verantwortung der Obrigkeit

Dem Anspruch der Kirche entspricht die Verantwortlichkeit der Obrigkeit. Hier ist die Frage nach der Stellung der Obrigkeit zum ersten Gebot zu beantworten. Muß die Obrigkeit eine religiöse Entscheidung treffen, oder ist ihre Aufgabe die religiöse Neutralität? Ist die Obrigkeit für die Pflege des wahren christlichen [530] Gottesdienstes verantwortlich und hat sie das Recht, andere Gottesdienste zu untersagen? Gewiß sollen auch die obrigkeitlichen Personen zum Glauben an Jesus Christus kommen. Aber das obrigkeitliche Amt bleibt von der religiösen Entscheidung unabhängig. Es gehört jedoch zur Verantwortung des obrigkeitlichen Amtes, die Frommen zu schützen, ja zu loben, d.h. die Pflege der Religion zu unterstützen. Eine Obrigkeit, die dies übersieht, untergräbt die Wurzel eines echten Gehorsams und also ihre eigene Autorität (Frankreich 1905). Das obrigkeitliche Amt als solches bleibt dabei religiös neutral und fragt nur nach seinem eigenen Auftrag. Es kann daher auch niemals zum Subjekt einer neuen Religionsgründung werden, ohne sich selbst aufzulösen. Es schützt jeden Gottesdienst, der das obrigkeitliche Amt nicht untergräbt. Es sorgt dafür, daß aus der Verschiedenartigkeit der Gottesdienste kein die Ordnung des Landes gefährdender Gegensatz wird. Es erreicht dies aber nicht durch Unterdrückung eines Gottesdienstes, sondern durch ein klares Beachten des eigenen obrigkeitlichen Auftrages. Es wird dann deutlich werden, daß der wahre christliche Gottesdienst diesen Auftrag nicht gefährdet, sondern gerade immer neu begründet. Sind die obrigkeitlichen Personen christlich, so müssen sie wissen, daß die christliche Verkündigung nicht durch das Schwert, sondern durch das Wort geschieht. Der Satz „Cuius regio, eius religio“ war nur unter ganz bestimmten politischen Verhältnissen, nämlich der Übereinkunft der Fürsten, die Ausgewiesenen aufzunehmen, möglich. Als Prinzip ist er mit dem obrigkeitlichen Amt unvereinbar. Sollte aber ein besonderer kirchlicher Notstand gegeben sein, so läge es in der Verantwortlichkeit der Christen in der Obrigkeit, auf die Bitte der Kirche ihre Macht zur Bereinigung der Verhältnisse zur Verfügung zu stellen. Das [531] bedeutet aber nicht, daß damit die Obrigkeit als solche kirchenregimentliche Funktionen übernähme. Es geht ausschließlich um die Wiederherstellung der rechten Ordnung, in der das geistliche Amt recht versehen werden kann und in der Obrigkeit und Kirche ihrem eigenen Auftrag nachkommen können. Die Obrigkeit wird ihre Bindung an das erste Gebot dadurch bewahren, daß sie in rechter Weise Obrigkeit ist, ihre obrigkeitliche Verantwortung auch gegenüber der Kirche wahrnimmt. Sie hat aber nicht das Amt, den Glauben an Jesus Christus zu bekennen und zu predigen.

D. Die politische Verantwortung der Kirche

Wird unter politischer Verantwortung ausschließlich die obrigkeitliche Verantwortung verstanden, so hat offenbar nur die Obrigkeit diese Verantwortung zu tragen. Ist aber mit diesem Begriff ganz allgemein das Leben in der Polis gemeint, so ist in mehrfachem Sinne von einer politischen Verantwortung der Kirche als Antwort auf den Anspruch der Obrigkeit an die Kirche zu sprechen. Wir unterscheiden hier wieder die Verantwortung des geistlichen Amtes und die Verantwortung der Christen. Es gehört zum Wächteramt der Kirche, Sünde Sünde zu nennen und die Menschen vor der Sünde zu warnen; „denn Gerechtigkeit erhöht ein Volk (und zwar zeitlich und ewig), die Sünde aber ist der Leute Verderben (und zwar zeitliches und ewiges Verderben)“ (Sprüche 14, 34). Täte die Kirche das nicht, so machte sie sich mitschuldig am Blut des Gottlosen (Hesekiel 3, 17 ff.). Diese Warnung vor der Sünde geht in aller Öffentlichkeit an die Gemeinde, und wer sie nicht hören will, richtet sich selbst. Dabei ist die Absicht des Predigers nicht, die Welt zu verbessern, sondern zum Glauben an Jesus Christus zu rufen, die Versöhnung durch ihn und seine Herrschaft zu bezeugen. Nicht die Schlechtigkeit [532] der Welt, sondern die Gnade Jesu Christi ist das Thema der Verkündigung. Es gehört zur Verantwortlichkeit des geistlichen Amtes, daß es die Verkündigung der Königsherrschaft Christi ernst nimmt, daß es auch die Obrigkeit in direkter Ansprache in aller Ehrerbietung auf Versäumnisse und Verfehlungen, die ihr obrigkeitliches Amt gefährden müssen, aufmerksam macht. Wird das Wort der Kirche grundsätzlich nicht angenommen, so bleibt ihr nur soviel politische Verantwortung, daß sie die Ordnung der äußeren Gerechtigkeit, die in der Polis nicht mehr vorhanden ist, wenigstens unter ihren eigenen Gliedern herstellt und bewahrt und so der Obrigkeit in ihrer Weise dient.

Gibt es eine politische Verantwortung der einzelnen Christen? Der einzelne Christ kann zwar nicht für das Handeln der Obrigkeit verantwortlich gemacht werden, noch darf er sich selbst dafür verantwortlich machen, aber er ist auf Grund seines Glaubens und seiner Nächstenliebe verantwortlich für seinen eigenen Beruf und persönlichen Lebensbereich, so groß oder so klein er ist. Wo diese Verantwortung im Glauben wahrgenommen wird, dort hat sie Kraft für das Ganze der Polis. Es gibt nach der Heiligen Schrift kein Recht auf Revolution, aber es gibt eine Verantwortung jedes einzelnen für die Reinhaltung seines Amtes und Auftrages in der Polis. So aber dient der einzelne in echtem Sinne mit seiner Verantwortlichkeit der Obrigkeit. Niemand, auch [nicht] die Obrigkeit selbst, kann ihm diese Verantwortlichkeit, die ein Stück seines Lebens in der Heiligung ist, abnehmen oder verbieten; denn sie kommt aus dem Gehorsam gegen den Herrn der Kirche und der Obrigkeit.

E. Folgerungen

Die verschiedenen Beziehungen zwischen Obrigkeit und Kirche lassen keine prinzipielle Regelung des Verhältnisses zu, weder [533] die Trennung von Staat und Kirche noch die staatskirchliche Form sind an sich Lösungen des Problems. Nichts ist gefährlicher, als von einzelnen Erfahrungen her verallgemeinernd theoretische Folgerungen zu ziehen. Die programmatische Befürwortung eines Rückzuges der Kirche aus der Welt, aus den noch vorhandenen Beziehungen zum Staat unter dem Eindruck apokalyptischer Zeit ist in dieser Allgemeinheit nur eine etwas wehmütige geschichtsphilosophische Zeitdeutung, die, wenn mit ihr wirklich ernst gemacht würde, zur radikalsten Folge von Offenbarung 13 führen müßte. Umgekehrt kann eine staats- oder volkskirchliche Programmatik ebenso aus der Geschichtsphilosophie stammen. Keine Verfassungsform kann als solche die Nähe und die Ferne im Verhältnis von Obrigkeit und Kirche angemessen zum Ausdruck bringen. Obrigkeit und Kirche sind durch denselben Herrn gebunden und aneinander gebunden. Obrigkeit und Kirche sind in ihrem Auftrag voneinander getrennt. Obrigkeit und Kirche haben denselben Wirkungsbereich, die Menschen. Keines dieser Verhältnisse darf isoliert werden und so den Grund zu einer bestimmten Verfassungsform abgeben (also etwa in der Reihenfolge Staatskirche, Freikirche, Volkskirche), es geht darum, in jeder gegebenen Form dem faktisch von Gott her gesetzten Verhältnis konkret Raum zu geben und die Entwicklung dem Herrn über Obrigkeit und Kirche zu überlassen.

6. Staatsform und Kirche

In der reformatorischen wie in der katholischen Staatslehre wird die Frage nach der Staatsform immer als sekundäre Frage behandelt. Solange die Obrigkeit ihrem Auftrag nachkommt, ist die Form, unter der sie es tut, allerdings für die Kirche unwesentlich. Die Frage ist aber gerechtfertigt, welche Staatsform die beste Gewähr für die Erfüllung des obrigkeitlichen Auftrages [534] bietet und daher von der Kirche gefördert werden soll. Keine Staatsform ist als solche eine absolute Gewähr für eine rechte Ausübung des obrigkeitlichen Amtes. Allein der konkrete Gehorsam gegen den göttlichen Auftrag rechtfertigt eine Staatsform. Trotzdem lassen sich einige allgemeine Leitsätze aufstellen, um diejenigen Staatsformen aufzufinden, die relativ günstige Voraussetzungen für ein rechtes obrigkeitliches Handeln und darum für ein rechtes Verhältnis zwischen Staat und Kirche bieten; und gerade diese relativen Unterschiede können praktisch von großer Tragweite werden.

I. Diejenige Staatsform wird die relativ beste sein, in der am deutlichsten wird, daß die Obrigkeit von oben, von Gott her ist, in der ihr göttlicher Ursprung am hellsten durch- scheint. Ein recht verstandenes Gottesgnadentum der Obrigkeit [535] in seinem Glanz und in seiner Verantwortung gehört zum Wesen der relativ besten Staatsform (die Könige der Belgier nannten sich im Unterschied zum sonstigen abendländischen Königtum „de grace du peuple“).

II. Diejenige Staatsform wird die relativ beste sein, die ihre Macht nicht gefährdet, sondern getragen und gesichert sieht

a) durch eine strenge Wahrung einer äußeren Gerechtigkeit,

b) durch das in Gott gegründete Recht der Familie und der Arbeit,

c) durch die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus.

III. Diejenige Staatsform wird die relativ beste sein, die ihre Verbundenheit mit den Untertanen nicht durch eine Einschränkung der ihr verliehenen göttlichen Autorität zum Ausdruck bringt, sondern die sich durch ein gerechtes Handeln und wahres Reden in gegenseitigem Vertrauen mit den Untertanen verbindet. Es wird sich hier erweisen, daß das, was für die Obrigkeit das Beste ist, auch für das Verhältnis von Obrigkeit und Kirche das Beste sein wird.

Quelle: Dietrich Bonhoeffer, Werke, Bd. 16, 1996, S. 506-535.


[1] Die Zeit der Abfassung und der Zweck der Aufzeichnung sind bisher ungeklärt. Formale und inhaltliche Indizien scheinen in den Zeitraum nach April 1941 zu weisen.

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s