Karl Barth, Lehre uns bedenke … Predigt zu Psalm 90,12 (1958): „Es darf also unser Leben und einst auch unser Sterben geschehen in der Kraft des großen Ja, welches Gott in Jesus, in seinem Tod über uns ausgesprochen hat. Weißt du, wer du eigentlich bist? Wer also der sein wird, als der du einmal zu sterben haben wirst?“

Lehre uns bedenke … Predigt zu Psalm 90,12 (1958)

Von Karl Barth

Herr, Gott, unser Vater! Wir danken dir, daß wir dich hier miteinander anrufen und anhören dürfen. Vor dir sind wir alle gleich. Du kennst das Leben, die Gedanken, den Weg und das Herz eines Jeden von uns bis ins Kleinste und Verborgenste, und vor deinen Augen gibt es keinen Gerechten, keinen einzigen. Du hast aber auch keinen Einzigen von uns vergessen oder verworfen und verdammt. Du liebst vielmehr einen Jeden von uns, weißt, was er nötig hat, willst und wirst es ihm geben, siehst auf gar nichts als auf die leeren Hände, die wir dir entgegenstrecken, um sie zu füllen, nicht spärlich, sondern reichlich. Im Leiden und Sterben Jesu, deines lieben Sohnes, bist du ja, gnädig und hilfreich über alles Maß, an unser aller Stelle getreten, hast unsere Finsternis und unseren Jammer auf dich genommen und uns frei gemacht, als deine Kinder ans Licht zu kommen und fröhlich zu werden.

In seinem Namen bitten wir dich jetzt, einem Jeden von uns etwas von deinem guten, heiligen Geist zu geben, damit wir in dieser Stunde dich und uns selbst und auch uns untereinander ein wenig besser verstehen und dadurch erquickt und ermutigt einen Schritt vorwärts kommen auf dem Weg, auf den du uns alle, ob wir es merken oder nicht, damals, als Jesus am Kreuze sein Haupt neigte und verschied, und so von Ewigkeit her, gestellt hast. Amen.

Liebe Brüder und Schwestern,

wir wollen in dieser Stunde ein Wort zu uns sprechen lassen, das Manchen von euch bekannt sein mag, weil man es bei Anlaß von Beerdigungen nicht selten zu hören bekommt. Es steht im 90. Psalm Vers 12:

Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden!

In der Zürcher Bibel lautet der Satz so: Lehre uns unsere Tage zählen, damit wir ein weises Herz gewinnen!

Ihr wißt ja, daß das Alte Testament ursprünglich in hebräischer Sprache geschrieben ist. Und da kann man sich beim Übersetzen oft genug fragen, welches wohl die richtigste Wiedergabe sein möchte. Ihr habt gemerkt daß die Worte in den beiden Übersetzungen etwas verschieden sind. In der Sache meinen und sagen sie aber dasselbe: Wenn einer seine Tage zählt, dann bedenkt er, daß sie gezählt sind, mit anderen Worten: er bedenkt, daß er sterben muß. Und richtig klug werden, heißt: ein weises Herz gewinnen. Das Herz ist in der Sprache der Bibel sozusagen die Zentralstation des menschlichen Lebens, von der aus es sich entscheidet, ob der ganze Mensch töricht oder eben weise ist. Aber was hat uns dieses Wort zu sagen?

Daß wir sterben müssen — nun ja, das ist wohl wahr: früher der Eine und ein bißchen später der Andere, der Eine vielleicht nach längerer Krankheit, der Andere ganz plötzlich, der eine unmerldich, der Andere unter großen Schmerzen. Niemand kann dem entrinnen, daß er sterben muß — so wie es einst dargestellt war auf der Mauer eines Platzes da drüben — ihr kennt ihn alle —, der früher ein Friedhof war und von dessen Bildern her noch jetzt den Namen «Totentanz» trägt. Aber nicht wahr, das braucht uns eigentlich niemand zu sagen, das wissen wir: daß wir sterben müssen. Um das zu hören, brauchten wir nicht hier zusammen zu kommen, haben wir die Bibel nicht nötig. Daß der Mensch sterben muß, das gehört sozusagen zu seiner Naturgeschichte.

Nun ist aber von dem Bedenken dieser bekannten Tatsache die Rede. Sind wir also aufgefordert, darüber nachzudenken? Das kann und mag man wohl tun. Ich kenne das Bild eines großen katholischen Heiligen, der einen Totenkopf in der Hand hält und betrachtet. Er bedenkt offenbar, daß er sterben muß. Und es möchte sicher auch für uns, die wir keine Heiligen sind, immer wieder eine nachdenkliche Sache sein, etwa über einen Friedhof zu gehen, alle die Steine und Kreuze mit den Namen der vielen, vielen Menschen zu sehen, die einmal wie wir gelebt haben und dann gestorben sind, und uns klar zu machen, daß das einmal auch unser Fall sein wird. Aber ganz ehrlich gefragt: Kommt dabei so viel heraus, wenn wir es versuchen, zu bedenken, daß wir sterben müssen? Was wissen wir denn im Grunde davon, was das ist: sterben? Daß da einmal Alles für uns aus sein wird, das mögen wir wissen, aber was kann es uns helfen, das zu bedenken? Ich habe einen lieben Freund, der sich oft ein Vergnügen daraus macht, sich mir gegenüber so recht als Ungläubigen darzustellen. Er pflegt dann wohl zu erwähnen, daß er auch bedenkt, daß wir sterben müssen, aber das Resultat seines Bedenkens sei doch nur, daß es sich da um des Menschen Übergang oder Rückkehr in die allgemeine Natur handle, daß er da wie ein Blatt vom Baum zur Erde fallen werde, um selber wieder Erde zu werden. Etwas besonders Ernstes gebe es dabei für ihn nicht zu bedenken. Dabei ist er ein Mann, der — sonst würde er ja wohl nicht mein Freund sein — kein ganz unweises Herz hat. Aber durch ein besonders gründliches Nachdenken über das Sterben hat er es jedenfalls nicht gewonnen.

Also: Die ganz überflüssige Mitteilung, daß wir wie alle Menschen sterben müssen, ist das Wort, das wir gehört, sicher nicht und die zweifelhafte Aufforderung, daß wir (wir!) diese bekannte Tatsache bedenken sollten, auch nicht. Es lautet ja auch ganz anders. Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen!, heißt es ja. Es ist also eine Anrede, und zwar eine Anrede an Gott, es ist eine Bitte, ein Gebet. Und nun pflegt man nicht zu bitten um etwas, was man selber und von sich aus tun kann. Es gibt aber Dinge, die man nicht von sich aus tun kann, und dazu gehört das, wovon in diesem Wort die Rede ist. Und so lautet es denn: Lehre uns, will sagen: gib es uns, schenk es uns, bring du es uns bei und aus uns hervor, daß wir das können und tun: bedenken, daß wir sterben müssen. Du, Herr unser Gott, mußt es uns lehren, wie ein Lehrer ein kleines Kind das ABC und das Einmaleins lehrt, da es das von sich aus nun einmal nicht kann. Daß du das tuest, darum bitten wir dich!

So setzt dieses Wort doch wohl voraus, daß es bei jenem Stück Naturgeschichte des menschlichen Lebens nun doch etwas Wichtiges zu bedenken gibt. Und weiter: daß wir die richtigen Gedanken darüber nicht selbst aus unserem Kopf und Herzen hervorbringen können. Aber weiter: daß wir doch nicht darauf verzichten können, diese Sache zu bedenken, daß wir das dringend nötig haben, weil wir sonst nicht klug werden, kein weises Herz bekommen würden. Und endlich und zuletzt: daß uns gar nichts Anderes übrig bleibt, als uns an Gott zu wenden, damit er uns dieses Nötige gebe, schenke, beibringe, daß wir bedenken, daß wir sterben müssen. Das Wort, das wir gehört, ist ein Gebetswort, und indem es laut wird, ruft es uns auf, das mitzusagen, mitzubitten, mitzubeten: Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen!

Und nun gibt es eine Erhörung und Erfüllung dieser Bitte. Nun können und dürfen wir nämlich in der Tat bedenken, und zwar recht und sinnvoll bedenken, daß wir sterben müssen. Nun lehrt uns Gott das, nun gibt und schenkt er es uns, daß wir dazu frei werden.

Wir wissen nicht, wie der Mann des Alten Testamentes, der den 90. Psalm geschrieben, sich das vorgestellt hat, daß Gott den Menschen dazu frei und also tüchtig macht und wie das rechte, dem Menschen von Gott beigebrachte Bedenken, daß wir sterben müssen, aussieht. Wir hören diesen Mann in seinem Psalm ja nur eben bitten. Solches Bitten ist freilich schon etwas ganz Großes, und erst recht: sich dazu aufrufen zu lassen, darum zu bitten. Man kann wohl sagen: das ganze Alte Testament ist eigentlich — nicht nur in dieser Sache, aber auch in ihr — eine einzige große Bitte. Und ohne sie mitzubeten, könnte man auch das Neue Testament nicht verstehen. Es gibt aber etwas Größeres als diese Bitte: ihre Erhörung und Erfüllung nämlich, die sich uns im Neuen Testament auftut, und zwar gerade auch in der Frage, von der wir hier reden, hell auftut. Es gibt ein rechtes Bedenken, daß wir sterben müssen, und es gibt einen offenen Weg, auf dem Gott uns dazu anweist. Ohne dieses Größere des Neuen Testamentes müßte und würde uns wohl auch das Große des Alten Testamentes verborgen bleiben. Nun, wie dem auch sei: indem uns im Neuen Testament dieses Größere aufgetan, gezeigt und vor Augen gestellt ist, sind wir ganz sicher erst recht aufgerufen zu der dringlichen, flehenden Bitte: «Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen!»

Aber nun laßt uns eben zu der Erhörung und Erfüllung dieser Bitte kommen. Ich möchte es zunächst ganz kurz und kühn so sagen: bedenken, recht bedenken, daß wir sterben müssen, das heißt: bedenken, daß Jesus für uns gestorben ist. Wir dürfen und wir müssen ihn erkennen, und zwar — wie es uns ja durch die Passionszeit, in die wir jetzt hineingehen, wieder besonders nahegelegt ist — in seinem Leiden und Sterben erkennen; dann erfahren und wissen wir, was es mit unserem Sterben auf sich hat, daß es da wahrhaftig um ein bißchen mehr geht als um ein Stücklein Naturgeschichte. Ich muß jetzt etwas nachtragen zu dem, was ich vorhin von dem Bild jenes alten Heiligen sagte: es zeigt ihn nämlich doch nicht nur mit dem Totenkopf in der Hand, sondern vor sich hat er ein Kreuz mit dem Bild des Gekreuzigten, und über den Totenkopf hinweg sieht er auf ihn: eben auf den sterbenden Jesus.

Der Maler, der dieses Bild entworfen hat, hat offenbar etwas davon gewußt, daß das rechte Bedenken, daß wir sterben müssen, darin besteht, daß wir bedenken, daß Jesus für uns gestorben ist. Wie sich das verhält, das will ich euch nun in doppelter Weise kurz zu erklären versuchen.

Wißt ihr, was das ist, das Sterben Jesu? Was geschah, was erfüllte sich da? Eine bloße Naturnotwendigkeit? ein Unfall? ein Zufall? Nein, das Sterben Jesu war — das ist das Eine, was hier zunächst zu sagen und zu hören ist — ein Gericht: die Vollstreckung eines Todesurteils, das an unserer Stelle an ihm, an diesem Jesus vollzogen wurde. Wir sind die in seiner Person Gerichteten. Wir sind die in seinem Tod Verurteilten und Getöteten. Wir: nicht wir selbst freilich, aber Jemand, der mit uns selbst sehr viel zu tun hat, uns ganz intim nahesteht: der alte Mensch nämlich, der in uns allen lebt und rumort! Gerichtet, verurteilt, getötet ist im Tode Jesu dieser unser alter Mensch — und das von Kopf bis zu Fuß, sein Herz, sein Verstand, sein Wille, seine Gefühle, sein Niedriges, aber auch sein Hohes, sein Oberflächliches, aber auch seine tiefste Tiefe, sein Tierisches, aber auch sein Geistiges, seine bösen, aber auch seine guten Werke, sein Elend, aber auch seine Herrlichkeit. Zu diesem ganzen Bestand des alten Menschen in uns hat Gott Nein gesagt: an ihm findet er nichts Brauchbares, mit ihm müsse es also vorbei sein, er könne nur noch sterben. Und nun war es das von Gott zu diesem unserem alten Menschen gesprochene harte, unerbittliche Nein, das Jesus an aller Menschen Stelle zu ertragen hatte. Den Tod dieses alten Menschen zu sterben hat er auf sich genommen. Seinen Tod hat er tatsächlich erlitten.

Und nun geschieht unser Sterben in der Kraft dieses Sterbens Jesu an unserer Stelle. Gewiß nur in seiner Kraft. Denn seinen Tod als diesen Tod des Gerichtes an aller anderen Menschen Stelle kann und wird kein Mensch ein zweites Mal sterben. Es geschieht aber in der Kraft, will sagen: in der Auswirkung, als Abbildung und Gleichnis jenes göttlichen Nein, des Gerichtes, des an Jesus vollzogenen Todesurteils.

So steht es eben mit uns, nämlich mit dem in uns lebenden und rumorenden alten Menschen. So gar nichts taugt der, so ist der abgeschrieben, verworfen, ans Kreuz geschlagen, getötet: genau so, wie es dort an seinem Kreuz Jesus widerfahren und der ganzen Welt sichtbar ist.

Und nun heißt: bedenken, daß wir sterben müssen, daß wir uns eben das Werk dieser Kraft seines Sterbens gefallen lassen, daß wir eben das anerkennen und aushaken: daß es so mit uns steht. So gewiß Jesus damals an unserer Stelle stand, litt und gekreuzigt wurde, starb und begraben wurde — so gewiß steht es so mit uns. So ist das kluge, das weise Herz, das es da zu gewinnen gibt, das durch die Kraft des Sterbens Jesu nur eben gedemütigte Herz eines Menschen, dem es immer schärfer und unvergeßlicher eingeprägt wird, daß er vor Gott gar nichts zu melden hat, gar nichts zu beanspruchen und geltend zu machen und — auch wenn er der Beste und Frömmste wäre! — gar nichts zu rühmen hat. Das weise, das kluge Herz ist das Herz eines Menschen, der weiß, daß er, wenn er einmal zu sterben hat, nur eben auf Gottes Gnade angewiesen sein wird, daß er also, wenn überhaupt, dann schon jetzt nur von Gottes Gnade leben kann. Wer das weiß, der ist klug, der ist weise. — Das ist das Eine.

Jetzt aber noch das Andere, das wirklich ganz Andere: Es geschah ja, was im Sterben Jesu geschah, nicht gegen uns, sondern für uns. Was da geschah, war nicht ein Akt von Gottes Feindschaft gegen den Menschen. Nein, im Gegenteil: weil Gott uns selber — wirklich uns alle — in diesem einen Jesus von Ewigkeit her geliebt hat — weil Gott sich selber dazu erwählt hat, unser lieber Vater zu sein, und uns alle dazu erwählt hat, seine lieben Kinder zu werden — um uns alle als solche zu erretten und zu sich zu ziehen: dazu hat er in dem einen Jesus unseren alten Menschen, der ja, wie gewaltig er in uns leben und rumoren mag, nicht wir selbst sind, abgeschrieben, verworfen, ans Kreuz geschlagen, getötet. Gerade um unserer selbst willen: damit wir selbst als freie Menschen leben dürfen, hat er den alten Menschen in uns im Sterben Jesu aus dem Weg geräumt, weggeschwemmt, in Feuer, Rauch und Asche aufgehen lassen. Um zu uns selbst sein ein für allemal und unbedingt gültiges Ja zu sagen, hat er zu dem Gesellen, der eben gar nicht zu uns selbst gehört, hat er zu unserem ganzen alten Wesen und Unwesen ein für allemal und unbedingt Nein sagen wollen und so gewaltig, wie es im Sterben Jesu geschehen ist, Nein gesagt. Dazu hat er das getan!

Und nun geschieht unser Sterben in der Kraft des für uns geschehenen, des gnadenvollen und heilvollen Sterbens Jesu. Nur in seiner Kraft, nur in seiner Auswirkung, nur als sein Bild und Gleichnis. Denn so gnadenvoll und heilvoll für die ganze Welt starb und stirbt kein Anderer. Es wirkt aber in unserem Leben und in dem Sterben, dem wir entgegengehen, unaufhaltsam die Kraft seines gnadenvoll und heilvoll für uns geschehenen Sterbens.

Es darf also unser Leben und einst auch unser Sterben geschehen in der Kraft des großen Ja, welches Gott in Jesus, in seinem Tod über uns ausgesprochen hat. Weißt du, wer du eigentlich bist? Wer also der sein wird, als der du einmal zu sterben haben wirst? Weil dein alter Mensch — du kennst ihn nur zu gut — im Sterben Jesu schon vertilgt und abgetan ist, weil du also dieser Mensch nicht mehr sein kannst, weil es in der Kraft des Sterbens Jesu auch über dich so entschieden ist, bist du selbst der neue, der von Gott geliebte, erwählte, gerettete, angenommene Mensch, zu dem Gott Ja gesagt hat, Ja sagt und Ja sagen wird. Halte dich daran: dieser Mensch bist du selbst — vorläufig in dem Stücklein Leben, groß oder klein, das du noch vor dir haben magst — endgültig in deinem Sterben: weil es in der Kraft des Sterbens Jesu geschehen wird.

Und nun heißt: bedenken., daß wir sterben müssen, daß wir uns eben des Wirkens dieser Kraft, wie es sich gehört, freuen, dankbar uns davon nähren, daß es mit unserem Leben und Sterben so bestellt ist: so unfaßbar schön, siegreich und herrlich! So gewiß Jesus damals als der Hervorbringer unseres neuen, ewigen Lebens für uns selbst gelitten hat und gekreuzigt wurde, gestorben und begraben ist — so gewiß dürfen wir unserem Sterben in dieser Zuversicht entgegensehen und entgegengehen. Das haben wir zu bedenken! Bedenken, daß wir sterben müssen, heißt, gerade dem Sterben, weil es in der Kraft des Sterbens Jesu geschehen wird, entgegengehen als unserem Leben, unserem ewigen Leben. Und so ist das kluge, das weise Herz, das hier zu gewinnen ist, das fröhliche Herz eines Menschen, der im Leben und Sterben Alles nur von Gott, aber eben von Gott Alles erwarten darf, der sich wirklich nur an seine Gnade halten kann, eben von ihr aber auch gänzlich und endgültig gehalten ist: in den Stunden, Tagen und Jahren, die vielleicht noch vor uns liegen mögen, aber auch und erst recht in unserem Sterben, weil es in der Kraft des Sterbens Jesu geschehen wird.

Ich bin am Ende. Muß ich euch noch besonders sagen, wie Gott das anstellt, daß er uns lehrt: bedenken, daß wir sterben müssen? Ich will die einfachste Antwort geben: Gott lehrt uns das, indem er uns sagt und hören läßt, was wir jetzt versucht haben zu sagen und zu hören von der doppelten, der tötenden und lebendig machenden Kraft des Sterbens Jesu in unserem Sterben.

Kein Zweifel: Gott sagt es uns. Gott läßt es uns hören. An ihm fehlt es nicht. Er lehrt uns in dem ganzen Feuer seines Heiligen Geistes bedenken, daß wir sterben müssen: daß Jesus für uns gestorben ist.

Meine lieben Brüder und Schwestern, wenn auch nur ein Funke von diesem Feuer ins Herz eines Menschen fällt, dann ist für diesen Menschen, wer er auch sei und wie er auch dran sei, nichts verloren, Alles gewonnen. Amen.

Herr unser Gott! Wir treten noch einmal vor dich mit der herzlichen Bitte, dich unser anzunehmen, uns also keine Ruhe zu gönnen, bis wir es annehmen, in dir zur Ruhe zu kommen — gegen uns und für uns zu streiten, bis dein Friede in unserem Herzen, in unseren Gedanken und Worten, in unserem Sein und Verkehr untereinander zur Geltung und zu seinem Rechte kommt. Ohne dich können wir gar nichts, mit dir und in deinem Dienst werden wir Alles können.

Sei du in allen Räumen dieses Hauses gegenwärtig und tätig — so auch in dieser ganzen Stadt, unter allen ihren Bewohnern und heute besonders überall da, wo deine Gemeinde sich versammelt. Steh du allen Kranken und Sterbenden bei, allen Armen, Unterdrückten und in die Irre Gehenden — so auch denen, die uns und die anderen, die großen Völker regieren, ihre öffentliche Meinung machen und ihre Machtmittel in den Händen haben! Ach, daß doch von dir her viel Liebe dem vielen Haß, viel Vernunft der vielen Unvernunft, daß nicht nur ein paar Tropfen, sondern ein Strom von Recht dem vielen Unrecht entgegenträte und entgegenwirkte! Aber du weißt besser als wir, was mit uns und was in der Welt, letztlich bestimmt zu deiner Ehre, werden und geschehen soll. So befehlen wir Alles in deine Hände. So wollen wir, jeder an seinem Ort und in seiner Art, zuversichtlich, still und klar auf dich hoffen.

Wir rufen dich an, wie dein lieber Sohn, unser Herr Jesus Christus, es uns geheißen hat: Unser Vater…

Gehalten am 16. März 1958 in der Strafanstalt Basel.

Quelle: Karl Barth, Den Gefangenen Befreiung. Predigten aus den Jahren 1954-59, Zollikon: Evangelischer Verlag, 1959, S. 133-143.

Hier die Predigt als pdf.

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