Beten und nicht laß werden! Predigt über Lukas18,1-8
Von Christoph Blumhardt
Der Heiland sieht auch in große Städte hinein. Jerusalem war eine Großstadt; in Tyrus und Sidon war er auch, und von Rom hatte er gewiß viel gehört. Man hat schon die Großstädte mit einer Wüste verglichen. Wer in einer Wüste ist und sich verirrt, der weiß sich nicht mehr zu helfen. Und so ist es in der Großstadt. Wenn sich jemand verliert, wer hilft ihm? Man ist umgeben von Tausenden von Menschen, es laufen alle Straßen voll, aber wenn so eine arme Witwe in Not kommt, wer hilft ihr? Ja, man kann sagen: Wer findet sie? Denn Unzählige sind in Not und Jammer — man findet sie gar nicht, auch wenn man ihnen helfen wollte.
Das nimmt der Heiland zum Beispiel für seine Gemeinde auf Erden. Sie ist auf der ganzen Erde wie in einer Großstadt, und in unsrer Zeit haben wir es ganz besonders erlebt in den Friedensjahren, da sich die ganze Völkerwelt wie in eine Stadt versammelt hat, — alles war eine Stadt, und überall glaubte man sich gesichert in dieser einen Stadt. Aber das Volk Gottes, die Gemeinde Jesu Christi, die wurde doch immer mehr wie eine Witwe. Die Welt umgab sie, die Welt schlich in sie hinein, sie verlor ihren Charakter und schließlich mußte sie seufzen: „Herr, Gott, wer hat mir meinen Ruhm genommen? Wer hat mir meinen Glauben genommen? Wer hat alles das getan, daß ich nun bin wie andre Leute, ohne Hilfe, ohne einen wahrhaftigen Zusammenhang mit dir, Gott im Himmel?“
Das sind die größten Notzeiten, in die die Gemeinde Jesu Christi zu stehen kommt. Von Zeit zu Zeit hat sich diese Not herausgestellt, und es haben sich dann die Bewegungen gezeigt unter den Christenleuten, daß sie wollten wieder zu etwas Charakteristischem kommen, zu einem wahrhaftigen Jesussinn, nicht zu einem Christentum, sondern zu einem Christustum, denn Christus muß unser Reichtum sein. Ohne den Heiland, Jesus Christus, sind wir wie eine Witwe, die beraubt werden kann von ihrem Widersacher.
Meine Lieben, man hat früher viel vom Teufel gesprochen, aber wenn er auch einmal viel Schaden angerichtet hat — der größte Widersacher, den wir haben, ist doch die Welt, die uns schmeichelnd umgibt, und die uns schließlich unseres Besondern, unsrer Gnade Jesu Christi berauben will. Alles ist darauf eingerichtet in dieser Welt, uns vom Heiland abzuziehen, daß wir allein dastehen. Und nun kommen viele Menschen auf den Gedanken, daß sie sich selber helfen könnten ohne ihn und suchen Mittel auch mit der Welt und durch die Welt. Aber der Heiland sagt: „Nein! nein! nein! tausendmal nein! Das Einzige, was ihr habt in eurer Verlassenheit — wenn ihr es verloren habt, wenn ihr eure Krone verloren habt — das einzige ist beten und nicht laß werden!“
Es ist eine Seite des Glaubens, daß man ans Gebet kommt, daß man auf das Gebet noch etwas hält. Wer betet heute? Wenn ich alle die Zeitschriften lese und die vielen Blätter — vom Beten ist wenig die Rede. Man hat gescheite Gedanken, man überlegt dies und jenes, wie man es machen soll, — Beten findet man nicht. Immer sind es weltliche Gedanken, und immer nach der Welt Art will man helfen. Oder auch glaubt man, mit Werken der Menschen könne geholfen werden; auch in dieser unsrer betrübten Zeit möchte man gern mit Werken helfen. Aber nicht Werke nach der Welt Art, nicht diese oder jene Einrichtung und Veranstaltung — nur die Gnade kann euch helfen. Und in unsrer Zeit müsset ihr beten und nicht laß werden, daß die Gnade Jesu Christi neu auflebe in euren Herzen, und ihr mitten in einer Trübsalszeit euch losmachet und einzig auf die Seite Gottes stehet und in seiner Hoffnung lebet, daß er euch helfe, daß er allen Völkern helfe; denn wir Menschen sind gleich, ein Volk wie das andre, —man hat ein bißchen andre äußere Sitten, aber im Geist ist man dasselbe. Aber mitten drin stehen die Kinder Gottes.
Ihr Kinder Gottes, was tut ihr alle Tage? Was wollet ihr machen? Wie wollet ihr helfen? Durch Vereinigungen, durch große Versammlungen, durch viel Predigen? Das alles macht es nicht. Ihr müsset beten und Glauben haben an euer Gebet. Wenn ihr keinen Glauben habt, so steigt das Gebet nicht hinauf zum Thron Gottes, — es ist ein Schall, der geht in die Luft und fällt wieder herunter. Ihr müsset Glauben haben, und auf dem Glauben muß euer Gebet hinaufsteigen in die höchste Höhe zu eurem Vater im Himmel, und dort werden wir erhört. Der Widersacher muß ja endlich doch überwunden werden, das ganze Weltwesen, das uns umgeben hat. Wir wollen es nicht leugnen, wir wollen Buße tun. Die Welt hat uns umgeben, hat uns umschmeichelt, wir sind geworden wie alle Welt, und der Widersacher hat uns unser Kleid der Gerechtigkeit geraubt. Jetzt gilt es beten. Ich möchte fast sagen: Ganz frisch müssen wir anfangen; wie die ersten Jünger, die hineingesandt worden sind in die Welt, so stehen wir wieder ganz wie am Anfang und müssen frisch anfangen, müssen die unreinen Kleider ablegen und reine Kleider anziehen, die uns von Gott geschenkt werden.
Das ist unsre Aufgabe, und dann kommt doch der Sieg über den Widersacher. Nicht ein einzelner Teufel ist unsre größte Last und unser größter Widersacher, sondern der ganze Geist der Welt; lauter Selbsthilfe, lauter Macht und Herrlichkeit soll uns helfen, lauter Krieg und Kriegsgeschrei, — das ist unser Widersacher. Und wenn wir heute in diesem allgemeinen Völkerkrieg stehen, so spüren wir es um so deutlicher an der Gemeinde Jesu Christi, wie stark der Widersacher geworden ist. Viele beten heute immer nur um Frieden, — es soll eben Friede werden! Was haben wir dann an unserm Frieden? Was ist denn gewesen in unserm Frieden? Hat die Gemeinde Jesu Christi gelebt? Sie ist im Frieden untergegangen, und nun müssen wir nicht immer nur um Frieden beten. Wir beten nicht für den Widersacher, wir beten für die Gemeinde Jesu Christi. Wir müssen einen neuen Geist bekommen, wir müssen in neues Leben kommen, wir müssen im Geist und in der Wahrheit wieder Gott dienen lernen mitten unter den Völkern. Was kümmert uns schließlich der Krieg und all die Trübsal, die über die Welt kommt? Das macht uns nicht traurig, das ist schon immer so gewesen, so lange die Welt steht, und auch durch die ganzen Zeitalter des Christentums ist es immer so gewesen. Die Welt kommt in Trübsal, aber du Heilandsmensch, du sollst außerhalb der Trübsal stehen. Dir soll es nicht so zu Herzen gehen, als ob jetzt das das Wichtigste wäre, daß die Welt recht herrlich und in Freuden leben kann. Darum gibt es eine Zurückgezogenheit von der Welt und auch von der Trübsal der Welt. Ganz in der Stille beten wir. Wir suchen keine andre Hilfe, als die Hilfe des höchsten Gottes, der über alle Welt herrscht und den Sieg bekommen wird in Jesus Christus, dem Herrn. Diese Hilfe suchen wir, und um diese Hilfe sollen wir beten und nicht laß werden, — nicht sagen: „Ach, das hilft doch nichts!“ und nicht meinen, in der Welt müsse die Hilfe gefunden werden, es müsse in den Menschen der Weg gebahnt werden durch ihren eigenen Geist. O nein! das geht nicht. Die Menschen bleiben, wie sie sind, — nur ein klein, klein winziges Teilchen der Menschheit ist ganz anders. Wir Christenmenschen — nicht dem Namen nach, sondern wir im Geist dem Herrn Jesu Dienenden — sollen ganz, ganz anders sein, — wie eine Witwe. Ja, das sind wir — beraubt von vielem, was wir glauben gehabt zu haben, und arm und elend geworden. Und nun beten wir und stellen uns auch im Gebet in das Gericht Gottes. Wir wollen uns richten lassen: Herr Gott, du bist unser Richter und unser Heiland. Du kannst uns zurecht richten, du kannst uns auch die Not zum Guten werden lassen, und darum beten wir nicht: „Nimm uns aus aller Not, laß alle Not verschwinden auf Erden, daß sie wieder in ihrem Geld, in ihrer Macht und Herrlichkeit leben können!“ — um das beten wir nicht. Wir beten für deine Gemeinde. Laß sie wieder in die Gnade kommen, in den Reichtum Jesu Christi und in seine Weisheit und in seine Kraft.
Dann kann alles anders werden. Dann kommt endlich die Zeit in einer Kürze, daß die Rettung kommt, die die Bibel uns im Tag Jesu Christi verheißt. Der Heiland kommt! — das ist unsre Hilfe. Der Herr Jesus in der Kraft und Herrlichkeit unsres Vaters, der wird auf die Erde kommen, — das ist unsre große Hilfe, um die beten wir. Mit Glauben, sage ich noch einmal. Viele Menschen beten, aber sie glauben nicht dabei. Ihr Glaube ist nicht die Kraft, durch welche daS Gebet hinaufsteigt zum Himmel, und sie sind wie arm geworden an allem; ihre Flugkraft hat sich verloren, sie beugen sich immer herunter, sehen in die Welt hinein, wie es da zugeht, — sie lesen ihre Zeitungen, sie machen Überlegungen, aber ihr Glaube, der aufsteigen und ihr Gebet hinauftragen soll zum Himmel, in den höchsten Himmel, vor den Thron des Vaters, ist schwach geworden.
Darum lassen wir es uns gesagt sein vom Heiland, denn er sieht die Trübsalszeiten seiner Gemeinde voraus, und sieht auch die Trübsalszeiten hauptsächlich, nicht da wir an Leib und Seele Not leiden, sondern da wir beraubt werden können unsrer Gnade, unsrer Stellung zu Gott, da wir beraubt werden können unsrer Gerechtigkeit durch das Blut Jesu Christi und unseres Lebens, — nicht das wir natürlich haben, sondern das wir haben durch die Auferstehung Jesu Christi. Also beten wir auch heute, wenn wir zusammenstehen: „Herr Jesu, komm! Amen, Herr Jesu, ja komm!“
Aber wenn er kommt, wird er Glauben finden? Er kommt ja anders, als wir es uns denken. Er kommt auch mit Gericht und Gerechtigkeit. Er kommt in einer Weise, daß wir können auch durch Leiden gehen müssen, durch allerlei Sterben. Wir müssen vielem absterben, wenn der Herr Jesus kommt. Wir Menschen meinen immer, wir seien ja rechte Leute; aber wenn wir im Licht stehen würden, dann würden wir sehen, wie vielem wir erst absterben müssen, damit wir den Heiland empfangen können. Dem Herrn Jesu ist bange. Ja, ich muß sagen, gesetzt er käme in äußerer Art, wie es die Menschen ertragen können, wie menschlich, und wollte seinen Willen kund tun — wird man es glauben, daß das der Heiland ist? Haben wir uns doch so sehr daran gewöhnt, zu tun, wie die Welt tut, zu sein, wie die Welt ist. Alles geht nach dem Stil der Welt; alles will Macht haben, Ehre haben, Ruhm haben, und wenn der Herr Jesus kommt und sagt: „Nein, euer Ruhm ist nichts! euer Leben in der Welt ist nichts! das sind lauter Spielereien, — euer Leben muß anders werden, losgetrennt von allen irdischen Sorgen und allem irdischen Wesen, los und frei, im Geist zu Gott gehörig!“ — wer will das hören? Und wer will ihm folgen? wer will ihn machen lassen? wer will ihm die Macht geben auf Erden? Da kann es uns auch bange werden, ob wir sagen werden: „Ich glaube“, wenn der Herr Jesus kommt, wenn er eine Stimme sendet in die Welt und diese Stimme laut werden laßt und sagen läßt: „Ihr Kinder Gottes, ihr Jünger Jesu, die ihr glaubt es zu sein, ihr Jünger, richtet eure Herzen auf! Glaubet mehr, hoffet mehr und haltet euch gewisser an die Macht Gottes und gar nicht mehr an irgendwelche Menschenmacht!“
So heißt es: sich bereiten. Es steht in der Bibel: „Machet den Weg bereit dem Herrn, und machet seine Steige richtig.“ So müssen wir es richtig machen und wie zittern auf die Zukunft Jesu Christi! Werde ich dann auch glauben? Wie viel habe ich noch Liebe in meinem Herzen? Wie viel ist die Welt mir noch? Wie sehr sehnst du dich nach Vergänglichem? Kannst du es verleugnen, ganz wegtun, damit du wie eine kluge Jungfrau bist, die mit dem Herrn eingehen darf, zu neuer Arbeit berufen? Werden wir Glauben haben? Von der Welt reden wir nicht,— die Welt kann uns keine Hoffnung geben. Die Welt kann nur endlich einmal geändert werden, radikal geändert werden durch die Kraft des heiligen Geistes, der in Jesus Christus kommen wird.
Das ist unsre heutige, besonders unsre heutige Aufgabe. Alles andre hat nicht viel Wert. Aber glauben, wenn du betest, das hat Wert; wenn du deinen Geist aufrichtest und wachend bist und betend bist, das hat Wert. Und jedes schwache Menschenkindlein, das verloren ist in dieser Welt, — wenn es wieder anfängt zu beten, wenn es im Glauben beten kann, dann hat es einen Wert vor Gott und wird gerettet, nicht nur für sich, sondern dann darf es auch eine Macht werden in der gottlosen Welt. Denn wir Christenkinder, wir Christusmenschen sollen eine Macht werden in der Welt. Wir sollen uns rühmen unseres Gottes, der helfen kann in allen Dingen. Er kann auch den Kriegsgeist dämpfen, er allein, — Menschen können das nicht machen. Und wenn man noch so viel davon redet, wie die Menschen sollen den Frieden lieb haben — das können sie nicht, sie sind Welt und werden Welt bleiben, bis der Herr Jesus kommt.
Darum, Herr Jesu, wir rufen Tag und Nacht: Komm Herr Jesu! Hilf der Welt! Hilf vor allem deinen Kindern, daß sie in dir eine Kraft haben auf Erden und daß aus ihren Kreisen ein Geist herauskomme, der die Welt bezwingen kann. Und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet, — das bleibt ewig wahr. Und unsern Glauben müssen wir suchen. Er ist auf den Boden gefallen, wir müssen ihn wieder aufheben. Wir müssen ihn in unser Herz nehmen und auf unsern Händen tragen und unsre Hände emporhalten voll Glauben und dankbar sein, daß wir glauben dürfen und beten dürfen.
Das ist die Aufgabe der heutigen Zeit. Die heutige Zeit ist ganz besonders merkwürdig und zeichenhaft. Die Welt hat so viel Gutes wollen, so viel Schönes gemacht, die Welt hat sich so sehr vereinigt, — und nun ist eine Zeit gekommen in der Welt, da alles vereinigt ist, aber in lauter Krieg. Alle Völker kommen in Krieg, — sogar auch die neutralen Völker sind nicht mehr ganz sicher! — alles spielt immer um den Krieg. Es ist wie eine Vereinigung des Menschengeschlechts, und es ist wie zeichenhaft, aber freilich zeichenhaft auch darin, wie sündig die Welt ist. Sie können sich im Krieg eins wissen, eines wider das andre, aber alles in einem Geist: „Krieg, Macht wollen wir haben, Reichtum wollen wir haben! Wir wollen die Herren sein!“ Und so ist wie ein Geist ausgegossen über die Welt. Ich habe einen Onkel gehabt, einen alten Bäcker, und wenn ich zu dem gegangen bin und ihm gesagt habe: „Die Welt muß einen neuen Geist bekommen!“ dann hat er den Kopf geschüttelt und gesagt: „Das kommt nie!“ Aber dann hat er sich besonnen: „Doch, Christoph, es kann doch sein! Die Welt hat ja auch einen Geist!“ — man hat damals in den Franzosenkriegen gelebt; es ist ein Geist geworden in diesem Krieg, der Geist der Welt, — „sollte nicht auch noch einmal durch Gottes Geist Einmütigkeit zustande kommen auf die Zukunft des Tages Christi, Einmütigkeit im wahrhaftigen Suchen der Gerechtigkeit Gottes?“ So hat mein Onkel damals gesagt, und ich habe es behalten. Und es ist wahr. Sehen wir heute die Welt im Kriegsgeist wie einmütig, warum sollen wir nicht auch im Geist Gottes einmal erleuchtet werden? Sehen wir Völker in der Begeisterung aufwachen und im eitlen Wahn immer nur auf ihren Sieg warten, wie wenn dann etwas geholfen wäre — vielleicht könnte auch Gott es machen, daß man einmal begeistert wird für das Gute, für das Wahrhaftige, für den Frieden? Aber nur sein Geist wird es machen, nur sein Geist kann dem Geist der Welt entgegentreten. Wir einzelnen Menschen können nichts machen, außer daß wir beten, im Glauben beten. Das kann helfen, denn der Herr Jesus verheißt es, und wir schauen auf zu ihm. Er hat es verheißen: „Wahrlich, er, der Vater im Himmel wird sie erretten in einer Kürze.“
So beten wir im Glauben. In einer Kürze kommt Jesus Christus mit seinem Geist auf die Erde, und dann wird alles ganz neu werden. Die frühere Zeit des Friedens — wie sie war, darf sie nicht wieder kommen. Wir wollen eine Gottesfriedenszeit, nicht mehr eine Friedenszeit der Wissenschaft und Kunst, — eine Gottesfriedenszeit im wahrhaftigen Sinn Jesu Christi, das wollen wir, darum beten wir Tag und Nacht, und wir werden erhört so gewißlich, als wir noch immer erhört worden sind, wenn wir gebetet haben.
Gehalten am 17. Oktober 1915.
Quelle: Christoph Blumhardt, Predigten und Andachten aus den Jahren 1907-1917 (Auswahl aus seinen Predigten, Andachten und Schriften, hrsg. v. R. Lejeune, Bd. 4), Erlenbach-Zürich 1932, S. 406-413.