Von Hans G. Ulrich
„Herr, lehre uns beten!“ – Wenn wir fragen, was Beten heißt, liegt es nahe, uns dieser Bitte anzuschließen, mit der der Jünger sich an Jesus wendet (Lk 11,1). Jesus belehrt nun aber seine Jünger nicht über das Beten, sondern er zeigt ihnen, was Beten heißt, durch ein Gebet. Und mehr noch: er läßt sie mit diesem Gebet an seinem eigenen Beten teilhaben. Jesus gibt nicht nur ein besonders gutes Beispiel für ein Gebet, sondern er läßt die Jünger mit einem bestimmten Gebet anfangen – sie werden dann mit diesem Gebet, im Gebrauch dieses Gebetes, erfahren und erkennen, was Beten heißt. Sie lernen beten durch Beten. Das „Vaterunser“ ist aber noch mehr. Genau besehen ist in der Anrede und in jeder einzelnen Bitte selbst indirekt eine Regel enthalten, die für jedes Gebet gilt. So wird hier im Gebet etwas über das Beten gesagt.
Was heißt: Beten lernen?
An diesem Beten-Lernen können wir ein Stück weit sehen, was Beten kennzeichnet: Beten beginnt voraussetzungslos. Es geht nicht darum, Bedingungen zu finden, die zum Beten nötig sind, oder bestimmte Vorbereitungen zu treffen. Die Frage „Wie kann ich beten?“ will im Gebet selbst gestellt werden, sie kann nicht vorweg beantwortet oder gelöst werden. So hat Dietrich Bonhoeffer ein Morgengebet beginnen lassen: „Gott, zu Dir rufe ich in der Frühe des Tages. Hilf mir beten und meine Gedanken sammeln zu Dir; ich kann es nicht allein.“[1] Martin Luther hat seine eigene Gebetspraxis so beschrieben, daß er immer damit beginne, vorgegebene Gebete zu lesen, bis „das Herz“ dann an einem bestimmten Punkt, vielleicht mit einer bestimmten Bitte des Vaterunsers, ins Beten komme[2]. Er betet sich sozusagen ins Beten hinein.
Mit der Frage: „Wie können wir beten?“ geht es also um dieses Hineingezogenwerden in das Gebet, um das voraussetzungslose und unbedingte Anfangen. Nicht aus einer bestimmten „Würdigkeit“ oder gar aufgrund einer entsprechenden Vorbereitung, sondern mit dem Beten selbst beginnt das Beten. Auch wenn jemand die rechte Zeit abwarten will, kommt er nicht zum Beten; diese Zeit findet sich nie. Zum Beten kommen heißt, sich auf das Beten selbst einlassen, heißt, sich vom Beten selbst mitnehmen und führen zu lassen.
Sich auf das Beten einlassen bedeutet nichts Vages, sondern es heißt der Verheißung folgen, die dem Beten gilt. Luther sagt es so: „Nicht auf meine Andacht und Heiligkeit wage ich’s, dich zu bitten, sondern weil aus dem Munde deines Sohnes die Verheißung kam: ‚Wer da bittet, der nimmt.‘ Mag auch das Herz nicht inbrünstig und andächtig genug sein, ich baue auf das Wort.“[3] In seiner Predigt über Joh 16 lenkt er darauf den Blick: „Wenn du beten willst, so sprich: ,Mein Vater, ich komme zu dir auf dein Wort und deine Verheißung hin, daß du uns anhören willst, ich hänge mich an das Wort, das aus dem Munde deines lieben Sohnes ergangen ist …“ Hältst du aber das Wort fest und es fällt dir dabei ein Flattergedanke ein, so kannst du dich am Wort wieder ausrichten.“[4]
Dies ist der Ort, die Situation des Gebetes – nein, wir müssen wohl sagen: es gibt keine bestimmte Situation; es ist dieses immer gleiche und doch immer neue Anfängen, vom Gebet selbst getragen, auf Gottes Verheißung hin zu ihm zu reden. Weil dies der ausgezeichnete Ort ist, der dem Menschen zugewiesen wird, sollte nicht versucht werden, vom Menschen aus die Dimensionen der Erfahrungen und Erwartungen oder der Wirklichkeit zu ermessen, in denen sich der Beter nach Gott ausstreckt. Wenn er im Gebet die ganze Wirklichkeit Gottes selbst zu umgreifen hätte, würde er sich verlieren.
Das Beten hat dies mit dem Glauben gemeinsam: es beginnt wie das Glauben aus dem Nichts (vgl. Röm 4,17f.), allein auf Gottes Wort hin. So kann man sagen: Beten lernen heißt glauben lernen. „Wie soll der beten, der plötzlich in Nöten ist, wenn er des Sinnes ist, er müsse vorher rein und heilig sein? Er muß vielmehr lernen, mit den Sünden zu beten und aus ihnen herauszuspringen und zu Gott zu sagen: ‚Nicht auf meine Andacht und Heiligkeit wage ich’s zu bitten, sondern weil aus dem Munde deines Sohnes die Verheißung kam …‘“[5]
Das selbstverständliche Beten der Kinder Gottes
Beten aufgrund der Verheißung – das heißt, den Ort der Kindschaft, des Kindseins gegenüber dem Vater einnehmen zu dürfen. Dies nämlich ist im biblischen Reden zunächst die Bedeutung des Vaterseins Gottes und des Kindseins. Gottes Kind sein heißt: an den Verheißungen und ihrer Erfüllung teilhaben. Kindsein meint also die Zugehörigkeit zum Vater, die rechtmäßige Zugehörigkeit zur Familie sozusagen. Wer dazugehört, ist Erbe. Diesen Zusammenhang zeigt Röm 8,14-17 ebenso wie Gal 4,4-7. Hier stehen nicht ein kindliches Vertrauen im Vordergrund, das etwa zu einem fürsorgenden Vater aufblickt, oder andere Nuancen dieser Metaphorik. Vielmehr wird von der Zugehörigkeit gesprochen, die ein selbstverständliches Bitten begründet. Das Kind ist nicht Bittsteller, sondern berechtigter Empfänger der Verheißung und ihrer Erfüllung. Auch die johanneische Theologie entfaltet einen ähnlichen Zusammenhang (vgl. Joh 15,15 f.). Die Erwählung in die Freundschaft setzt die Freunde in die Verheißung der Gebetserhörung ein.
Der Beter ruft Gott als den rechtmäßigen Vater an. Er nimmt sein Recht wahr, er ist nicht Bittsteller, der aufs Geratewohl zu beten hat, und der daher erbitten muß, was ihm nötig scheint. Der Beter vermag vielmehr Gott daraufhin anzusprechen, was Gott verheißen hat. Das ist der tiefgreifende Unterschied zwischen dem „Knecht“, dem Unfreien, der Bittsteller bleibt, und dem Kind, das die Freiheit der Kinder Gottes teilt (Röm 8,21).
Darin kann man das Besondere der Beziehung zum Vater sehen. Das ist keine Bedingung, die der Christ erfüllen müßte, wenn er beten will, sondern das ist seine Auszeichnung: „Wer kann nun die Ehre und hohe Stellung eines Christenmenschen ausdenken? … durch sein Priestertum hat er Macht über Gott; denn Gott tut, was er bittet und will, wie im Psalter geschrieben steht (Ps 145,19): ,Gott tut den Willen derer, die ihn fürchten, und erhört ihr Gebet‘: Zu dieser Ehre kommt der Christ einzig nur durch den Glauben und durch kein Werk.“[6] Der Christ hat Macht über Gott den Vater, daß er ihn auf seine Verheißung hin ansprechen kann. So nimmt er – wie Luther hier ausführt – insbesondere im Gebet die Freiheit eines Christenmenschen wahr.
Bestätigt und vertieft wird diese Ortsbestimmung des Gebetes dadurch, daß biblisch vom „Vater“ als dem gesprochen wird, der für die Verheißungen eintritt, der dieser bestimmte Gott der Verheißungen ist. Sein Vatersein meint, dieser daraufhin ansprechbare Gott zu sein (vgl. Mt 25,34; 1.Kor 8,6).
So heißt Vertrauen auf den Vater, das Sich-Einlassen auf Gottes Treue, nicht eine vom Menschen aufzubringende Vertrautheit oder ein Gefühl des Aufgehobenseins. Das Vertrauen findet in der Treue Gottes seinen Halt – es ist selbst ein voraussetzungsloses Vertrauen.
Nicht allein beten
Das Vertrauen des Beters ist voraussetzungslos, aber es ist nicht blindes Vertrauen. Im Gebet werden ihm die Augen geöffnet, er darf sich auf Gottes bestimmtes Handeln einlassen. Der Beter ruft nicht irgendeine göttliche Macht an, sondern Gott, der der Vater Jesu Christi ist.
Im Beten sind wir nicht allein. Im Gebet beruft sich der Christ auf Jesus Christus. Er ist der Mittler. Daher werden Gebete (z. B. das Kollektengebet) im Gottesdienst mit der Formel geschlossen: „durch Jesus Christus, unseren Herrn… „
Beten steht nicht unter dem Anspruch, einen unmittelbaren, persönlichen Zugang zu Gott eröffnen zu müssen, sozusagen einen Weg zu Gott erst schaffen zu müssen. Mit dem Gebet „durch Christus“ dürfen wir uns darauf berufen, daß dieser Weg schon eröffnet ist. In Jesu Namen bitten, das heißt nicht im eigenen Namen, im Sinne von „Sieh mich an!“. Auch darin geschieht das Gebet in der Freiheit davon, vor Gott etwas darstellen zu müssen.
Beten in und durch Christus heißt beten, „als wenn Christus bäte und empfinge“[7]. In sein Gebet stimmen wir ein. Wir müssen keinen unmittelbaren Zugang zu Christus haben, der mehr oder etwas anderes wäre als eben dieses Einstimmen in sein Gebet, wie es im Vaterunser geschehen ist. In diesem Gebet dürfen die Christen sich mit ihm eins wissen. In diesem Mit-Christus-Beten wird ihnen ein Zugang zu ihm eröffnet.
Daher ist das Gebet für den Christen kein einsames Gebet. Auch wenn er zu Hause betet, ist er nicht allein, sondern im Namen Jesu Christi betet die ganze Gemeinde mit. Was sie in seinem Namen bittet, schließt jeden ein: niemand kann hier ausgeschlossen werden. So kann die Gemeinde auch für einen einzelnen beten, sie kann für ihn bitten, ohne von seinen individuellen Wünschen auszugehen. Was sie im Namen Jesu Christi erbitten kann, ermißt sich daraus, was ihm von Gott her zukommt.
Im Gebet Gott kennenlernen
So ist das Gebet nichts, was der Beter selbst hervorbringt, sondern woraus er etwas empfängt, ja worin er selbst die Möglichkeit zum Beten gewinnt. Das Gebet ist der Ort, wo das eigene Tun, das Beten, zu einem Nicht-Tun, einem Empfangen im Tun wird. Der Beter tut etwas, indem er das Gebet spricht -, aber dies ist schon alles, was er tut, um darin nun alles zu empfangen. Das ist die Erfüllung der Gebetsverheißung, daß der Beter darin Gott als den kennenlernt, der handelt. Im Gebet lernt er zwischen Gottes Handeln und seinem eigenen Tun unterscheiden. In dieser Unterscheidung bewegt sich das Gebet. So erfährt der Beter im Gebet das Entscheidende von Gott. Er erkennt Gott als den, der ihn so beten läßt. Die im Gebet ausgesprochene Erkenntnis von Gott holt den Beter ein. Er betet dann nicht zu dem Gott, wie er ihn sich „vorstellt“, zu „seinem“ Gott, in dem er nur sich selbst antrifft, sondern im Gebet wird ihm klar, „wer“ der Gott ist, zu dem er betet. Im Gebet gewinnt er diese Erkenntnis, indem er sie gebraucht: „Denn da (seil, im Gebet) predigt der Heilige Geist selbst, und ein Wort von seiner Predigt ist besser als von unseren Gebeten tausend; und so habe ich auch in einem Gebet oft mehr gelernt, als ich aus vielem Lesen und Nachsinnen hätte kriegen können.“[8]
Selbsterkenntnis statt Selbstbetrachtung
Wenn es so um das Empfangen, das Hören im Gebet geht, dann lebt das Gebet davon, daß es konzentriert bleibt, daß die Gedanken nicht abirren, sondern „das Herz“ dabei ist. Das Gebet ist die ausgezeichnete – die durch die Verheißung ausgezeichnete – Gelegenheit, sich nicht in den eigenen herumirrenden Gedanken, in den suchenden Wünschen und Erwartungen zu verlieren, womöglich sie dort erst recht zur Entfaltung zu bringen, sondern davon frei zu werden. Daher ist es gut, nicht viele Worte zu machen. So lernt der Beter in der Anrede auch sich selbst kennen; er lernt sein Herz kennen, erfährt, wo es einstimmt, mitbetet. Wenn das Gebet diese Art von Meditation ist, die aus der Selbstbetrachtung heraustreten läßt, dann bleibt das Gebet kein Selbstgespräch, sondern wird zur Anrede Gottes. Das Gebet ist die Gelegenheit, das womöglich endlos in sich selber kreisende Selbstgespräch zu unterbrechen und im Beten zum Hörenden und Empfangenden zu werden.
Der Heilige Geist hilft beim Beten
Dies gilt für das Bittgebet, sofern es sich in Wünschen und Sehnsüchten verliert und nicht weiß, was das Herz wirklich begehrt. Und dies gilt für die Klage, die nicht weiß, auf welchen Trost hin sie klagen soll, die das Herz nur noch untröstlicher macht. Durch das Gebet nimmt der Christ den Trost wahr, der ihm notwendig ist, wenn er selbst untröstlich ist. Hier braucht er in besonderer Weise das Gebet, um sich in der Klage nicht zu verlieren. Dies fällt besonders schwer: „Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, was des Geistes Sinnen sei; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt“ (Röm 8,26 f.).
Hier ist gesagt, daß wir den Beistand des Heiligen Geistes brauchen, um uns zu erkennen, weil wir nicht wissen, was wir – so dürfen wir das Wort „Herz“ verstehen-im Ursprung unseres Wünschens und Sehnens brauchen. Im Gebet werden wir vom Heiligen Geist an den Ursprung des Bittens geführt — auch entgegen unserem Wünschen und auf Sichtbares gerichtetem Hoffen. Daß Menschen von ihren Wünschen befreit werden, daß sie erkennen, was ihnen wirklich fehlt, wenn sie so beten, daß sie nicht auf ihren Wünschen beharren, sondern auf die Verheißung Gottes hören: dies dürfen sie vom Gebet erwarten.
So erfüllt sich im Beten selbst die Verheißung: „Wenn ihr den Vater etwas bitten werdet, so wird er’s euch geben in meinem Namen“ (Joh 16,23). Es ist etwas von der Zukunft Gottes angesagt, in der zwischen Gott und Mensch nicht das menschliche Sehnen und Hoffen steht, aus denen die Trauer kommt. Das Gebet führt in die Freude der Kinder Gottes.
Beten als Zeichen der neuen Hoffnung
Durchweg ist der Ort des Betens als der Ort der Gotteszukunft markiert. Es ist nicht der Ort oder die Situation, in der wir uns „immer schon“ von Gott getragen wissen müßten, ein solches vorgegebenes Vertrauen haben müßten, aus dem dann das Gebet hervorgeht. Vielmehr gewinnen Menschen im Beten erst dieses Vertrauen. So treten sie in das verheißene, zukünftige Leben mit Gott ein. Im Gebet vollzieht sich „schon“ dieses zukünftige Leben mit Gott. Im Gebet muß nichts zwischen Gott und den Menschen treten – insbesondere keine falsche Rücksicht auf die eigenen Empfindlichkeiten oder auf die Erwartungen anderer Menschen. Im Gebet tritt der Beter so in die Zukunft eines neuen Lebens ein. Im Beten wird Gottes Zukunft gegenwärtig. Das Beten ist erfülltes Warten, ein Tun, das auf das erfüllende Handeln Gottes ausgerichtet ist, auf das end-gültige Handeln Gottes. Dieses Beten richtet sich nicht auf vorläufige Lösungen, sondern bei jeder Bitte klingt das „Dein Reich komme!“ mit. Daher lautet die Aufforderung zum Beten: „So seid nun wach allezeit und betet, daß ihr stark werden möget, zu entfliehen diesem allem, was geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn“ (Lk 21,36).
Mit diesem Gebet „Dein Reich komme“ wird eine neue Hoffnung ausgesprochen. Es ist das Gebet derer, die „wiedergeboren“ sind zu „einer lebendigen Hoffnung“ (1.Petr 1,3). Mit dieser neuen Hoffnung bricht das Reich Gottes an; sie läßt die alten Erwartungen hinter sich. So ist das Gebet der Ort, an dem die neue Hoffnung ausgesprochen wird. „In Hoffnung sind wir ja Kinder Gottes und also fähig jenes eigentlichen und höchsten Gehorsams in der Einheit unseres Willens mit dem Willen Gottes.“[9] So gilt auch: Beten lernen heißt hoffen lernen.
Dazu gehört zuallererst, daß Menschen im Gebet ihre Hoffnung nicht an ihre Handlungsmöglichkeiten binden. Im Gebet bricht Gottes Zukunft an, sofern das Gebet ganz auf Gottes Handeln blickt. Das Gebet ist der Ort, an dem der Beter in seinem Tun innehalten darf. Am deutlichsten würde das Beten verfehlt, wenn der Beter im Gebet aussprechen würde (möglicherweise indirekt), was er sich zu tun vornimmt. Sein eigenes Tun „bleibt“ das Beten – und eben dazu wird er ermahnt: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet“ (Röm 12,12). Das soll er tun. Dieses Tun tritt nicht an die Stelle des Handelns, es ist vielmehr in dieses eingefügt – als die begleitende Erinnerung daran, daß menschliches Tun von Gottes Handeln getragen ist. So wirft das Tun des Betens ein Licht auf alles Tun. In ihm lernt der Beter, Gottes Handeln von seinem eigenen zu unterscheiden[10]. Er lernt wegzusehen von den Möglichkeiten und Grenzen seines eigenen Handelns, indem er spricht: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“ Diese Bitte reicht weiter als die Einsicht, daß menschliches Handeln nicht auf sich gestellt ist. Eine solche Einsicht muß unbestimmt bleiben, sie enthält keine Hoffnung. „Dein Wille geschehe“ meint nicht ein (womöglich fatalistisches) Geschehenlassen, sondern die erwartungsvolle Einstimmung in den Willen Gottes.
In dieser Einstimmung kann der Beter davon absehen, abschätzen zu wollen, ob sein Handeln mit dem Willen Gottes „übereinstimmt“. Er überläßt sich dem Urteil Gottes und bittet daher zugleich um Vergebung.
So kann das Handeln des Menschen mit dem Gebet wirklich anfangen. Durch solches Anfangen lernt der Beter: Alles Handeln ist ein Anfangen, wenn es nicht nur fortsetzt, was schon ist, oder versucht, vergangenes Handeln handelnd zu korrigieren[11].
Das Tun des Beters und sein Handeln
Beten läßt im Handeln innehalten, richtet den Blick auf das Handeln Gottes. Es tritt aber durchaus nicht gleichberechtigt neben das geforderte und notwendige Handeln, sondern begleitet dieses so, daß in ihm als dem vorrangigen Tun um so deutlicher hervortritt, worauf sich das Handeln zu richten hat.
Wer betet, ist sozusagen schon dabei zu handeln: er hat schon angefangen zu handeln; er ist keineswegs der, der in der Betrachtung verharrt, aus der er heraustreten müßte, um zum Handeln zu kommen. Wer betet, läßt sich auf die Frage „Was sollen wir tun?“ schon ein. So und nicht anders muß wohl Bonhoeffers Aussage verstanden werden: „…unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muß neugeboren werden aus diesem Beten und aus diesem Tun.“[12]Hier geht es um die Erneuerung und Veränderung der Welt- auch durch eine andere Verkündigung: „Es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten.“[13] Damit ist gesagt, daß auch das „Handeln“ – als das Tun des „Gerechten“ – in die Erneuerung der Welt einbezogen ist: es ist auf die eschatologische Erneuerung ausgerichtet.
Gerade dadurch, daß das Handeln des Menschen in diese Hoffnung versetzt wird, bedarf es der unterscheidenden Kraft des Gebetes: denn dem Menschen kann es nicht zukommen, darüber zu urteilen, ob er das „Gerechte“ tut. Um so notwendiger ist es, daß er alles Handeln unter die Bitte stellt: „Und vergib uns unsere Schuld.“ Dann wird das Tun des Gerechten nicht zu dem Versuch, etwas „Gerechtfertigtes“ zu tun. Das wird im Handeln nur hinderlich sein. Wenn unser Tun das Recht des Nächsten gelten läßt, dann kann es ohne Gebet um Vergebung nicht gelingen. In ihm gewinnt der Beter die Erkenntnis, daß sein Handeln nicht auf die eigene Gerechtigkeit zielen kann.
Beten lernen – hoffen lernen
Im Gebet spricht der Beter aus, woran er sich hält. Nur – im Gebet muß er dies nicht bloß zustimmend tun, indem er sich Mut macht mit etwas Positivem, das er bejaht (z.B. „es gibt noch eine Zukunft!“), sondern er kann es einstimmend tun, in der Bitte, der Klage und der Danksagung. In allen diesen drei Gebetsformen wird das, worauf sich die Hoffnung richtet, so ausgesprochen, daß dabei die Hoffnung nicht zuschanden wird – weil sie als die ausgesprochen wird, die im Handeln Gottes ihren Grund hat. Im Gebet muß sich der Beter keiner Aussichten vergewissern. Er kann sagen, wie es wirklieh mit seiner Hoffnung aussieht, er braucht die Hoffnung nicht als Illusion festzuhalten: Im Bittgebet darf er um das bitten, was er als „Wunsch“ nicht mehr aussprechen kann, in der Klage darf er aussprechen, was über eine Selbstkritik oder einen Zweifel an der Welt hinausführt, er darf sich von Gottes Geist mit „unaussprechlichem Seufzen“ vor Gott vertreten lassen (Röm 8,26), im Dankgebet darf er gut heißen, was sein eigenes Urteilsvermögen übersteigt. So bestätigt sich, daß Beten lernen hoffen lernen heißt; denn die Hoffnung, die im Handeln Gottes gründet, scheitert nicht an den Wünschen, an den Zweifeln und an der Selbstkritik oder an den eigenen Wertschätzungen.
„Hoffnung aber läßt nicht zuschanden werden, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den heiligen Geist, welcher uns gegeben ist“ (Röm 5,5). Wenn dieses Herz bittet, wenn wir im Gebet dieses Herz beten lassen, dann sind wir Gottes Kinder.
Quelle: Glaube und Lernen 1 (1986) S. 13-21.
[1] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Neuausgabe München 1970,158. Zur Frage des Beten-Lernens und des Betens vgl. auch ders., Das Gebetbuch der Bibel. Eine Einführung in die Psalmen (1940), in: Ders., Gesammelte Schriften IV, hrsg. von Eberhard Bethge, München 1961, 544-569; zur Interpretation s. Eberhard Bethge, Der Ort des Gebets in Leben und Theologie Dietrich Bonhoeffers, in: Ders., Bekennen und Widerstehen. Aufsätze, Reden, Gespräche, München 1984, 159-177.
[2] Martin Luther, Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund, 1535 (WA 38, 358-373), zitiert nach: Calwer Luther Ausgabe III, hrsg. von Wolfgang Metzger, Gütersloh 21977, 85f. – Zum Beten des Herzens s. auch D. Bonhoeffer, Das Gebetbuch der Bibel, a.a.O., 544 f. 546 f. – Von diesem Beten des Herzens ist das in Gemeinschaftskreisen geübte und empfohlene tiefinnerliche „Herzensgebet“ wohl zu unterscheiden.
[3] Martin Luther, Predigt am Sonntag Rogate über Joh 16,23-30, 1531 (WA 34/1,379-391); zitiert nach: Calwer Luther Ausgabe VI, hrsg. von Wolfgang Metzger, Hamburg 1967, 128.
[4] Ebd., 129.
[5] Ebd., 128.
[6] Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520 (WA 7,20-38), zitiert nach: Calwer Luther Ausgabe II, hrsg. von Wolfgang Metzger, Gütersloh 41977, 172.
[7] M. Luther, Predigt über Joh 16,23-30, a.a.O., 131.
[8] M. Luther, Eine einfältige Weise zu beten, a. a. O., 91.
[9] Karl Barth, Ethik II (1928/1929), hrsg. von Dietrich Braun, Zürich 1976, 451.
[10] Gerhard Sauter, Das Gebet als Wurzel des Redens von Gott, in diesem Heft S. 31 ff.
[11] Vgl. dazu Hannah Arendt, Macht und Gewalt (engl. 1970), München 31975, 81 f.
[12] D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, a. a. O., 328.
[13] Ebd.
Ich bin überwältigt von diesem Beitrag! Mir wurden die wichtigsten Fragen bezüglich des Gebets beantwortet, die mir seit einigen Tagen in den Sinn kamen. Nun verstehe ich auch, wie das Beten ohne Unterlass „funktionieren“ kann.
Was mich besonders berührt hat, ist die Stelle „Beten in und durch Christus heißt beten, „als wenn Christus bäte und empfinge“ „. 🌸
Danke JESUS.🙏