Manfred Seitz, Predigt über 4. Mose 6,22-27: „Schutzbedürftig, rechtlos auf Gnade angewiesen, ohne verläßliche Friedens­ordnung, unmittelbar und jederzeit bedroht, werden wir nur durch die Gewährung des Segens über dem Abgrund gehalten.“

Predigt über 4. Mose 6,22-27

Von Manfred Seitz

I

Liebe Gemeinde! Im Segen haben wir sowohl einen Abschnitt der Bi­bel als auch ein Stück der Liturgie vor uns. Er stammt aus dem Alten Testament und wurde von Luther an den Schluß der evangelischen Messe gestellt. Wenn er heute zum Inhalt der Verkündigung wird, dann erschließt sich dadurch auch der Segen am Ende des Gottesdien­stes.

II

Ein Pfarrer in der Nähe von Ansbach erlebte vor einigen Jahren fol­gendes mit dem Segen: Er besuchte regelmäßig eine fast neunzigjäh­rige, geistig schon stark verminderte Frau. Ein Gespräch kam fast nicht mehr zustande, auch wenn er sich noch so bemühte. Als er es wieder einmal vergeblich versucht hatte, verabschiedete er sich und sprach zum Schluß den gottesdienstlichen Segen. Da ging durch die Frau eine spürbare Bewegung, und sie sagte in bestem Fränkisch: „Heut’ hast a mal was G’scheits g’sagt!“

Sie gab nicht nur einen ausgezeichneten pastoralen Hinweis, sondern ließ auch erkennen: Den Segen hatte sie wahrscheinlich so oft in ih­rem Leben gehört, daß er in die tiefsten Schichten eingedrungen war. Als er ihr nun wieder vorgesprochen wurde, konnte mitten in ihrer Umnachtung das äußere Wort an ein inneres, das in ihr wohnte, an­knüpfen. Es rief etwas hervor, und sie gab es auf ihre Weise zu verste­hen. Vielleicht fühlte sie sich in diesem Augenblick wirklich gesegnet.

Auch wir sind in unserem Leben oft gesegnet worden – bei der Taufe, bei der Konfirmation, bei der Trauung und unzählige Male vor dem Gehen aus dem Gottesdienst. Menschen, die unsere Wege kreuzten, wurden uns zum Segen. Wir haben viel Gutes erfahren, aber auch Bö­ses und schwer Erträgliches erlitten. Beides hält sich nach unserem Eindruck ungefähr die Waage. Und an manchem Unerwünschten sind wir gewachsen. Wir sind vielgesegnete Menschen.

Was wird in uns hervorgerufen, wenn der Segen gesprochen wird? Was bedeutet er uns? Oder empfinden wir ihn nur noch als vertraute, aber verblaßte Formel am Schluß des Gottesdienstes? Vielleicht ist es ein Segen, wenn uns dieser Sonntag, das Fest des Dreieinigen Gottes, den Segen erschließt?

III

Was ist das eigentlich – Segen? Wie sieht er aus? Gibt es erkennbare Spuren davon, und worin besteht er?

Einen ersten Hinweis gibt uns unsere mit Worten des Glaubens gesät­tigte Sprache. Vor einiger Zeit verunglückte bei Frauenaurach ein Lastzug. Ich weiß nicht mehr, was er geladen hatte. Jedenfalls hieß es in der Zeitung: „Der ganze Segen kippte auf die Straße.“ Segen ist also Fülle. Er ist handgreiflich und viel. Er übersät einen Bereich. Man kann ihn sehen und in die Hand nehmen. Er ist nicht nur geistig.

Einen zweiten Hinweis gibt uns die biblische Urgeschichte. Wir erin­nern uns: „Gott schuf den Menschen … als Mann und Frau und … segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch …“ Dort hat das Wort vom „Kindersegen“ seinen Sitz. Heute klingt es fast asozial. Von ihm werden nur noch Türken, Italiener und andere heimgesucht. Bei uns hält ihn die moderne Verhütungstechnik in Grenzen. Was einmal Segen war – ins schiere Gegenteil verkehrt!

Einen dritten Hinweis gibt uns die Vätergeschichte. Wir erinnern uns: Jakob gewinnt mit List – er verkleidet sich – den Erstgeburtssegen, der eigentlich dem älteren Esau zustand. Als Isaak, schon trüben Au­ges, Jakob den Vätersegen „Gott gebe dir vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde und Korn und Wein in Fülle“ gespendet hatte, merkte Esau den Betrug und schrie laut auf. Aber der erschli­chene Segen konnte nicht mehr zurückgenommen werden. So einma­lig materiell und unwiderruflich wurde er in der ältesten Zeit des Glaubens verstanden.

Genug der biblischen Beispiele! Wir wissen es jetzt: Segen ist Fülle, und Segen ist erfahrbar. Menschen sprechen ihn aus, können ihn wie die Väter auf die Kinder und die Priester auf die versammelte Ge­meinde legen. Aber Gott setzt ihn um in die Tat. Segnen ist das stille und stetige Handeln Gottes im Fluß des alltäglichen Lebens. Es be­steht auch darin, daß er geboren werden, wachsen, reifen, altern und sterben läßt. Segen sind Kinder, Arbeitsplatz, keine Schulsorgen zu haben, fähig zu sein, ein Buch zu schreiben, kochen zu können, Kan­taten, Krankenhäuser, mäßig emanzipierte Frauen, nicht ganz verun­sicherte, einfühlsame Männer, Fußballspiele und Ferien. Man kann den Segen eigentlich nicht konkretisieren. Das engt ihn schon ein. Se­gen ist alles Gute, das uns in unserem Daseinsbogen von der Geburt bis zum Tod aus Gottes Händen zukommt. „Alles ist an Gottes Segen und an seiner Gnad gelegen.“

IV

Der Segen, die Fülle des von Gott Gewährten im Lebenslauf, wird nun durch drei Segenssprüche entfaltet.

Der erste Spruch: „Der Herr segne dich und behüte dich“ bedeutet: Gott gewährt Schutz im bedrohten Bereich des persönlichen Lebens. Wir registrieren meistens nur die Fälle, in denen uns oder anderen et­was zugestoßen ist. Daß Gott aber immerzu Menschen erhält, vor dem Untergang bewahrt und unser verletzliches Leben in seine Hände nimmt, merken wir nicht, weil es dauernd und selbstverständlich ge­schieht. Darauf macht uns der erste Segensspruch aufmerksam.

Der zweite Spruch: „Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig“ bedeutet: Gott erweist Gnade im Bereich des Glaubens. Das ergibt sich aus dem, was der Segen über sein „Ange­sicht“ sagt. Er senkt es nicht wie ein verstimmter Mensch, sondern läßt sein erhobenes Antlitz „zu dir hin“ leuchten. Das ist alte gottes­dienstliche Sprache, und an dieser Stelle zeigt der alttestamentliche Priestersegen hinüber ins Neue Testament. Dessen frohe Botschaft lautet: Wo ist Gottes Güte? Sie strahlt im Angesicht Jesu Christi, in seinen Worten und Taten auf. In ihm erfahren die Glaubenden ihren Gott in seiner Freundlichkeit und Nähe, vor allem, wenn er von ihnen im Gottesdienst gesucht wird. Darauf macht uns der zweite Segens­spruch aufmerksam.

Der dritte Spruch: „Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden“ bedeutet: Gott setzt Frieden im empfindlichen Bereich des sozialen Lebens. Wie versehrbar es ist, erleben wir im Vorfeld des Kirchentages: Schon violette Tücher können es stören. Deshalb ver­hält es sich auch hier so: Wir können Gottes Friedensordnung kaum sehen vor lauter Rüstung und Raketen, Kriegen und Konflikten. Und doch ist sie da, stützt Ehen und Familien, sorgt sich um Arbeitsmög­lichkeiten, fördert das Wirtschaftsleben und erhält auch die Institu­tionen, die zum stetigen Wirken Gottes gehören. Der Segen Gottes ist es, der uns Normalität und gedeihliches Miteinander, eben Frieden, setzt und noch erhält. Darauf macht der dritte Segensspruch auf­merksam.

V

Den Segenssprüchen folgt kurz und knapp noch Gottes eigener Kom­mentar: „So sollen sie meinen Namen auf die Kinder Israel legen, daß ich sie selbst segne.“ Der segnende Gott ist kein Unbekannter. Er hat seinen Namen seinem Volk anvertraut und sich dadurch anrufbar ge­macht. Wer ihn anruft, ruft nicht ins Unbestimmte und Leere hinaus. Er wendet sich an den Herrn, der sich in Jesus Christus zu erkennen gab und den man durch den Heiligen Geist kennen kann. Im Namen ist er zugegen. Deshalb ist die dreimalige Namensnennung Gottes beim Segen unerläßlich. Nimmt man sie heraus, bricht der Segen zu­sammen. Spricht man sie aus, will der Angesprochene der Aufforde­rung selbst nachkommen. Es ist schon eine gewaltige Sache, daß der dreieinige Gott an den Wortlaut des gottesdienstlichen Segens seine Segenszuwendung gebunden hat.

VI

In Erkenntnis dessen kann man in unseren Tagen von einer Wieder­entdeckung des segnenden Handelns Gottes reden. Es wächst aber auch das Bewußtsein, wie leicht der Segen Gottes unter unseren Hän­den verdirbt. Es bleibt also ein Zwiespalt: Fülle und Verderben, Segen und Kreuz. Wie verhalten sie sich zueinander? Dieser Zwiespalt hat seinen Grund nicht in den Wechselfällen des Lebens, sondern im Christusgeschehen. Der Segen wird nicht durchkreuzt und das Kreuz nicht aufgehoben. Vielmehr schließt im Alten Testament der Segen auch das Kreuz und im Neuen Testament das Kreuz den Segen in sich.

VII

Liebe Gemeinde! Nachher, am Ende des Gottesdienstes, wird der Se­gen über uns gesprochen wie immer. Es geschieht in der Einzahl, weil jeder einzelne persönlich gesegnet wird. Es geschieht mit erhobenen Händen, weil diese Gebärde die Handauflegung auf viele ist. Sie be­deutet: Auf jedem von uns liegt Gottes Hand. Und es geschieht mit dem Zeichen des Kreuzes, weil es der Name des Dreieinigen Gottes ist, der auf uns gelegt wird. Er geht mit uns, wohin wir auch gehen. Schutzbedürftig, rechtlos auf Gnade angewiesen, ohne verläßliche Friedens­ordnung, unmittelbar und jederzeit bedroht, werden wir nur durch die Gewährung des Segens über dem Abgrund gehalten.

Amen.

Quelle: Wolfgang Bub/Christian Eyselein/Günter R. Schmidt, Lebenswort. Erlanger Universitätspredigten. Manfred Seitz zum 60. Geburtstag, Erlangen: Junge & Sohn, 1988, S. 37-42.

Hier die Predigt als pdf.

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