Die Reformation und wir Menschen von heute
Von Karl Barth
Die Reformation bedeutet für uns ein Angebot und es kann keine Frage sein, dass dies ein großes, gutes und verheißungsvolles Angebot ist. Und auch dies kann keine Frage sein, dass wir es nötig haben, dieses Angebot anzunehmen. Drei Dinge sind es, die uns hier angeboten werden: ein Boden unter unsere Füße, auf dem wir stehen können, eine klare Weisung und Erkenntnis in dieser unserer Zeit großer Verwirrung und Geisterei und endlich eine fröhliche Zuversicht mitten in dem Dunkel und den Sorgen der Gegenwart. Dass das ein verheißungsvolles Angebot ist, das kann wohl kein Zweifel sein und auch das nicht, dass wir dieses Angebot nötig haben. Aber das fragt sich freilich, ob wir es sehen, was uns da angeboten wird, und ob wir es sehen, wie groß unsere Bedürftigkeit ist. Vielleicht sind wir blind und können es nicht sehen. Vielleicht schlafen wir auch nur. Wie dem auch sei, über das Thema: „Die Reformation und wir Menschen von heute“ lässt sich nicht reden ohne das Gebet: „Herr, öffne uns die Augen, dass wir sehen!“
I.
Wenn wir von der Reformation reden, dann meinen wir damit die große geschichtliche Bewegung vor 400 Jahren, im 16. Jahrhundert, in welchem die christliche Kirche in Deutschland, in Frankreich, in England, in Ungarn und auch in der Schweiz ein neues Gesicht bekam in ihrer Lehre, in ihrem Gottesdienst, in ihrer Verfassung. In ihrer Lehre, indem die Bibel wieder zur Grundlage der christlichen Predigt gemacht wurde, in ihrem Gottesdienst, indem die Messe daraus verschwand und an ihre Stelle die Verkündigung des Wortes der heiligen Schrift trat, und in ihrer Verfassung, indem der Papst in dieser Kirche nicht mehr regieren durfte und seine Bischöfe zum Teil die Flucht ergreifen mussten!
Warum nennt man diesen Vorgang die Reformation, d. h. die Erneuerung? Wie Alles in der Welt, so unterliegt wohl auch die Kirche Veränderungen. Aber die Erneuerung? Gab es nicht auch andere Erneuerungen in der Kirche? Brach nicht nach der Reformationszeit jene Zeit an, in der die Kirche in der Auseinandersetzung stand mit der modernen Kultur, die Zeit der Aufklärung, und folgte ihr nicht jene Zeit vertiefter und eifriger Pflege des persönlichen inneren Lebens, die wir die Zeit des Pietismus nennen? Hat nicht unsere Schweizer Kirche vor ca. 20 Jahren die Botschaft ausgehen lassen, dass sie nun Wege finden müsse und Weisung für die soziale Not der Gegenwart und ertönt nicht heute in Deutschland der Aufruf zum kirchlichen Anschluss an die große nationale Bewegung der letzten Jahre? „Erneuerung“ über „Erneuerung“! Aber alle diese „Erneuerungen“ sind von der Reformation dadurch unterschieden, dass sie zurückzuführen sind auf gewisse Anstöße, die das Leben der Kirche von außen bekommen hat, und auch dadurch, dass sie alle mehr oder weniger sich nur auf Einzelheiten beschränkten: keine von diesen Bewegungen hat je wieder eine Kirche gebildet und man kann wohl im Zweifel sein, ob sie der Kirche geholfen oder ob sie ihr nicht mehr geschadet haben.
Die Reformation kam aus dem eigensten, innersten Grund der Kirche. Sie ging nicht auf Einzelheiten, sondern aufs Ganze der Kirche: in ihr ist die Kirche wirklich neu geworden. Und darum nennt man diese Zeit mit Recht die Reformation. Will man die reformierte Kirche kennen, so muss man die Reformation kennen, denn ist sie nicht Kirche der Reformation, dann ist sie überhaupt nicht Kirche.
In was bestand die Reformation? Sie bestand nicht nur in den oben angeführten äußeren Veränderungen. Diese mussten sein, konnten aber das Eigentliche, um das es ging, doch nur anzeigen. Was wollten Martin Luther, Ulrich Zwingli, Johannes Calvin und mit ihnen die Vielen, deren Namen die Geschichte nicht überliefert hat? Wenn wir das fragen, dann können und müssen wir eine ganz einfache Antwort geben: Diesen Menschen ist Jesus Christus wieder groß und wichtig geworden. Jesus Christus, der Sohn Gottes, der für uns ein Mensch wurde, für uns gestorben und auferstanden ist, um uns als der rechte Prophet Gottes Gott bekannt und offenbar zu machen, um uns als der rechte Priester Gottes mit Gott zu versöhnen und um uns als der rechte König, von Gott eingesetzt, ein Herr zu sein, der lebendige Bund zwischen Gott und Mensch, oder, wie der Heidelberger Katechismus sagt: Unser einiger Trost im Leben und im Sterben.
Wir können uns fragen, ob die Menschen der damaligen Zeit denn Jesus Christus nicht auch wie ihre Vorfahren in der katholischen Kirche suchen und finden konnten? Ich möchte heute Abend möglichst wenig gegen die katholische Kirche sagen, aber das allerdings muss klar und hart ausgesprochen werden: diese Menschen haben Jesus Christus in der katholischen Kirche vergeblich gesucht. Und zwar darum, weil sie der Meinung waren, Jesus Christus, den einigen Trost, nur da zu finden, wo sie ihn wirklich selber fanden und nicht statt seiner eine Kirche mit ihren Einrichtungen, ihren Ansprüchen und Anweisungen. Sie wollten ihn sehen und hören in seinem lebendigen Wort, durch das er tröstet und regiert und gegenwärtig ist. Und weiter: sie meinten Jesus Christus nur da zu finden, wo sie ihn allein fanden. Also nicht neben ihm noch den Menschen in seiner Gottlosigkeit oder auch in seiner Frömmigkeit, nein, ihn allein und darum auch nicht neben ihm Maria, die Heiligen, die Priester. Sie suchten den Sohn Gottes, der allein helfen kann, durch den und in dem Gott uns gut ist, ohne unser Verdienst, in Vergebung unserer Sünde. Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr! Das haben die Menschen der Reformation von Jesus Christus gesungen. Und endlich: sie meinten Jesus Christus nur da zu finden, wo sie ihn ganz fanden. Also nicht da, wo man ein schönes Vorbild in ihm sieht oder auch einen Ausdruck tiefster menschlicher Weisheit oder vielleicht einen fernen Himmelskönig oder gar ein geheimnisvolles Zauberwesen. Dort und nur dort meinten sie ihn zu finden, wo alle den Einen, den Ganzen, den Herrn und Heiland finden, an den man glauben darf und glauben kann ohne allen Vorbehalt.
Wo unsere Väter Jesus Christus nicht so fanden: ihn selber, ihn allein, ihn ganz, da haben sie es offen gesagt und bekannt, dass sie ihn gar nicht fanden. Weil sie ihn in der katholischen Kirche nicht so fanden, weil er ihnen aber in der heiligen Schrift so begegnet war und weil sie der heiligen Schrift vertrauten und gehorsam waren, darum kam es in jenen Zeiten zu einem Neuanfang der Kirche: zu einer neuen Versammlung und Ordnung und Auferbauung der Gemeinde im Namen dessen, nach dem sie den Namen christliche Gemeinde führt. Martin Luther hat diesen Glauben an Jesus Christus mit folgenden Worten bekannt:
„Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben; auf dass ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. Das ist gewisslich wahr.“[1]
Da ist kein Wort gegen die katholische Kirche gesagt, sondern nur das ganz Einfache, das sich in den kleinen Satz zusammenfassen lässt: Ich glaube, dass Jesus Christus sei mein Herr! Indem das erkannt und bekannt wurde vor 400 Jahren, ist es zur Reformation gekommen.
II.
Unser Thema lautet: „Die Reformation und wir Menschen von heute“. Gibt es hier zu Recht ein „und“? Wenn ein solches „und“ ein rechtes „und“ ist, dann bedeutet es eine Brücke, eine Verbindung, einen Bund, eine Einheit. Gibt es das zwischen der Reformation und uns? Liegt die Reformation nicht dort, 400 Jahre entfernt von uns, und sind wir nicht hier, heute, im Jahre 1938? Oder gilt es, dass wir reformierte Kirche sind, reformierte Christen, reformierte Menschen?
Dass wir das in Wahrheit sind, dass also die Reformation und wir Menschen von heute zusammengehören, dazu genügt ja nicht, dass wir eine gewisse geschichtliche Erinnerung an sie haben aus der Schule oder aus dem Konfirmandenunterricht. Wir wissen, was Jesus sagte von denen, die der Propheten Gräber schmückten. Es genügt auch nicht, dass wir eine Abneigung gegen die katholische Kirche haben aus diesem oder jenem Grunde. Es könnte wohl sein, dass die katholischen Christen heute mitunter dem näher sind, was die Reformation meinte, als Viele von uns. Es genügt auch nicht, dass wir eine ehrliche Bewunderung haben für die Männer der Reformationszeit, für Luther oder Zwingli oder Calvin. Sie wollten nicht bewundert sein, sie wollten Gott und seinem Wort dienen. Wenn wir mit ihnen verbunden sein wollen, dann kann dies nur so geschehen, dass auch wir zu diesem Dienst uns finden. Und es genügt endlich auch nicht, dass wir uns freuen an diesem oder jenem, was die Reformation uns zu bedeuten scheint: vielleicht an der wieder erwachten Freiheit, vielleicht auch an der wieder gewonnenen Ordnung. – Eine wirkliche Einheit zwischen der Reformation und uns besteht nur dann, wenn wir den Ruf hören, den die Menschen damals hörten und den sie so mächtig haben ausgehen lassen, den Ruf, der in dem einen Namen besteht: Jesus Christus, gestern, heute und in Ewigkeit! Er selber, er allein, ergänz! – Dass wir diesen Ruf hören und dass er auch unser Ruf wird, das kann nur geschehen, dann aber kann es auch geschehen, in jeder Stadt und in jedem Land, wenn die heilige Schrift wieder lebendig wird unter uns, wenn sie wieder zu reden beginnt, wenn sie wieder von unseren Kanzeln ertönt und dann auch gehört wird, so gehört wird, dass die Einheit mit der Reformation lebendig wird, dass wir in Wahrheit reformierte Kirche sind.
III.
Wenn dem so ist, wenn die Einheit zwischen der Reformation und uns Menschen von heute besteht, dann lebt das Angebot der Reformation für uns. Dann haben wir Menschen von heute, was jene Menschen vor 400 Jahren hatten.
Den rechten Glauben, der uns so weithin zu fehlen scheint. Der rechte Glaube ist eine rechte Zuversicht, und das ist die stärkste Macht, die es in der Welt gibt, wenn man diesen Glauben hat und bekennt und bewährt. Geschieht das nicht, dann hilft aller Glaube nichts. Dann tritt an seine Stelle der Irrglaube und der Aberglaube, dann beginnen die Menschen auf Geister zu hören und sich von Bewegungen bewegen zu lassen, und dann machen der Irrglaube und der Aberglaube, die Geister und die Bewegungen die Welt zur Hölle. Wo der rechte Glaube ist, da kann das nicht geschehen, da wird dem Halt geboten. Wo der rechte Glaube ist, da werden schwache Menschen stark, da stehen Wenige für ganze Heere, da geschieht etwas ganz Einfaches und ganz Großes: da fürchtet man sich nicht mehr. Sollte uns dieser rechte Glaube heute nicht vielleicht fehlen? Sollten darum der Irrglaube und der Aberglaube, die Geister und die Bewegungen eine solche Macht bekommen in unserer Zeit? Sollte uns darum die Hölle so greifbar bedrohen, und sollten wir uns darum so fürchten? An Kritik fehlt es uns gewiss nicht, aber nicht Kritik haben wir nötig, sondern den rechten Glauben, den Glauben, den die Reformation hatte, den Glauben an Jesus Christus, in dem Alles beschlossen liegt, die ganze Vergebung und der ganze Sieg.
Dann haben wir auch die rechte Demut, die uns heute so weithin zu fehlen scheint. Wenn im Neuen Testament von Demut gesprochen wird, dann wird darunter etwas sehr Kräftiges verstanden: die Niedrigkeit des Menschen vor Gott, durch welche wir untereinander verbunden sind. Man redet heute viel von Zusammenschluss und Zusammenstehen und das nicht ohne Grund. Aber wirkliche Verbundenheit gibt es nur da, wo wir uns miteinander als vor Gott verlorene Sünder erkennen und bekennen, von ihm gehalten allein aus Gnade. Wo diese Demut nicht ist, da müssen die Dinge so laufen, wie sie heute laufen. Da regieren die Interessen der Menschen, ihre gewaltigen und kühnen Ideen und schließlich die brutale Gewalt, und sie alle miteinander führen uns in die große Müdigkeit und Ratlosigkeit, die wir Menschen von 1938 so gut kennen. Hinter diesen Mächten des Hochmuts und der Gewalt drohen das Chaos und der Untergang. Gewiss: wir haben es nötig zusammenzuhalten. Aber es gibt nur ein wirkliches Zusammenhalten, nur eine wirkliche Gemeinschaft auch im Leben des Volkes, auch im Staat, und zwar da, wo Kirche ist, die Kirche der verlorenen und durch Gottes Gnade geretteten Sünder, die Kirche der Reformation. Es gibt nur einen Weg zu dieser Kirche und damit zu dieser Gemeinschaft, der Weg der Demut, die Jesus Christus ihren alleinigen Herrn sein lässt.
Und dann haben wir endlich auch die rechte Entschiedenheit, die heute so selten ist. Entschiedenheit heißt: von einer Entscheidung herkommen, gewählt haben und diesen gewählten Weg mit Entschlossenheit gehen, und nicht ebenso gut auch einen anderen einschlagen können. Wo diese Entschiedenheit nicht ist, da triumphieren die Bösen in ihrer bösen Entschiedenheit, da triumphieren die Fanatiker über die Schwachen. Die Schwachen brauchten nur entschieden zu sein und sie wären in aller Schwachheit stark Wisst ihr, was der Teufel am meisten furchtet? Einen kleinen Mann, einen bescheidenen Mann, einen anspruchslosen Mann, der weiß, was er will. An solchen kleinen Männern fehlt es uns. Aber täuschen wir uns nicht: es gibt nur eine Entschiedenheit, und sie ist eine sehr unscheinbare Sache. Sie ist nur dort zu finden, wo man sich entschließt, den schmalen Weg durch die enge Pforte einzuschlagen. Sie ist nur dort zu finden, wo der Mensch gerufen ist und wo er hört, wo er nicht sich selber entscheidet, sondern entschieden worden ist durch den Herrn Jesus Christus, bei dem die ganze Vergebung, die ganze Freiheit und dann auch das ganze Gebot zu finden ist, wo er von ihm gefangen ist. Die Reformation hatte diese Entschiedenheit, Das war ihre Kraft, und wenn wir Menschen von heute es spüren, dass wir diese Kraft nötig haben, dann lasst uns Ausschau halten nach dieser Entschiedenheit.
Sind wir in der Einheit mit der Reformation? Haben wir den rechten Glauben, die rechte Demut, die rechte Entschiedenheit? Wir wollen zum Schluss noch einmal die Reformation selber reden lassen. Sie gibt uns im Namen aller derer, die das hatten, haben und haben werden, die Antwort. Möchten wir sie hören und nachsprechen als unsere Antwort:
„Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiliget und bei Jesu Christo erhält im rechten, einigen Glauben, in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewisslich wahr.“[2]
Vortrag gehalten am 1. November 1938 abends in Oberwil, Kanton Basel-Landschaft.
Quelle: Zeitschrift für Dialektische Theologie 30 (2014), S. 141-151.
[1] Martin Luthers Erklärung zum Zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus (BSLK, 511 [modernisierte Fassung]).
[2] Martin Luthers Erklärung zum Dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus (BSLK, 511f [modernisierte Fassung]).