Von Jürgen Habermas
Das tonangebende bayerische Duo der Bundesregierung, die Herren Zimmermann und Spranger, singt den Refrain auf den Vers, der ihm seit Monaten von der FAZ vorgespielt wird: »Gewaltloser Widerstand ist Gewalt.« Hingegen steht der Justizminister so sehr im Schatten des Innenministers – und der Liberalismus der einstmals Freien Demokraten schon so sehr mit dem Rücken zur Wand –, daß aus dieser Ecke nur noch Tautologien zu vernehmen sind: auch gewaltloser ziviler Ungehorsam sei ungesetzlich. Die Anwälte einer Verschärfung des Demonstrationsstrafrechtes haben in der Diskussion der letzten Monate die Tendenz verfolgt, den juristischen Begriff der Gewalt über Tatbestände der Gewalttätigkeit hinaus auf unkonventionelle Formen der politischen Willensbildung auszudehnen.
Aus der Psychologie ist der Zwang, in Alternativen zu denken, bekannt; wie so oft verschanzt sich das zwanghafte Denken auch diesmal hinter juristischen Formeln. Als einzige Alternative zum Störer und Unruhestifter, zum kriminellen Gewalttäter erscheint der friedliche Demonstrant – ein Bürger, der aus Pflicht und Gewohnheit zur Wahlurne geht, vielleicht Versammlungen der eigenen Partei besucht und gelegentlich an einer Kundgebung, sei es zum 1. Mai oder zum 20. Juli teilnimmt. Aus der Perspektive einer Obrigkeit, die für Ruhe und Ordnung zu sorgen hat, zeigt die demokratische Willensbildung des präsumptiven Souveräns ein bleiches, eingeschüchtertes, zahnloses Antlitz. Demonstrationen sollten aus polizeilichen Gründen am besten im Saale stattfinden, jedenfalls nicht abweichen vom Normalbild des geordneten Umzugs erwachsener und reinlich gekleideter Bürger mit abschließender Ansprache vor dem Rathaus. Das Alternativdenken sucht Sicherheit in der falschen Eindeutigkeit gewaltsam hergestellter Dichotomien. Der friedlich demonstrierende »Landfriedensbrecher«, der sich nach der ersten polizeilichen Aufforderung nicht schleunigst nach Hause begibt und gleichwohl nicht nachweisen kann, den originellen Tatbestand des »Abwiegelns« erfüllt zu haben, ist ein Produkt dieses Denkens.
Die veränderte Protestszene
In der Tat hat sich die Protestszene der Bundesrepublik seit den Ostermärschen der frühen sechziger Jahre verändert. Wir haben die Studentenproteste in Erinnerung, deren Funke von Berlin auf westdeutsche Universitäten übergesprungen ist, als Benno Ohnesorg ohne erkennbaren Anlaß von einem Polizisten erschossen wurde. Die neuen, oft phantasievollen, manchmal gewalttätigen Formen dieser Protestbewegung waren von amerikanischen Vorbildern inspiriert, unmittelbar von jenem exemplarischen Fall zivilen Ungehorsams in Ann Arbor, wo 39 Studenten der University of Michigan am 15. Oktober 1965 aus Protest gegen das militärische Eingreifen der USA in Vietnam das Büro der örtlichen Einberufungsbehörde besetzt hielten und zwei Stunden nach Dienstschluß abgeführt werden mußten. Der anschließende Prozeß löste eine lebhafte Debatte aus und erhielt dadurch weltweite Publizität.[1] Noch deutlicher – und noch stärker von Emotionen besetzt – ist unsere Erinnerung an die terroristischen Untergrundaktionen der RAF, die sehr schnell den Unterschied zwischen kriminellen Handlungen und zivilem Ungehorsam klar gemacht haben – endlich auch in den Köpfen, in denen diese Begriffe noch nach Jahren intern geführter, harter Diskussionen eigentümlich diffus geblieben waren.
Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre hat sich eine neue Protestbewegung formiert, in anderer Zusammensetzung, mit neuen Zielen und mit einer bunten Palette abermals gewandelter, differenzierter Formen der Willensäußerung. Beispiele sind die Bonner Großdemonstrationen, die eine ganze Stadt in den Rhythmus und den Wirbel einer von Subkulturen getragenen, expressiv-beschwingten Massenveranstaltung hereingezogen haben; der bundesweite Ansturm auf ein von der Polizei abgeriegeltes Kernkraftgelände wie in Brokdorf; die lautstarke Gegendemonstration gegen das Spektakel eines öffentlich vorexerzierten Großen Zapfenstreiches wie in Bonn oder Bremen; die vorübergehende Blockade von Bauarbeiten und die Besetzung von Bauplätzen wie in Wyhl; das Anti-Atomdorf in Grohnde, das Hüttendorf an der Startbahn West, die die geplanten Großprojekte mit einer alternativen Lebensform konfrontieren sollten; schließlich die Hausbesetzungen in Kreuzberg und anderswo, die eine breitere Öffentlichkeit auf den Skandal der rücksichtslosen Spekulation mit begehrten und erhaltungswürdigen Altbauwohnungen aufmerksam gemacht haben. Allen diesen Aktionen ist gemeinsam, daß sie von spontan gebildeten, heterogen zusammengesetzten, weitverstreuten und dezentralisiert arbeitenden Basisinitiativen ausgehen. Dieses Amalgam von Friedens-, Umweltschutz- und Frauenbewegung ist nichts, was man wie eine Partei verbieten könnte.
Nun sind für die Herbstmonate entschiedene und variationsreiche Demonstrationen gegen die erwartete Aufstellung von Cruise Missiles und Pershing II-Raketen angekündigt worden, unter anderem Blockaden, verkehrsbehindernde Menschenketten, die-ins und andere Äußerungen des zivilen Ungehorsams. Das Schlagwort vom »heißen Herbst« ist in Umlauf und erhitzt die Gemüter im voraus. Die Presse berichtet über diese Pläne wie über die Kriegsvorbereitungen eines Angreifers, der die nationale Sicherheit bedroht. Nachrichten über die Protestszene werden wie geheimdienstliche Erkenntnisse über feindliche Truppenbewegungen gehandelt. Friedenscamps gewinnen das Aussehen von Partisanennestern. Und in den Polizeihauptquartieren werden Einsätze generalstabsmäßig nach bekannten Szenarios durchgespielt. Jeder neue Krawall, der sich, wie in Krefeld, an unauffällig verlaufende Demonstrationen anhängt, bestärkt in der Öffentlichkeit den fatalen Eindruck, daß ausgerechnet die Friedensbewegung dem im Zuge der Terrorismusbekämpfung ausgebauten und aufgerüsteten staatlichen Kontroll- und Eingriffsapparat neue Ziele bietet. So entsteht eine Perspektive, aus der die Delikte von kleinen, aber mobilen Stoßtrupps gewalttätiger Randalierer mit Handlungen des moralisch begründeten zivilen Ungehorsams verschmelzen. Aus diesem verengten Blickwinkel kann an den heute praktizierten und in Aussicht gestellten Protestformen genau jenes Element nicht mehr wahrgenommen werden, welches die neuen sozialen Bewegungen auszeichnet. Wie der Vergleich mit der Studentenbewegung lehrt, gibt die gegenwärtige Protestbewegung zum erstenmal die Chance, auch in Deutschland zivilen Ungehorsam als Element einer reifen politischen Kultur begreiflich zu machen. Jede rechtsstaatliche Demokratie, die ihrer selbst sicher ist, betrachtet den zivilen Ungehorsam als normalisierten, weil notwendigen Bestandteil ihrer politischen Kultur.
Nach meinen Erfahrungen war in den Jahren der Studentenrevolte das Selbstverständnis vieler Akteure durch falsche revolutionäre Vorbilder inspiriert. Jedenfalls fehlte die Identifikation mit den Verfassungsgrundsätzen einer demokratischen Republik, die nötig ist, um eine Protesthandlung auch dann, wenn sie die Grenzen des rechtlich Zulässigen überschreitet, in ihrem ausschließlich symbolischen Charakter zu begreifen. Damals sind einige Studentenführer zu Taktikern einer Scheinrevolution geworden, weil sie ihren politischen Widerstand zwischen Protest und Kampfhandlung in der Schwebe halten wollten. Eben diese Unklarheit kann ich in der Friedensbewegung weit und breit nicht entdecken. Aus den mir bekannten Äußerungen geht mehr als ein nur taktisches Bekenntnis zur Gewaltfreiheit hervor, nämlich die Überzeugung, daß Protesthandlungen, auch wenn sie kalkulierte Regelverletzungen darstellen, nur symbolischen Charakter haben können und allein in der Absicht ausgeführt werden dürfen, an die Einsichtsfähigkeit und den Gerechtigkeitssinn der jeweiligen Mehrheit zu appellieren.[2] Niemand bildet sich heute ein, die Raketenaufstellung – wenn überhaupt noch – auf andere Weise als dadurch verhindern zu können, daß die Masse der deutschen Bevölkerung für die politisch-moralische Ablehnung einer Entscheidung von existentieller Tragweite gewonnen und mobilisiert wird. Nur ein drohender Legitimationsverlust kann die Regierung umstimmen.
Gewiß, von gewaltfreiem Widerstand ist die Rede, obwohl mindestens die Wortführer der Bewegung wissen könnten, daß heute die in GG Art. 20 Abs. 4 festgelegten Bedingungen für eine Ausübung des verfassungsgemäßen Widerstandsrechts ersichtlich nicht erfüllt sind. Aber kann man eine soziale Bewegung auf einen juristisch begründeten Sprachgebrauch verpflichten? Kann man sie, wie Günter Frankenberg sagt, »terminologisch enteignen«? Der populäre Sprachgebrauch will mit dem Ausdruck ›Widerstand‹ nur die Dringlichkeit des Protestanliegens zum Ausdruck bringen. Das Wort wird nicht einmal metaphorisch verwendet, wenn es Äußerungen zivilen Ungehorsams bezeichnet – also Akte, die ihrer Form nach illegal sind, obwohl sie unter Berufung auf die gemeinsam anerkannten Legitimationsgrundlagen unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung ausgeführt werden. Wer auf diese Weise Protest einlegt, sieht sich in einer Situation, wo ihm in einer Gewissensfrage nur noch drastische, mit persönlichen Risiken belastete Mittel zur Verfügung stehen, um die Bereitschaft zur erneuten Beratung und Willensbildung über eine geltende Norm oder eine rechtskräftig beschlossene Politik zu wecken und den Anstoß für die Revision einer Mehrheitsmeinung zu geben. Wer sich zu zivilem Ungehorsam entschließt, will sich angesichts der Tragweite einer für illegitim gehaltenen Regelung nicht damit zufrieden geben, daß die institutionell vorgesehenen Revisionsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Warum sollte das Handeln desjenigen, der aus diesen Gründen das Risiko einer Strafverfolgung in Kauf nimmt, nicht Widerstand heißen dürfen?
John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit
Aus dieser Motivation lassen sich die wichtigsten Bestimmungen für zivilen Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat ableiten. Der amerikanische Moralphilosoph John Rawls hat in seiner bekannten Theorie der Gerechtigkeit die folgende Definition vorgeschlagen: ziviler Ungehorsam äußert sich in »einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber gesetzwidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll«.[3] Rawls nennt drei Bedingungen, die für gerechtfertigten zivilen Ungehorsam erfüllt sein müssen: der Protest muß sich gegen wohlumschriebene Fälle schwerwiegender Ungerechtigkeit richten; die Möglichkeiten aussichtsreicher legaler Einflußnahme müssen erschöpft sein; und die Aktivitäten des Ungehorsams dürfen kein Ausmaß annehmen, welches das Funktionieren der Verfassungsordnung gefährdet. Rawls Theorie wird auch unter deutschen Juristen inzwischen lebhaft diskutiert.[4]
Unstrittig sind die zentralen Bestimmungen, die sich aus dem Zweck des Appells an die Einsichtsfähigkeit und den Gerechtigkeitssinn einer Mehrheit von Staatsbürgern ergeben. Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrundeliegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protestes. Das Prinzip der Gewaltfreiheit versucht Günter Frankenberg folgendermaßen festzulegen: Zivil ist nur eine Regelverletzung, die nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Protestzweck steht und die insbesondere die physische und psychische Integrität des Protestgegners oder unbeteiligter Dritter wahrt. Gewaltfreiheit schließt auch nach Dreiers Auffassung Momente der Nötigung nicht in jedem Falle aus, sie ist mit »psychischem Druck und Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit Dritter« vereinbar.[5]
Der Streit um eine hinreichend präzise Bestimmung des Gewaltbegriffs sollte aber nicht von der eigentlichen Provokation der Rawlsschen Theorie ablenken. Wer in diesen Tagen auf den Tenor der Presseverlautbarungen von Regierungen und Parteien, der Fernsehdiskussionen und Leitartikel lauscht und die herrschende Meinung der Juristen zu Rate zieht, wird sich über die »Gesetz ist Gesetz«-Mentalität nicht täuschen können. Das Dogma der staatstragenden Kräfte steht auf festen Beinen: Wer unter Berufung auf sein Gewissen Gesetze bricht, nimmt sich Rechte heraus, die unsere demokratische Rechtsordnung um der Sicherheit und der Freiheit aller Bürger willen niemandem einräumen kann. Wer im Rechtsstaat zivilen Ungehorsam leistet, setzt mit dem Rechtsfrieden eine der höchsten und verletzbarsten kulturellen Errungenschaften aufs Spiel. Er legt, so meint Geissler, »die Axt an die Demokratie«.
Demgegenüber behauptet nun Rawls, daß der zivile Ungehorsam geradezu einen Prüfstein für das angemessene Verständnis der moralischen Grundlagen der Demokratie darstellt und – so können wir im Hinblick auf die Bundesrepublik hinzufügen – einen Prüfstein für den Reifezustand der ersten demokratischen Republik auf deutschem Boden, die von allen sozialen Schichten getragen wird: »Das Problem des zivilen Ungehorsams, wie ich es verstehe, entsteht nur in einem mehr oder weniger gerechten demokratischen Staat für die Bürger, die die Verfassung anerkennen. Das Problem besteht in einem Pflichtenkonflikt. An welchem Punkt ist die Pflicht, sich den von einer Gesetzgebungsmehrheit beschlossenen Gesetzen (oder den von ihr unterstützten Handlungen der ausführenden Gewalt) zu fügen, angesichts des Rechts zur Verteidigung seiner Freiheit und der Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit nicht mehr bindend? Diese Frage rührt an den Sinn und die Grenzen der Mehrheitsregel.«[6] Warum soll im demokratischen Rechtsstaat, und gerade in diesem, ziviler Ungehorsam berechtigt sein?
Ich möchte auf diese Frage keine juristische, sondern eine rechtsphilosophische Antwort zu geben versuchen, von der ich nicht genau weiß, wie weit sie mit der von Rawls gegebenen übereinstimmt. Das Problem, um das es geht, kann nur entstehen, wenn wir davon ausgehen, daß der moderne Verfassungsstaat einer moralischen Rechtfertigung sowohl bedarf wie auch fähig ist. Ich gehe von dem ungewöhnlich hohen Legitimationsanspruch des Rechtsstaates aus: er mutet seinen Bürgern zu, die Rechtsordnung nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus freien Stücken anzuerkennen. Die Treue zum Gesetz soll sich aus einer einsichtigen und darum freiwilligen Anerkennung jenes normativen Anspruches auf Gerechtigkeit ergeben, den jede Rechtsordnung erhebt.
Diese Anerkennung stützt sich normalerweise darauf, daß ein Gesetz von den verfassungsmäßigen Organen beraten, beschlossen und verabschiedet worden ist. Damit erlangt das Gesetz positive Geltung und legt fest, was in seinem Geltungsbereich als legales Verhalten zählt. Das nennen wir Legitimation durch Verfahren. Diese gibt freilich keine Antwort auf die Frage, warum das legitimierende Verfahren selbst, warum das regelrechte Tätigwerden verfassungsmäßiger Organe, warum letztlich die Rechtsordnung Im ganzen legitim ist. Der Hinweis auf das legale Zustandekommen positiv geltender Normen hilft hier nicht weiter. Die Verfassung muß aus Prinzipien gerechtfertigt werden können, deren Gültigkeit nicht davon abhängig sein darf, ob das positive Recht mit ihnen übereinstimmt oder nicht. Deshalb kann der moderne Verfassungsstaat von seinen Bürgern Gesetzesgehorsam nur erwarten, wenn und soweit er sich auf anerkennungswürdige Prinzipien stützt, in deren Licht dann, was legal ist, als legitim gerechtfertigt – und gegebenenfalls als illegitim verworfen werden kann.
Wer in normativer Absicht Legalität von Legitimität unterscheiden möchte, muß sich freilich zutrauen, diejenigen legitimierenden Verfassungsprinzipien auszuzeichnen, die gute Gründe für sich haben und Anerkennung verdienen. Wie können aber solche Grundnormen, beispielsweise die Grundrechte, die Garantie der Rechtswege, die Volkssouveränität, die Gleichheit vor dem Gesetz, das Sozialstaatsprinzip usw. gerechtfertigt werden? Dafür sind in der Tradition des Vernunftrechts und der Kantischen Ethik eine Reihe von Vorschlägen ausgearbeitet worden. Sie alle folgen der Intuition, daß nur solche Normen gerechtfertigt sind, die ein verallgemeinerungsfähiges Interesse zum Ausdruck bringen und daher die wohlerwogene Zustimmung aller Betroffenen finden könnten. Und zwar wird diese Zustimmung an eine Prozedur vernünftiger Willensbildung gebunden; deshalb schließt dieser Begründungsmodus den heute beliebten Rückgriff auf eine historisch eingelebte materiale Wertordnung aus. Wie man sich zu diesen Moraltheorien auch stellen mag, ein demokratischer Rechtsstaat kann, weil er seine Legitimität nicht auf schiere Legalität gründet, von seinen Bürgern keinen unbedingten, sondern nur einen qualifizierten Rechtsgehorsam fordern. Dem trägt auch das Grundgesetz in Art. 1 Abs. 2 mit einem Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten Rechnung. Wie Erhard Denninger herausgearbeitet hat, soll der Charakter des Bekenntnisses zum Ausdruck bringen, daß die Grundrechte auch die übergesetzliche Geltung legitimierender Verfassungsprinzipien genießen.[7] Auch die im Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3) getroffene Unterscheidung von »Gesetz« und »Recht« legt diesen Schluß nahe. Mit dem Begriffspaar Legalität/Legitimität ist viel Unfug getrieben worden; das erklärt die Zurückhaltung vieler Juristen. Demgegenüber meine ich, daß die Idee des Rechtsstaates selber dazu anhält, das Spannungsverhältnis dieser beiden aufeinander verwiesenen Momente zu durchdenken.
Der Hüter der Legitimität
In den Institutionen der rechtsstaatlichen Demokratie verkörpert sich das Mißtrauen gegen die fallible Vernunft und die korrumpierbare Natur des Menschen. Dieses Mißtrauen reicht über die Kontrollen und Gegengewichte, die sich institutionalisieren lassen, hinaus. Denn weder die Einhaltung des Rechtsweges noch die Autorität der wissenschaftlichen Jurisprudenz bieten vor der moralischen Entwurzelung einer der Form nach intakten Rechtsordnung und Rechtswissenschaft einen automatischen Schutz. Das bedarf im Jahre der 50. Wiederkehr des 30. Januar 1933 keiner weiteren Erklärung. Der Rechtsstaat, der mit sich identisch bleiben will, steht vor einer paradoxen Aufgabe. Er muß das Mißtrauen gegen ein in legalen Formen auftretendes Unrecht schützen und wachhalten, obwohl es eine institutionell gesicherte Form nicht annehmen kann. Mit dieser Idee eines nichtinstitutionalisierbaren Mißtrauens gegen sich selbst ragt der. Rechtsstaat über das Ensemble seiner jeweils positiv gesetzten Ordnungen hinaus. Das Paradox findet seine Auflösung in einer politischen Kultur, die die Bürgerinnen und Bürger mit der Sensibilität, mit dem Maß an Urteilskraft und Risikobereitschaft ausstattet, welches in Übergangs- und Ausnahmesituationen nötig ist, um legale Verletzungen der Legitimität zu erkennen und um notfalls aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich zu handeln.
Der Fall des zivilen Ungehorsams kann nur unter Bedingungen eines im ganzen intakten Rechtsstaates eintreten. Dann darf aber der Regelverletzer die plebiszitäre Rolle des unmittelbar souverän auftretenden Staatsbürgers nur in den Grenzen eines Appells an die jeweilige Mehrheit übernehmen. Im Unterschied zum Resistance-Kämpfer erkennt er die demokratische Legalität der bestehenden Ordnung an. Die Möglichkeit des berechtigten zivilen Ungehorsams ergibt sich für ihn allein aus dem Umstand, daß auch im demokratischen Rechtsstaat legale Regelungen illegitim sein können – illegitim freilich nicht nach Maßgabe irgendeiner Privatmoral, eines Sonderrechts oder eines privilegierten Zugangs zur Wahrheit. Maßgebend sind allein die für alle einsichtigen moralischen Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartung gründet, von seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden. Es geht nicht um den Extremfall der Unrechtsordnung, sondern um einen Normalfall, der immer wieder eintreten wird, weil die Verwirklichung anspruchsvoller Verfassungsgrundsätze mit universalistischem Gehalt ein langfristiger, historisch keineswegs geradlinig verlaufender, vielmehr von Irrtümern, Widerständen und Niederlagen gekennzeichneter Prozeß ist. Die europäische Geschichte der Grundrechte beispielsweise läßt sich als ein solcher, von Rückschlägen unterbrochener kollektiver Lernprozeß verstehen.[8] Wer will behaupten, daß diese Lernprozesse abgeschlossen sind? Auch heute dürfen wir uns nicht nur als die glücklichen Erben fühlen. Der Rechtsstaat im ganzen erscheint, aus dieser geschichtlichen Perspektive, nicht als ein fertiges Gebilde, sondern als ein anfälliges, irritierbares Unternehmen, das darauf angelegt ist, unter wechselnden Umständen eine legitime Rechtsordnung sei es herzustellen oder aufrechtzuerhalten, zu erneuern oder zu erweitern. Weil dieses Projekt unabgeschlossen ist, sind auch die Verfassungsorgane von dieser Irritierbarkeit keineswegs ausgenommen.
Zudem sind es die Mühseligen und Beladenen, die Unrecht als erste am eigenen Leibe erfahren. Die, die Unrecht am ehesten spüren, sind in der Regel nicht mit Befugnissen oder auch nur mit privilegierten Einflußnahmen ausgestattet – sei es über die Zugehörigkeit zu Parlamenten, Gewerkschaften und Parteien, sei es über den Zugang zu Massenmedien oder über das Drohpotential derer, die bei Wahlkämpfen mit einem Investitionsstreik winken können. Auch aus diesen Gründen ist der plebiszitäre Druck des zivilen Ungehorsams oft die letzte Möglichkeit, Irrtümer im Prozeß der Rechtsverwirklichung zu korrigieren oder Neuerungen in Gang zu setzen. Die Tatsache, daß in unsere Rechtsordnung viele Mechanismen der Selbstkorrektur eingebaut sind, von der dreimaligen Lesung einer parlamentarischen Gesetzesvorlage bis zum Instanzenweg der Gerichte, spricht ja nur dafür, daß der Rechtsstaat mit einem hohen Revisionsbedarf rechnet, und nicht dafür, daß weitere Revisionsmöglichkeiten ausgeschlossen werden sollen. Auch der Oxforder Rechtstheoretiker Ronald Dworkin siedelt den zivilen Ungehorsam an dieser Nahtstelle an. Was prima facie Ungehorsam ist, kann sich, weil Recht und Politik in steter Anpassung und Revision begriffen sind, sehr bald als Schrittmacher für überfällige Korrekturen und Neuerungen erweisen. In diesen Fällen sind zivile Regelverletzungen moralisch begründete Experimente, ohne die sich eine vitale Republik weder ihre Innovationsfähigkeit noch den Legitimationsglauben ihrer Bürger erhalten kann.[9] Wenn die Repräsentativverfassung vor Herausforderungen versagt, die die Interessen aller berühren, muß das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzelner Bürger, in die originären Rechte des Souveräns eintreten dürfen. Der demokratische Rechtsstaat ist in letzter Instanz auf diesen Hüter der Legitimität angewiesen.
Zurückhaltung auf beiden Seiten
Natürlich können sich auch die, die moralische Einsichten zwar nicht als Privileg, aber als entschuldigende Begründung für ihren punktuellen Ungehorsam in Anspruch nehmen, irren. Die Narren von heute sind nicht immer die Helden von morgen, viele bleiben auch morgen die Narren von gestern. Der zivile Ungehorsam bewegt sich oft im Zwielicht der Zeitgeschichte; dieses erschwert dem Zeitgenossen die politisch-moralische Bewertung. Der klargeschnittene Fall des aktiven Widerstandes ist leichter zu beurteilen – und dies nicht erst aus der Retrospektive. Es bedurfte nicht des historischen Abstandes, um zu sehen, was die Stammheimer Rechtsprechung von den Urteilen eines Volksgerichtshofes prinzipiell unterscheidet. Auch die Legitimität von Widerstandshandlungen läßt sich keineswegs schon am sittlichen Ernst der Motive ablesen. Mangel an Gewissen war es wohl nicht, was Ulrike Meinhoff von Sophie Scholl getrennt hat – und doch war mit Händen zu greifen, daß die schwarze Rose von der weißen Rose durch eine Welt geschieden war. Situationen des aktiven Widerstandes haben eben eine unvergleichlich größere Prägnanz als solche des zivilen Ungehorsams.
Dieser Mangel an Eindeutigkeit verpflichtet beide Seiten. Der Regelverletzer muß skrupulös prüfen, ob die Wahl spektakulärer Mittel der Situation wirklich angemessen ist und nicht doch nur elitärer Gesinnung oder narzißtischem Antrieb, also einer Anmaßung entspringt. Andererseits muß sich auch der Staat eines Urteils historischer Natur enthalten und noch denen gegenüber Respekt wahren, die heute ungesetzlich handeln und vielleicht morgen im Unrecht bleiben. Er kann um so eher darauf verzichten, sein Sanktionspotential auszuschöpfen, weil durch zivilen Ungehorsam die Existenz und der Sinn der Rechtsordnung insgesamt nicht in Frage gestellt werden. Wie es in einer politischen Kultur aussieht, wenn diese Zurückhaltung auf beiden Seiten fehlt, zeigt die in ihren Voraussetzungen und Mitteln undurchdachte Demonstration des Abgeordneten Schwalba-Hoth, zeigt freilich deutlicher noch die unsägliche Suada, die die sogenannte »Blutsudelei« ausgelöst hat. Wenn es in dieser Geschichte, abgesehen von der atavistischen Ordensbrust des Generals, etwas Blutrünstiges gegeben hat, dann war es der Schrei nach Strafe für »das scheußliche Blutattentat«.[10]
Diese hemmungslosen Reaktionen auf einen mißglückten Versuch zivilen Ungehorsams lassen Schlimmes befürchten. Sie machen den Versuch kritischer Juristen immerhin verständlich, einen Tatbestand zu legalisieren, der sich mit Mitteln des positiven Rechts sowenig zähmen läßt wie die Resistance durch das ins Grundgesetz aufgenommene Widerstandsrecht. Gewiß, es sind gute Gründe für eine Legalisierung vorgetragen worden: die einen möchten den zivilen Ungehorsam auf dem Wege der radikalen Auslegung des Demonstrations- und Versammlungsrechtes verrechtlichen;[11] die anderen versuchen dasselbe auf dem Wege der Übersetzung moral- und rechtstheoretischer Begründungen in juristisch anwendbare Rechtfertigungsformeln.[12] Gegen die Legalisierung des Tatbestandes zivilen Ungehorsams spricht aber schon der unerwünschte Normalisierungseffekt. Wenn jedes persönliche Risiko entfällt, wird die moralische Grundläge des regelverletzenden Protestes fragwürdig; auch dessen Appellwirkung wird entwertet. Der zivile Ungehorsam muß zwischen Legitimität und Legalität in der Schwebe bleiben; nur dann signalisiert er die Tatsache, daß der demokratische Rechtsstaat mit seinen legitimierenden Verfassungsprinzipien über alle Gestalten ihrer positiv-rechtlichen Verkörperung hinausweist. Weil dieser Staat in letzter Instanz darauf verzichtet, von seinen Bürgern Gehorsam aus anderen Gründen als dem einer für alle einsichtigen Legitimität der Rechtsordnung zu verlangen, gehört ziviler Ungehorsam zu dem unverzichtbaren Bestand einer reifen politischen Kultur.
Rawls und Dworkin halten in Fällen zivilen Ungehorsams eine modifizierte Strafverfolgung für angemessen. Die Behörden haben hinreichend Spielraum bei der Entscheidung, ob Anklage erhoben und das Hauptverfahren eröffnet werden soll, ob eine Verurteilung nötig ist und wie gegebenenfalls die Strafe zu bemessen ist.[13] In jedem Fall sollten aber die Gerichte erkennen lassen, daß ziviler Ungehorsam keines der üblichen Delikte ist. Der demokratische Rechtsstaat geht in seiner Legalordnung nicht auf. Für den Ausnahmefall des Versagens der Repräsentativverfassung stellt er seine Legalität denen zur Disposition, die dann noch für seine Legitimität sorgen können. Wann dieser Fall gegeben ist, kann logischerweise nicht wiederum von Feststellungen eines Verfassungsorgans abhängig gemacht werden. Der zivile Ungehorsam bezieht seine Würde aus diesem hochgesteckten Legitimationsanspruch des demokratischen Rechtsstaats. Wenn Staatsanwälte und Richter diese Würde nicht respektieren, den Regelverletzer als Kriminellen verfolgen und mit den üblichen Strafen belegen, verfallen sie einem autoritären Legalismus. In den Begriffen eines konventionellen, aus vormodernen Rechtsverhältnissen stammenden Staatsverständnisses verkennen und verkürzen sie die moralischen Grundlagen und die politische Kultur eines entwickelten demokratischen Gemeinwesens.
Die Anwälte des autoritären Legalismus berufen sich vorzugsweise auf Carl Schmitt. Dieser hat immer wieder das Hobbessche Gespenst der konfessionellen Bürgerkriege beschworen, um zu suggerieren, daß die friedensstiftende Funktion des weltanschaulich neutralen Staates den Gehorsam der Bürger gegenüber einem übergeordneten Souverän erfordert. Seine These wird in vielen Variationen durchgespielt; sie wird nicht überzeugender dadurch, daß man anstelle des Reichspräsidenten oder des Führers dem Parlament oder dem Bundesverfassungsgericht die Rolle des übergeordneten Souveräns zuschiebt.[14] Der demokratische Rechtsstaat ist gewiß neutral gegenüber den grundrechtlich geschützten subjektiven Glaubensgewißheiten seiner Bürger; keineswegs neutral verhält er sich gegenüber den intersubjektiv anerkannten moralischen Grundlagen der Legalität und des Rechtsgehorsams. Das Gewissen des Staatsbürgers erstreckt sich auch auf das, was alle angeht. Deshalb kann es keine Instanz geben, die ultimativ dem Streit um Einhaltung oder Verwirklichung der legitimierenden Verfassungsprinzipien enthoben wäre – und dies um so weniger, je tiefer der Interventionsstaat mit seinen Politiken in die gesellschaftlichen Lebensgrundlagen eingreifen muß. Der gewissenhaft begründete zivile Ungehorsam weiß sich dem Verfassungskonsens verpflichtet und darf nicht mit der Durchsetzung privater Glaubensgewißheiten verwechselt werden. Das historische Beispiel der Konfessionskriege ist ganz und gar schief; denn diese haben einem konfessionellen Staat religiöse Toleranz, d. h. das Grundrecht auf ungehinderte Religionsausübung erst abgerungen. Demgegenüber haben Thoreau und Martin Luther King, indem sie sich gegen Sklavenherrschaft und Menschenrechtsverletzung zur Wehr setzten, nicht ihre privaten Überzeugungen verabsolutiert, sondern geltende Verfassungsprinzipien eingeklagt. In diese Tradition stellen wir vielleicht morgen mit größerer Selbstverständlichkeit als heute die Brüder Berrigan und alle jene, die für die rechtswirksame Ächtung aller Massenvernichtungsmittel den zivilen Gehorsam aufkündigen.
Wo liegt das Unrecht heute?
Gleichwohl steht die prinzipielle Frage auf einem anderen Blatt als die konkrete Frage, ob denn hier und heute eine Situation gegeben ist, in der Regelverletzungen als ziviler Ungehorsam gerechtfertigt werden können. Bei der zu erwartenden Aufstellung von Raketen handelt es sich offensichtlich nicht um jenen Typus von Unrecht, gegen das Martin Luther King und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung angegangen sind, d. h. um eine offensichtliche Verletzung von Grundrechten. Jedenfalls dürfte es nicht einfach sein, eine rüstungspolitische Maßnahme, die die Regierung in Ausführung ihrer erklärten Verteidigungs- und Außenpolitik trifft bzw. zuläßt, als Verletzung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit oder des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu interpretieren. Ebensowenig handelt es sich um jenen Typus von Unrecht, gegen den sich seinerzeit der Anti-Vietnam-Protest gerichtet hat. Der Bundesregierung kann nicht unterstellt werden, daß sie die Pflicht zur Wahrung des internationalen Friedens verletzt. Wenn man die polemisch zugespitzten, aber wohlerwogenen Argumente Erhard Epplers, eines der einflußreichsten und ernsthaftesten Protagonisten der Friedensbewegung, als Beispiel heranzieht, ergibt sich allerdings eine Situationsdeutung, aus der sich andere Gründe für zivilen Ungehorsam ableiten lassen. Eppler argumentiert in seinem jüngsten Buch etwa so:
Erstens: Die USA haben ihre Abschreckungsstrategie in den letzten Jahren grundsätzlich verändert. Während bis zu Carters Regierungszeit die bewußt in Kauf genommene Verwundbarkeit beider Seiten die paradoxe Bedingung für die aussichtsreiche Verhütung eines Atomkrieges gewesen ist, erstrebt die US-Regierung heute die Fähigkeit, einen begrenzten Atomkrieg gewinnen zu können – natürlich nicht, um ihn zu führen, sondern um dieses Drohpotential für eine Kriegsverhütung zu den Bedingungen einer Pax Americana einsetzen zu können.
Zweitens: Die auf dem Boden der Bundesrepublik aufzustellenden Pershing II-Raketen sollen im Rahmen dieses Konzepts die Stelle von zielgenauen Erstschlagwaffen übernehmen. Sie eignen sich dazu, innerhalb weniger Minuten die sowjetische Befehlsstruktur auszuschalten. Es geht der amerikanischen Seite nicht in erster Linie um ein Gegengewicht gegen die sowjetischen SS 20-Raketen, sondern um die glaubhafte Drohung, den Gegner im nuklearen Duell zu »enthaupten«. Deshalb haben die Amerikaner kein Interesse an einer Vereinbarung, die den vorgesehenen Waffenmix von Pershing II und Marschflugkörpern berühren würde.
Drittens: Die qualitativ neue Bedrohung zwingt die Sowjets dazu, Pershing II-Raketen, die in der Bundesrepublik aufgestellt sind, in ihrem Zielkatalog die höchste Priorität zu geben. Dadurch erhöht sich das Risiko, das die Bundesrepublik als riesiges Waffendepot ohnehin schon auf sich gezogen hat – sowohl als Ziel eines Präventivschlages wie auch als potentielle Geisel.
Viertens: Über den konkreten Anlaß hinaus bestätigt die Stationierung neuer Raketen wiederum die Unfähigkeit der Großmächte, die Spirale der Aufrüstung auch nur zum Stillstand zu bringen. Die inzwischen angesammelten Vernichtungskapazitäten stellen auch dann, wenn man nur technische Fehler und menschliches Versagen berücksichtigt, eine akute Bedrohung der Existenzgrundlagen Europas und der Welt dar. Deshalb müssen die Prämissen, unter denen die Abrüstungsverhandlungen bisher gestanden haben, verändert werden – jene naturgeschichtlich tief verwurzelte Mentalität der Selbstbehauptung, die sich in der »tödlichen Utopie der Sicherheit« manifestiert.[15]
Man muß Epplers Situationsdeutung nicht in allen Punkten teilen, man kann sie aus der Sicht der Regierung sogar für abenteuerlich halten – sie ist immerhin so gut belegt und so weit durchdacht, daß man sie als Hintergrund für die Rechtfertigung zivilen Ungehorsams ernst nehmen muß. Gewiß, niemand wird einer Regierung das Recht streitig machen, ihre Politik auf eine andere Interpretation zu stützen, dafür Mehrheiten zu gewinnen und diese Politik mit allen legalen Mitteln zu verfolgen – wie verhängnisvoll ihre Entscheidungen und Maßnahmen im einzelnen auch sein mögen. Wenn man Epplers Situationsdeutung zugrundelegt, kann man aber die Frage stellen, ob sicherheitspolitische Grundsatzentscheidungen, die mit eminenten Risiken verbunden sind und tief in das Leben jedes einzelnen, sogar in die Überlebenschancen ganzer Völker eingreifen, von der dünnen Legitimationsdecke einer einfachen Bundestagsmehrheit getragen werden dürfen. Plausibel ist dieser Zweifel jedenfalls für den angenommenen Fall einer Umstellung »von einer Kriegsverhinderungs- auf eine Kriegführungsstrategie« (Gert Bastian).
Wie wir aus Umfragen wissen, hat die Meinung der Bürger zum NATO-Doppelbeschluß für den Wahlsieg der jetzigen Regierungsparteien im März dieses Jahres nicht den Ausschlag gegeben. Selbst wenn das der Fall gewesen wäre, drängen sich die Fragen auf, die der Bundesverfassungsrichter Helmut Simon auf dem letzten Kirchentag in Hannover gestellt hat: »Darf denn stationiert werden, ohne daß darüber der Bundestag nach einem öffentlichen Willensbildungsprozeß durch förmliches Gesetz beschließt? Darf der Bund unter Beschränkung seiner Souveränität in die äußerst gefährliche Stationierung von Waffen einwilligen, über deren Einsatz allein der Präsident der USA entscheidet? … Reicht das Prinzip der einfachen Mehrheit (außerhalb des unabstimmbaren Bereichs) wirklich stets aus? Genügt es auch für folgenschwere Entscheidungen irreversibler Natur, d. h. für solche die bei einem Mehrheitswechsel nicht mehr einfach rückgängig zu machen sind und die tödliche Folgen für jedermann haben können, wenn sie falsch sind?« Im Lichte der gültigen Verfassungsprinzipien zieht Simon aus den politischen Zielen der Friedensbewegung die rechtliche Schlußfolgerung, daß über die technische Entwicklung und die strategische Einsatzplanung von Massenvernichtungsmitteln nicht nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden dürfte – ja, daß »der Gebrauch von Massenvernichtungsmitteln – ebenso wie früher einmal die Sklaverei – zum Gegenstand des Unabstimmbaren« gemacht werden sollte.
Wann funktioniert die Mehrheitsregel?
Es geht also um die Frage, ob nicht wesentliche Geltungsbedingungen der Mehrheitsregel verletzt werden, wenn über die strategische Einsatzplanung von Massenvernichtungsmitteln mit einfachen Mehrheiten (oder überhaupt durch Majorisierung) entschieden wird. Neben der von Simon erwähnten Irreversibilität der bevorstehenden Entscheidung über die Raketenstationierung läßt sich eine weitere Geltungsbedingung nennen, die heute nicht mehr unproblematisch erfüllt zu sein scheint.
Die von Eppler zusammengefaßte strategische Kritik an der Sicherheitsmentalität der nur auf äußere Sanktionen eingespielten, rein instrumentell denkenden Selbstbehauptungssysteme ist ja nur ein Argumentationsfaden in einem weitverzweigten Netz von Bedenken und Distanzierungen, denen die Friedensbewegung Ausdruck verschafft. Die heterogenen Gruppen, die sich in dieser Bewegung zusammenschließen, sagen nicht nur ein plebiszitäres Nein zu Atomraketen, vielmehr aggregieren sich in dieser Bewegung viele Neins: das Nein zu Atomwaffen mit dem Nein zu Atomkraftwerken, zur Großtechnologie überhaupt, zur chemischen Umweltverschmutzung, zu Apparatemedizin, Stadtsanierung, Waldsterben, Frauendiskriminierung, Fremdenhaß, Asylantenpolitik usw. Der Dissens, der in diesem komplexen Nein zu Wort kommt, zielt nicht gegen diese oder jene Maßnahme, diese oder jene Politik; er wurzelt in der Ablehnung einer Lebensform, und zwar jener zum Normalvorbild stilisierten Lebensform, die auf die Bedürfnisse einer kapitalistischen Modernisierung zugeschnitten, auf possessiven Individualismus, auf Werte der materiellen Sicherheit, des Konkurrenz- und Leistungsstrebens usw. programmiert ist und die auf der Verdrängung von Angst und Todeserfahrung beruht. Ob nun eine Republik Wendland gegründet oder eine Großdemonstration zum Volksfest ausgestaltet wird, schon an der Art des Protestes läßt sich ablesen, daß es heute um die Konfrontation verschiedener Lebensformen geht. Wenn sich aber gemeinsame kulturelle Überlieferungen und kollektive Identitäten aufspalten und wenn gleichwohl das Mehrheitsprinzip in lebenswichtigen Fragen weiterhin regiert, kommt es, wie im Falle nationaler, ethnischer und konfessioneller Minderheiten, zu Abspaltungen, d. h. zu einem Separatismus, der anzeigt, daß wesentliche Funktions- und Geltungsbedingungen des Mehrheitsprinzips verletzt sind.
Die Soziologie der Mehrheitsentscheidung hat ernüchternde Evidenzen zusammengetragen, die zeigen, wie weit die politischen Einigungsprozesse von jenen angenommenen Bedingungen tatsächlich abweichen, unter denen die Mehrheitsregel Verständigungsprozesse unter Entscheidungsdruck vernünftig operationalisiert.[16] Trotzdem halten wir an der von Minderheiten respektierten Mehrheitsentscheidung als dem Königsweg der demokratischen Willensbildung fest. Daran will auch heute niemand ernstlich rütteln. Aber bestimmte minimale Voraussetzungen müssen erfüllt sein, wenn die Mehrheitsregel ihre legitimierende Kraft behalten soll. So darf es keine geborenen Minderheiten geben, beispielsweise aufgrund gespaltener kultureller Überlieferungen und Identitäten. Ebensowenig darf die Mehrheit irreversible Entscheidungen treffen. Die Mehrheitsregel funktioniert nur in bestimmten Kontexten überzeugend. Ihr Wert muß sich an der Idee messen lassen, wie weit sich die Entscheidungen, die sie unter Bedingungen knapper Zeit und begrenzter Informationen ermöglicht, von den idealen Ergebnissen eines diskursiv erzielten Einverständnisses oder eines präsumptiv gerechten Kompromisses entfernen. Deshalb hat Claus Offe eine reflexive Handhabung der Mehrheitsregel angeregt, nämlich in der Weise, daß die Gegenstände, Modalitäten und Grenzen der Anwendung des Mehrheitsprinzips selbst zur mehrheitlichen Disposition gestellt werden. In dieser Dimension vermute ich die Rechtfertigung für den zivilen Ungehorsam, der sich einer demokratisch unzureichend legitimierten Aufstellung von Pershing II-Raketen widersetzt.[17]
Die erzwungenen Eindeutigkeiten
Ich halte es für ein Anzeichen der Reife der politischen Kultur in der Bundesrepublik, daß die Empfindlichkeit der Bürger für die Legitimität weitreichender politischer Entscheidungen heute unverkennbar größer ist als noch in der Adenauerzeit. Dafür spricht der Protest gegen die Art eines legalen, aber eben als illegitim empfundenen Regierungswechsels, auch der Protest gegen die Durchführung einer in Ziel und Verfahren nicht hinreichend transparent gemachten Volkszählung. In den letzten Monaten öffnet sich indessen die Schere zwischen diesen wachsenden Legitimationsforderungen und der Tendenz zu einem verhärteten Legalismus. Die von der Regierung beschlossene Änderung des Demonstrationsstrafrechts, die Art und Weise, wie sich CDU-regierte Länder den Gesetzesvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG zunutze machen, und das von der CSU betriebene Vermummungsverbot bringen die staatsbürgerliche Wahrnehmung von Grundrechten in die Nähe der gebührenpflichtigen Ausübung einer staatlichen Lizenz. Ein Staatssekretär denkt, im Hinblick auf den »heißen Herbst«, öffentlich über die Anwendung der Notstandsgesetze nach; und die FAZ denunziert, noch bevor sie die Urteilsbegründung kennt, namentlich einen Amtsrichter, der Teilnehmer an einer Blockade freigesprochen hat.[18] Es ist an der Zeit, ohne Nachgiebigkeit klarzumachen, in welchem Sinne ziviler Ungehorsam berechtigt ist.
Das ist etwas anderes als ein Aufruf zu zivilem Ungehorsam. Die Entscheidung, ein solches Risiko einzugehen, muß jeder für sich selber treffen. Das »Recht« auf zivilen Ungehorsam bleibt aus guten Gründen in der Schwebe zwischen Legitimität und Legalität. Aber der Rechtsstaat, der zivilen Ungehorsam als gemeines Verbrechen verfolgt, gerät auf die schiefe Ebene eines autoritären Legalismus. Die von Juristen ausgegebene, von Journalisten verbreitete, von Politikern aufgenommene Parole, Gesetz ist Gesetz, Nötigung ist Nötigung, entspringt derselben Mentalität wie die Überzeugung jenes ehemaligen NS-Marinerichters, der meinte, daß, was einmal Recht war, auch Recht bleiben müsse. Denn der zivile Ungehorsam im Rechtsstaat verhält sich zum aktiven Widerstand gegen den Unrechtsstaat wie der autoritäre Legalismus im Rechtsstaat zur pseudolegalen Repression des Unrechtsstaates. Was nach 1945 vielleicht eine Binsenweisheit gewesen wäre, hat heute Schwierigkeiten Gehör zu finden. Der Positivismus des gegen äußere und innere Feinde gerichteten Sicherheitsdenkens kann sich inzwischen auf einen in der Struktur ähnlichen Positivismus des Geschichtsdenkens stützen. Seitdem die neokonservativen Vordenker Einstimmung auf positive Vergangenheiten zur nationalen Pflicht erhoben haben, finden die falschen Positivitäten der Gegenwart an denen der Vergangenheit ein historisches Unterpfand. Es ist die gleiche Geisteshaltung, im Militärischen wie im Historischen, und erst recht im Juristischen, die sich um so sturer an Eindeutigkeiten klammert, je mehr der Boden unter den Füßen schwankt. Dabei hat die Zweideutigkeit niemals eine handgreiflichere Existenz angenommen als in jenen Waffen, die perfektioniert werden, um niemals zum Einsatz zu gelangen. Wenn es wahr ist, daß die Supermächte sich nun anschicken, auch im Atomzeitalter zur Eindeutigkeit gewinnbarer Kriege zurückzukehren, wiederholt sich in dieser Utopie der Sicherheit die gleiche Denkstruktur wie in jenem rechtspositivistischen Mißverständnis der wehrhaften Demokratie, das mit der Zweideutigkeit zivilen Ungehorsams aufräumen will. Der autoritäre Legalismus verleugnet die humane Substanz des Nicht-Eindeutigen genau dort, wo der demokratische Rechtsstaat von dieser Substanz zehrt.
Quelle: Peter Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983, S. 29-53.
[1] C. Cohen, Law, Speech and Disobedience, in: H. A. Bedau (ed.), Civil Disobedience, New York 1969, S. 165 ff.
[2] Zuletzt W. D. Narr, Zwölf Thesen zur Gewalt, in: R. Steinweg (Red.), Faszination der Gewalt, Frankfurt/M. 1983, S. 30 ff.
[3] J. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975, S. 401.
[4] R. Dreier, Widerstandsrecht im Rechtsstaat, in: Festschrift H. U. Scupin, Berlin 1983, 573 ff.; G. Frankenberg, Ziviler Ungehorsam und rechtsstaatliche Demokratie, Ms. Cambridge 1983. Diesem Manuskript verdanke ich mehr Anregungen, als ich durch Hinweise deutlich machen kann. Vgl. auch G. Frankenberg, Der neue Unge¬horsam, in: Süddeutsche Zeitung vom 1./2. Oktober 1983.
[5] Dreier, Widerstandsrecht (s. Anm. 4), S. 587.
[6] Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (s. Anm. 3), S. 400.
[7] E. Denninger, in: Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, Darmstadt/Neuwied (im Erscheinen).
[8] G. Frankenberg, U. Rödel, Von der Volkssouveränität zum Minderheitenschutz, Frankfurt/M. 1981.
[9] R. Dworkin, Civil Disobedience, in: ders., Taking Rights Seriously, Cambridge, Mass. 1977, S. 206 ff. vgl. auch den Titelaufsatz desselben Bandes S. 184 ff. (Deutsche Übersetzung: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/M. 1984, im Erscheinen.)
[10] F. K. Fromme in der FAZ vom 13. August 1983.
[11] Th. Blanke, D. Sterzel, Demonstrationsrecht und Demonstrationsfreiheit in der BRD, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hg.), Demonstrationsrecht und gewaltfreier Widerstand, Sensbachthal, S. 71 ff.
[12] Dreier, Widerstandsrecht (s. Anm. 4), S. 593: »Wer allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich, gewaltlos und aus politisch-moralischen Gründen den Tatbestand von Verbotsnormen erfüllt, handelt grundrechtlich gerechtfertigt, wenn er dadurch gegen schwerwiegendes Unrecht protestiert und sein Protest verhältnismäßig ist.« Vgl. aber Dreiers einschränkende Bemerkungen in diesem Band.
[13] Vgl. den Beitrag von H. Schüler-Springorum in diesem Band.
[14] Chr. v. Krockow, Die Versuchung des Absoluten, Die Zeit, 2. 9. 1983.
[15] E. Eppler, Die tödliche Utopie der Sicherheit, Hamburg 1983; A. Mechtersheimer, P. Barth (Hg.), Den Atomkrieg führbar und gewinnbar machen? Hamburg 1983.
[16] C. Offe, Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung, Ms. Bielefeld 1983, erw. Fassung eines unter gleichem Titel erschienenen Aufsatzes in Journal für Sozialforschung 1982, S. 311 ff.
[17] Den Einwand, daß auch die Ostpolitik seinerzeit von der sozialliberalen Koalition mit knappen Mehrheiten durchgesetzt worden sei, betrachte ich nicht als stichhaltig. Ließe sich der Abschluß der Ostverträge in eine ähnliche historisch-moralische Perspektive rücken wie die Durchsetzung von Bürgerrechten oder die Ächtung von Massenvernichtungsmitteln ?
[18] In der Ausgabe vom 5. August 1983.