Martin Luther über das Meditieren der Heiligen Schrift (zu Psalm 119,24): „Darum darfst du niemals hochmütig sein, als wärest du schon satt und reich. Immer soll dir die Schrift Zeugnis dessen sein, was du noch nicht verstanden und noch nicht getan hast. Dennoch sollst du immer darnach trachten und darauf warten, es zu tun und zu verstehen, wie (Psalm 119, Vers 20) sagt: meine Seele ist begierig nach deinen Rechten zu aller Zeit.“

Über das Meditieren der Heiligen Schrift. Zu Psalm 119,24: „Über deine Zeugnisse meditiere ich“

Von Martin Luther

Merke fleißig: wo immer in der heiligen Schrift du eine Stelle nicht ganz verstehst und nicht die ganze in ihr verborgene Wahrheit begreifst, wenn du auch vielleicht Etliches, vielleicht sogar viel von ihr verstehst, so wisse, dass diese Stelle dir noch immer ein Zeugnis der Wahrheit ist, die dir noch offenbart werden soll oder wenigstens kann. Denn eben darum heißt sie Zeugnis, weil sie vom Künftigen zeugt oder weissagt. Jede Stelle der heiligen Schrift aber kann man unendlich verstehen. Darum sei nicht hochmütig, wieviel du auch verstehst. Widersprich und widerstehe keinem andern, denn es sind Zeugnisse, und der andre sieht vielleicht, was du nicht siehst, und was ihm schon Recht und Rede ist, das ist dir noch Zeugnis. Darum muss man im Verständnis der heiligen Schrift immer weiter fortschreiten. Und die erste Stufe (solchen Fortschreitens) ist immer gleichsam schon Geist, die nächste Stufe aber gleichsam noch verschlossener Buchstabe, den man noch nicht durchschaut, bis er offenbart wird. Darum sagt auch der Apostel (2. Kor. 3,18 Vulgata): wir aber schauen mit dem aufgedeckten Angesicht die Herrlichkeit des Herrn und werden gleichsam vom Geist des Herrn von einer Klarheit zur andern geführt. So ist es sowohl im aktiven wie im kontemplativen Leben: im aktiven Leben muss man immer fortschreiten von Tat zu Tat, von Tugend zu Tugend, im kontemplativen von Verständnis zu Verständnis, von Glaube zu Glaube, von Klarheit zu Klarheit, von Erkenntnis zu Erkenntnis …

Darum fügt er auch mit Recht hinzu: über deine Zeugnisse meditiere ich. Denn meditieren heißt: innerlich nachdenken, das Innere erforschen, immer dem innerlichen Geist folgen, sich nichts verbauen, sich keine Grenze setzen, als ob man schon am Ende des Verstehens oder Tuns angelangt sei. Darum habe ich mit Recht gesagt, dass die Zeugnisse vor allem Glauben fordern: was du noch nicht verstehst, sollst du dem glauben, der es versteht, und nicht auf Grund einer eigenen Autorität eine Meinung aufstellen noch mit einem andern über das streiten, worüber du nichts weißt oder im Zweifel bist. Über die Zeugnisse meditieren heißt daher innerlich erkennen, dass die Zeugnisse Zeichen und Zeugen des Künftigen sind. Denn wer die heilige Schrift nicht in ihrer Beziehung aufs Künftige versteht und tut d. h. so, dass er weiß, dass ihm noch immer etwas an Verständnis und Tun fehlt, und dass er gläubig darauf wartet und darnach verlangt, es endlich doch zu verstehen und zu tun, der lässt die heilige Schrift nicht Zeugnis des Herrn sein. Nun aber bleibt bis zum künftigen Leben noch immer viel zu verstehen und zu tun übrig. Darum darfst du niemals hochmütig sein, als wärest du schon satt und reich. Immer soll dir die Schrift Zeugnis dessen sein, was du noch nicht verstanden und noch nicht getan hast. Dennoch sollst du immer darnach trachten und darauf warten, es zu tun und zu verstehen, wie (Psalm 119, Vers 20) sagt: meine Seele ist begierig nach deinen Rechten zu aller Zeit. Nicht, dass wir in diesem Leben alles verstehen und tun müssten, aber unsre Seele sollte bereit sein, und niemals davon ablassen, mehr zu tun und zu verstehen und niemals Grenze Ziel und Maß zu setzen. Denn das heißt den Geist der Freiheit haben, dem keine Satzung noch Gesetz gegeben ist, weil er mehr tut, als ihm befohlen ist. Und wenn er ewig leben dürfte, so würde er ewig darnach trachten, zu verstehen und zu tun und niemals rückwärts gehen. So ist einer, der über die Zeugnisse des Herrn meditiert und seine Zeugnisse hält.

Scholien zur ersten Psalmenvorlesung 1513/15 (vgl. WA 4, 318,35-319,10; 319,27-220,10)

Quelle: Erwin Mülhaupt, D Martin Luthers Psalmen-Auslegung, Bd. 3, Göttingen 1965, 437f.

Hier der Text als pdf.

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