Johann Christoph Blumhardts Predigt zum Reformationsgedächtnis 1879 über 2. Petrus 3,9: „Es ist auch in der protestan­ti­schen Anschauung viel Ausschließung der andern Kirche, wie sie nicht sein sollte und nicht zu dem Wesen der Refor­mation und dessen, was sie brachte, gehört. Man hat wenig Gefühl, wenig Empfindung für diese Kirche. Man kann schonungslos mit den Angehörigen derselben und mit ihren Häuptern streiten und zanken über alle möglichen Sachen, verborgen und öffentlich. Eine Scheidewand ist da, welche auch die protestantische Kirche mit ihrem Licht nicht zu durchbrechen sich anschickt.“

Wenige Monate vor seinem Tod hielt Johann Christoph Blumhardt (1805-1880) in Bad Boll folgende Predigt zum Reformationsgedächtnis:

Der Herr kommt! Predigt zu 2. Petrus 3,9

Von Johann Christoph Blumhardt

Der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten; sondern er hat Geduld mit uns und will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre. 2. Petr. 3, 9.

Vielleicht wundert es euch, ihr Lieben, daß ich heute auf einen solchen Spruch gekommen bin. Aber wir müssen uns dessen erinnern, daß Luther selbst, als er auftrat, die Überzeugung hatte, das Kommen des Herrn sei nahe, und gerade sein Werk konnte er als einleitend nehmen für das Kom­men des Herrn gegen den Widerchristen. Seine Schriften sind voll davon, und man hat sogar ein eigenes Büchlein von Worten Luthers zusammengetragen und herausgegeben, um zu zeigen, wie Luther auch als Prophet zu achten und zu schätzen sei, der von der Zukunft, von kommenden Ge­richten und vom endlichen Nahen des Herrn nach der Ver­heißung sprach auf eine sehr anregende und tiefgehende Weise. Gerade diesen Gedanken Luthers in unsrer Zeit an einem Reformationsfest herauszuheben, darf daher niemand von euch auffallen. Man wird mit ihm auch aufs Letzte blicken dürfen. Denn nicht das, daß eben jetzt eine gereinigtere christliche Anschauung oder Religion oder Konfession auf­käme, unter der man fortan leben sollte, war der Haupt­zweck Gottes, als er das neue Licht kommen ließ; sondern in der Tat und Wahrheit sollte es eine Vorbereitung sein zur Zukunft des Herrn. Und wenn ich noch weiteres hinzu­setzen will, so ist es das, daß mir die Reformation vor drei­hundertfünfzig Jahren von jeher nichts anderes gewesen ist, als ein Vorbild von einer Erneuerung in geistlicher Hinsicht, die durch die ganze Welt sich erstrecken muß, von dem Aufgang des Lichts und der Herrlichkeit Gottes über alle Völker der Erde zu deren Wiederbelebung in ein neues göttliches Leben herein. Es ist ein Fehler, wenn wir bei Be­trachtung der Reformation nur eben an die durch sie ent­standenen Protestanten, Evangelischen, Lutherischen, Refor­mierten und wie sie alle heißen, denken. Der Herr hat viel größere und weiter gehendere Absichten mit der Reformation gehabt, und daß, wie es lange Zeit gewesen ist, alle Heils­gedan­ken Gottes nur eben an den Evangelischen sich erfül­len müßten, wie wenn die andern Völker und Kirchen gar nicht da wären, da man sich als ein neues Israel dachte, das egoistisch und eigenliebig nur von sich träumt, — das war nicht das rechte; und wenn man auch heute noch da und dort fortfährt, im stillen solche Gedanken zu haben, so ist es nicht das, was wir vornehmlich nach des Herrn Sinn und Willen denken sollten.

Nun: Der Herr kommt! Das lag schon in den Thesen oder Sätzen, die Luther an der Kirchentüre zu Wittenberg an­schlug. Der Herr kommt, wie Er verheißen hat; und denken wir zurück an alles, was damals in der Reformationszeit geschehen ist, bis heute, so sollte alles uns entgegenrufen: Der Herr kommt! Diese Verheißung steht fest, auch wenn sie zu verziehen scheint. Denn abermals ist ein Verzug ge­kommen. Ein starkes Anklopfen durch die ganze Christen­heit ist es damals gewesen, daß es in allen Herzen geheißen hat: Der Herr ist nahe! — und es ist wieder still geworden. Es war die Mitternachtsstunde, da riefen die Wächter: «Der Bräutigam kommt!», als aber der Bräutigam verzog, schliefen die Leute wieder ein. Was man damals erwartete, hat sich wieder verzogen, und wohl zwei Jahrhunderte lang hat man gar nicht mehr an das Kommen des Herrn gedacht. Erst seit einem Jahrhundert ist es wieder in unsrem Vaterland leben­dig geworden, aber dennoch gibt es noch große Distrikte, auch protestantische Gegenden, wo die Verheißung und der Glaube an das Kommen des Herrn schläft. Wach ist es bei uns geworden, aber noch nicht genug. Man redet wohl dar­über, aber immer auch wieder so, als ob es etwas wäre, da­von man wohl viel reden kann, das aber doch nie kommen wird. So sieht es größtenteils auch in unsern protestantischen Landen aus. Nun wir wollen den Gedanken an das Kommen des Herrn in uns wach rufen lassen und wollen heute reden von dem Kommen des Herrn.

  1. wie es angebrochen ist mit der Reformation,
  2. wie es seitdem wieder in einen Verzug gekommen ist,
  3. wie es endlich doch zur Vollendung kommen wird.

1. Die verheißene Zukunft des Herrn ist angebrochen, das heißt angebahnt und vorbereitet worden durch die Refor­mation. Das ist und bleibt ein großer Gedanke, den man bei Erinnerung an das große Werk Gottes in jener Zeit nicht außer acht lassen darf.

Das Nächste, was geschehen mußte, war, die Menschheit und Christenheit von den Fesseln loszureissen, die alles gebunden und gefangen hielten, die Geister frei zu stellen, daß sie sich auch regen und bewegen konnten und die Men­schen selbständig unter der Einwirkung des Heiligen Geistes sich innerlich ausbilden und reif machen konnten auf das Große, das zu erwarten ist mit dem Kommen des Herrn. Wenn alles früher gebunden und gefesselt, ja geknebelt ge­wesen ist, wie man ja nachweisen kann aus der Geschichte, so mußte das jetzt anders werden; die Fesseln mußten jetzt entfernt werden und die Gebundenheit der Geister mußte aufhören. Mit einem Ruck ist das geschehen. Ein Freiheits­gefühl durchdrang alle Nationen und so auch namentlich ganz Deutschland, als man von den angeschlagenen Thesen Luthers hörte. Ein wunderbares Freiheitsgefühl trat auch später zu Tag, als man frei und offenbar am 25. Juni 1530 das Augsburgische Glaubensbekenntnis verlesen durfte, gegen­über von den gangbaren Vorstellungen der damaligen Zeit, die Geist und Gemüt nur niederhielten und im Finsteren ließen. Es mußten die Seelen frei werden für den Herrn, nicht daß Menschen, sondern daß der Herr sie binde durch Seinen Geist. Sie mußten in eine innere Gemeinschaft mit Jesu selber treten, und da mußte alles, was dieser Gemein­schaft hinderlich war, weggeräumt werden. Vieles ist ge­schehen in dieser Richtung, vieles auch nicht. Aber jedermann rühmt das an der Reformation, daß sie die Menschen, die Christen wieder leichter atmen ließ, daß sie eben daher mit leichterem Odem dem Herrn entgegen kommen könnten.

Ein Zweites, wodurch das Kommen des Herrn damals an­gebahnt wurde, ist die neue Erkenntnis und Offenbarung durch das Wort Gottes. Allerwärts wußte man gar nicht mehr recht, was es nur ums Christentum sei, man durfte es nicht wissen. Von einer Bibel hat man kaum eine Kunde ge­habt und noch weniger von dem, was drin zu lesen stand. Somit blieb verdeckt der Wille Gottes zur Seligkeit der Menschen, verdeckt der große Heilsplan Gottes über alle Geschlechter der Erde, verdeckt das Große, das mit dem erstmaligen Kommen Jesu geschehen ist. Was sollte und wollte Sein Kommen, Sein Dasein, Sein Wundertun? Das wußte niemand mehr. Was sollte und wollte Sein Kreuzes­tod? Da hat man wohl viel darüber geträumt, viel bildliche Darstellungen davon gemacht, aber was er sollte und wollte, hat im Grund doch niemand mehr recht verstanden. Was sollte und wollte Seine Auferstehung? Es war eine schöne Geschichte, an der man sich ergötzte, aber was sie für die Menschheit bedeutete, das wußte niemand mehr. Seine Him­melfahrt, Sein Sitzen zur Rechten Gottes, Sein Wiederkom­men, das alles war so überzogen von Dunkelheit und Fin­sternis, daß es war, als ob der ganze Heiland, wie Er ge­offenbart ist, wie gar nicht da wäre. Die Reformation nun hat Jesum wieder gebracht. Im Bekenntnis war es da, aber den Herzen sollte Er wieder nahe gebracht werden. Jesum sollte die Reformation wieder darstellen, das Evangelium von Ihm als ein heil- und lichtvolles erweisen. Sein Wunder­tun, wie wir es im Evangelium lesen, sollte zeigen, wie wir Ihn haben in aller unserer Not. Sein Kreuzestod sollte zei­gen, wie da Jesus die Mächte der Finsternis geschlagen und die Schuld getilgt hat. Der Glanz Seiner Auferstehung und Seiner Himmelfahrt, Sein Sitzen zur Rechten Gottes und die gewisse Hoffnung Seiner Wiederkehr ist wieder lebendig geworden durch die Reformation, und ohne diese wäre alles das tot und im Schutt vergraben geblieben. Eben damit ist auch wieder eine Vorbereitung auf Sein Kommen gegeben. Denn wenn Er kommen soll, muß man auch wissen, wer es ist, der da kommt in den Wolken des Himmels. Durch die Reformation ist uns also Jesus wieder ins Licht gesetzt wor­den, daß wir Jesum haben, Jesu vertrauen und nun auch mit großer Sehnsucht auf Jesum warten können, bis Er kommt.

Um noch ein Drittes zu erwähnen, wodurch das Kommen des Herrn in der Reformationszeit angebahnt worden ist, so ist es das, daß den Herzen auch wieder nahe gelegt wurde, wie man Jesum und Sein Heil wieder gewinnen könne und sicher gewinnen werde. Man hat vorher in mechanischer Weise sich wollen ins Wohlgefallen Gottes und des Herrn Jesu versetzen durch allerlei äußerliche Werkheiligkeit, und hat darauf als auf ein unfehlbares Mittel vertraut, wie wenn man z. B. seine Seligkeit nur mit Geld erkaufte oder glaubte, wenn man diese und jene Opfer brächte und Verleugnungen sich auferlegte, so sei es weitaus genug und habe man einen Gott und Heiland und einen Himmel unfehlbar gewiß. Das brauche ich nicht alles auseinanderzusetzen, ihr wißt es ja. Aber nun ist Luther aufgetreten und tausende ihm nach, die es klar und deutlich gesagt haben, wie nur allein der Glaube an Jesum Christum und Sein Heil den Weg eröffnen könne in den Himmel und zur Herrlichkeit Gottes. Der ganze Mensch hat sollen wieder ins kindliche Glauben und Ver­trauen hinein kommen zu Gott und Jesu, der ganze Mensch hat sollen eingetaucht werden in die Offenbarungen Jesu Christi, wie sie gegeben sind, um Licht zu verbreiten im Herzen. Licht hat es sollen werden inwendig dadurch, daß man vertrauen, bitten, hoffen lernte, sich auch richten lernte nach den rechten Geboten Gottes, sich‘ vom Geist unter­weisen ließe, Licht bekäme aus dem Wort Gottes für sein ganzes Wandeln, für sein Leben, Leiden und Sterben, daß man Trost und Aufrichtung bekäme unter den Widerwärtig­keiten des Lebens und unter den Stürmen, die auf einen fallen, auch eine Unterweisung erhielte, wie man sich dem Glauben gemäß halten könne, um das Himmlische zu erlan­gen. Kurz Licht ist nach allen Seiten durch die Reformation verbreitet worden, damit die Menschen sich rüsten könn­ten auf die Zeit des Kommens Jesu, ihre Lampen mit Öl füllen und anzünden könnten und dem nahenden Bräutigam entgegen gehen.

Wir mögen also die Reformation ansehen, wie wir wollen, so bietet alles Einzelne, das wir sehen, einen Punkt uns dar, von dem man sagen muß: Das zielt auf das Kommen des Herrn. Darum habe ich auch gesagt, die in den ersten Jah­ren der Reformation gekommene Neubelebung der christ­lichen Kirche sei ein Vorbild und schon ein Anbruch dessen, was noch kommen muß, ehe der Herr kommt, damit Er kommen kann.

Es ist nun aber freilich wieder viel Finsternis herein ge­kommen. Geknechtet wie früher sind wir Protestanten wohl nicht mehr, aber geknechtet auf andere Weise, geknechtet durch Unsitten genug, geknechtet durch irrige Vorstellun­gen, durch falsche Lehrer und Propheten, durch geheime und offenbare Bündnisse aller Art, die die Menschen angefangen und sich drein hinein verkauft haben, so daß die Leute da­bei eine Zügellosigkeit anstatt eine Freiheit in Anspruch neh­men. Frei, frei dem Herrn nach müssen wir werden! Die Heilige Schrift — ja, sie ist wohl da, aber wer liest sie? wer kennt sie? und — wer kennt Jesum? O, wie ist der Herr Jesus wieder verdeckt worden! Wie meistert man Ihn! Man läßt Ihn nicht von Gott vom Him­mel gekommen sein, man läßt Ihn nichts mehr sein, man wirft Ihn eben hin als einen, von dem einmal viel gesprochen worden ist und der die Welt in Aufregung brachte, aber mit dem es jetzt vorbei ist. So stehen Tausende. Andere, die viel von Ihm reden, lassen Ihn doch nicht an sich kommen, treten doch nicht in eine wirk­liche Gemeinschaft mit Ihm. Wenn man fragen will, wie viele in eine Gemeinschaft mit Jesu gekommen seien, so fällt die Antwort betrübend aus. Es sind nur ganz wenige, so daß man wünschen muß: Wenn es nur einmal wieder wäre wie zur Zeit der Reformation! Nun, wir können es aber we­nigstens haben, können es lesen, können ohne Scheu mit unsern Gedanken uns drin bewegen, und wenn der Geist Gottes wieder auf uns fällt, ach, wie viel kann sich da rasch machen infolge der in der Reformationszeit geschehenen Vor­bereitung auf Sein Kommen. Auch das Glaubensleben kön­nen wir haben, es ist niemand daran gehindert; und wieder­um darf nur der Geist Gottes herniederfallen auf uns, so können tausende dazu kommen, zugerüstet zu werden auf das Kommen des Herrn.

2. Wir sind aber vorhin bereits auf die zweite Betrach­tung hingelenkt worden, nämlich darauf, wie das Kommen des Herrn sich seit der Reformation verzogen hat.

Der Verzug ist da, und wir begreifen ihn. Denn wenn der Herr rasch gekommen wäre und kommen wollte, wen könnte Er zu sich nehmen? Und doch will Er nicht, daß je­mand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre, d. h. sich bekehre und lebe! So ist Sein Verzug nichts anderes als ein Zeichen davon, daß Er Geduld mit uns hat und die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, zuletzt so kommen zu können, daß Sein Kommen auch für die jetzt noch harten und trotzigen Menschenkinder Heil mit sich bringt. O, sie sind alle noch zu weit weg von Ihm, als daß Er kommen könnte und Freude an ihnen haben, wenn Er kommt! Eine Betrübnis darüber, daß eben doch keinerlei Zurüstung weder bei uns noch bei andern ausreichend ist für die Zukunft des Herrn, kann einen ganz übernehmen; und doch müssen wir Gott danken, daß Er verzieht. Denn es ginge sonst übel. Wenn heute sich die letzte Posaune hören ließe, wie würde es aussehen unter den Reihen der Menschen? Aber vorzüglich ist der Verzug darum gekommen und notwendig geworden, weil alles reformatorische Licht wieder in ganz enge Grenzen eingeschlossen wurde. Was damals protestantisch oder evangelisch geworden ist, ist es geblieben, soweit nicht später äußere Gewalt einen Wechsel verursacht hat. Weiter ist es nicht gekommen. Es ist alles in ganz enge Schranken gefaßt. Selbst inmitten von Ländern, die man evangelisch heißt, sind die eigentlich Evangelischen in gewissen Städten und Dörfern etwas für sich Abgeschlos­senes und bleiben es. Überall ein Abgeschlossenes! Das evangelische Licht dringt nicht hindurch und hinaus. Neben dieser Abgeschlossenheit ist aber noch etwas Traurigeres: die gegenseitige Ausschließung. Es ist auch in der protestan­ti­schen Anschauung viel Ausschließung der andern Kirche, wie sie nicht sein sollte und nicht zu dem Wesen der Refor­mation und dessen, was sie brachte, gehört. Man hat wenig Gefühl, wenig Empfindung für diese Kirche. Man kann schonungslos mit den Angehörigen derselben und mit ihren Häuptern streiten und zanken über alle möglichen Sachen, verborgen und öffentlich. Eine Scheidewand ist da, welche auch die protestantische Kirche mit ihrem Licht nicht zu durchbrechen sich anschickt. Man läßt alles gutes Muts, wie es ist, als gehörte Haß und Feindschaft beider Kirchen mit zur Sache. Mit seinem Licht hinausleuchten, daß auch die andern gewonnen werden, fällt niemandem ein. Aber Licht muß es auch in dieser Beziehung noch werden, mag die Schei­dung zwischen hier und dort noch so groß sein. — Eine Scheidung ist aber auch innerhalb der Evangelischen. Die einen schließen sich in dieser Form ab und bleiben für sich, die andern in jener und bleiben für sich. Das Ineinander­greifen und Wirken aller, daß jeder für alle und alle für je­den einstünden, das hat man nicht. Luther hat es gehabt. Der hat seine Boten bis nach Konstantinopel geschickt und war immer drauf aus, eine große Einheit aller Christen zu schaffen und nichts war seinem Geist so zuwider, als der Gedanke an eine Trennung, an einen Riß. Aber wir haben das nicht. Da sind sie so abgeschlossen und haben ihr Wesen so ganz für sich, und nach den andern fragen sie nicht, son­dern nur nach denen, die so heißen, wie sie. Das ist aber keine Vorbereitung auf den Herrn, keine Anbahnung auf den Augenblick, da die Posaune vom Himmel erschallt über allem: «Er kommt! Er kommt!» Das «Auseinander» der Christen läßt kein Kommen des Herrn zu, sondern hat Sei­nen Verzug zur Folge. Dieser Verzug geschieht darum, weil, wie es in unsrem Texte heißt, der Herr Geduld hat mit uns, und nicht will, «daß jemand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre.» Wer ist denn da der «Je­dermann» und der «Jemand, der nicht verloren wird?» Pro­testanten sind gewohnt, an sich zu denken, und sonst an niemand. Ich möchte nur fragen: Wie viel Gefühl hat denn die evangelische Kirche für die andere Kirche, daß auch dort jedermann sich möchte zur Buße kehren? Ein Verzug aber muß sein, ehe das Licht, das wir haben und aus Gnaden uns geschenkt ist, auch als Licht, nicht als Streitsache, durchdringt, und zwar einmal unter allen innerhalb der evangelischen Kirche Geteilten und Getrennten als Vereinigungslicht durchdringt, sodann aber auch durchdringt durch alle katholischen Kinder, und zwar — ich sage das ausdrücklich — als Licht, nicht als äußere Konfession, so daß sie sich bekehren auf den Tag Jesu Christi.

Wir Evangelische haben von der Reformation her einen großen Beruf, dem wir aber nahezu untreu geworden sind. Wir sollten ein Licht werden durch die ganze Welt, wie einst von Abraham gesagt wurde, Er und Sein Same sollte ein Segen für alle Geschlechter der Erde werden. Wir Evange­lische sollten mit dem Licht in der Hand das Licht der Welt sein, wie wir es wahrhaftig könnten; denn das Zeug hätten wir dazu, wie wir im Anfang gesehen haben. Wir sollten das Licht der Welt überall hin bringen zur Bekehrung aller und jeder Völker, die man zum Teil so, zum Teil anders verfinstert sieht. So aber, wie wir jetzt uns gestellt haben, bleiben Millionen unerleuchtet und unbekehrt. Sie wissen nichts von Jesu, außer dem Namen, wissen nichts davon, wie man von dem kommenden Heiland einmal kann in Gnaden aufgenommen werden. Warum wissen sie es nicht? Weil wir uns nicht rühren, es ihnen zu sagen und ihnen Licht darüber zu geben. Wenn auch da und dort eins ist, das Licht für sich gewinnt, — die Massen bleiben finster, und wie finster! alles unbekehrt, alles wandelnd nach den Lüsten des Fleisches, alles in Abgötterei versunken, wo man hinblickt! Das Licht, das uns geworden ist, hat seine Wirkung nicht getan und nicht tun können, weil wir es nicht auf den Leuch­ter gesetzt haben. Darum verzieht sich auch das Kommen des Herrn. Wie weh tut es mir, wenn da und dort in der Diaspora, oder Zerstreuung, wie man sagt, evangelische Kirchen gebaut werden, und hintennach kommen Prediger hin, die, in einigen Fällen wenigstens, fast Gottes-Leugner sind! Ich will damit freilich nicht sagen, daß keiner seine Schuldigkeit tue; viele tun sie, so weit sie es wenigstens ver­stehen. Aber im allgemeinen fragt doch eigentlich niemand viel nach dem, daß sie sollten Lichter sein in der Finsternis, um in diese so hineinzuleuchten, daß es helle wird, nicht mit unzeitigen und lästigen Bekehrungsversuchen und sogenann­tem Propagandamachen, sondern so, daß man es ertragen kann und jeder, der Licht sucht, mit Leichtigkeit es finden kann. Was für ein prachtvolles Reformationswerk ist auch in manchen Provinzen Deutschlands gewesen. Blickt man aber jetzt dorthin, so sind die Leute nichts weniger als ein Licht geworden; im Gegenteil, die Finsternis ist zu ihnen herein gekommen. O Licht, wo bist du? Unter dem Scheffel! Fast jede evangelische Gesellschaft und Kirche ist ein Scheffel; unter dem leuchtet es, aber weiter hinaus nicht, und wer Licht sucht, muß auch unter den Scheffel hinunter, sonst kriegt er es nicht. Aber Gott will nicht, daß jemand verloren wer­de, sondern so lange unser Licht verschlossen ist, kommt eben der Herr nicht. Ehe das vor dreihundertfünfzig Jahren gegebene Licht nicht nur in allen christlichen Kirchen, son­dern überall in der Welt leuchtet, kommt der Herr nicht, wir mögen warten, so lange wir wollen. Wenn alles fern von Ihm ist ohne Buße, — wie kann Er kommen? Da wäre ja kein Abgrund groß genug, die Unbußfertigen in der Welt aufzunehmen. Darum verzieht Er und darum ist auch der Verzug seit der Reformation wieder geworden.

3. Aber zuletzt vollendet es sich doch. Endlich wird das Kommen des Herrn, wie es angebahnt ist in der Reforma­tionszeit, trotz des Verzugs zur Vollendung kommen, zur vollendeten Tatsache werden. Was soll ich nun über diesen dritten Punkt, den wir uns vorgenommen haben, ins Auge zu fassen, sagen? Da muß ich eben etwas sagen, was we­nige hören wollen. Da stehe ich wieder mit dem, was meine Seele bewegt, und kann es nicht lassen, davon zu reden. Ich denke eben, kurz gesagt, an abermalige neue Erweisungen der Gotteskraft, an erneuerte Gottes- und Geisteskräfte, un­ter Anschließung an das, was in der Reformationszeit ge­geben worden ist und geschehen ist. Was ich hoffe und wünsche, ist gar nichts anderes, als was sie in der Zeit der Reformation gehofft, gewünscht und gewollt haben; es ist nichts anderes, als das ersehnte Licht, ersehnt insbesondere von unsrem Luther, das durch das Wort Gottes in Kraft des Geistes kommen muß. Man will es mir übel nehmen, daß ich so etwas sage. Aber wer erklärt sich die Reformation ohne einen Strom von oben, wer erklärt es sich, daß inner­halb vier Wochen, da noch keine Eisenbahn, kein Telegraph, keine Zeitungen waren, durch die ganze europäische Welt die Thesen Luthers ein Feuer angezündet hatten? Es ist ein Feuerstrom von oben gekommen, ein Wehen des Geistes Gottes, das das Feuer plötzlich durch alle Städte und Dör­fer trug und es anfachte. Es ist das eine in der Welt uner­klärliche Erscheinung, wenn man es nicht so erklärt. Nun, wenn nur so viel wieder würde, daß dieser Strom sich wie­derholen dürfte, was wäre doch das schon ein Großes! Und warum sollen wir nicht wünschen dürfen, daß dieser Strom wieder kommen und noch stärker kommen dürfe? Soll das durch die Reformation Angebahnte, später wieder ins Stok- ken Geratene wieder in Fluß kommen — und das muß es ja, wenn anders die Zukunft des Herrn nicht soll gar zu einem Nichts werden — so kann es nicht anders geschehen, als daß der Strom von oben aufs neue sich ergießt und mit dem in der Reformationszeit Gekommenen gleichsam zusam­menfließt und so auch dieses wieder in Fluß bringt. Ja, das wünsche ich und werde davon zeugen so lange ich lebe, und mein letzter Atemzug soll die Bitte enthalten: Herr, gib Dei­nen Strom des Geistes und der Gnade, daß die ganze Welt davon erregt wird; und wo eines ist, auf das ein Auge der Barmherzigkeit geworfen werden kann, das laß einen Blick von Dir bekommen, einen Heilandsblick, der ihm die Selig­keit verbürgt. Dabei bleib ich und ringe und schreie zum Herrn, bis es so ist, daß alle Völker der Erde dieses Licht haben und sich zur Buße kehren, um nicht verloren zu sein.

Das wäre, Ihr Lieben, die Betrachtung für den heutigen Tag. Lernet mit mir beten, daß dieser Strom abermals und noch völliger und umfassender komme durch die ganze Welt hin, bis alles so steht, daß der Herr sagen kann: Ich komme!

Und kommt Er, — dann wird es herrlich sein. Denn Gnade und Barmherzigkeit geht Ihm voraus. Darum freut euch Sei­nes Kommens! Amen!

Gehalten zum Reformationsfest 1879 in Bad Boll.

Quelle: Johann Christoph Blumhardt, Ausgewählte Schriften in drei Bänden, Bd. 2: Verkündigung, ausgewählt von Otto Bruder, Zürich: Gotthelf Verlag, 21991, S. 203-215.

Hier die Predigt als pdf.

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