Über „Euthanasie“ und ärztliche Sterbehilfe (KD III/4)
Von Karl Barth
«Euthanasie» in diesem Sinne ist eine spezifische Frage der ärztlichen Ethik, in die dann aber sofort auch der Kranke selbst oder seine Angehörigen oder beide gemeinsam verwickelt sind; und weil das Anliegen schon aufgetaucht ist, solche Tötung möchte wie die Schwangerschaftsunterbrechung gesetzlich normalisiert und im Rahmen der aufzustellenden Normen als zulässig erklärt werden, ist es heute nicht unmöglich, daß sie auch noch einmal zu einer öffentlichen Frage werden könnte. Kann ein Arzt es in einem bestimmten extremen Stadium der Behandlung eines Kranken über sich bringen, seinem Patienten, da er ihm nicht mehr zum Leben helfen kann, nun nicht wenigstens zum Sterben als dem Ende seiner Leiden zu helfen – und wäre es auch nur in der Form, daß er gewisse Mittel zur künstlichen Verlängerung seines Lebens barmherzigerweise nun eben nicht in Anwendung bringt? Darf ein Patient in solchem Falle den Arzt nicht darum bitten und hat er nicht ein Recht darauf, diese Bitte erfüllt zu sehen? Dürfen nicht die Angehörigen – entweder im Einverständnis mit dem Kranken oder, wenn dieser nicht mehr entschließungsfähig ist, auch ohne ihn – dieselbe Bitte und dasselbe Recht anmelden? Ließe sich nicht ein Idealfall denken, in welchem der Kranke, seine Angehörigen und der Arzt gemeinsam zu einer Entschließung dieses Inhalts kommen würden und dürfte dann deren Ausführung unter den Begriff des Mordes gebracht werden?
Das sind versucherische Fragen. Aber es steckt auch in ihnen, so eindrucksvoll sie sind, zu viel Sophistik, als daß man sie, orientiert am Gebote Gottes, bejahend beantworten könnte. Die menschenfreundliche Wohlgemeintheit ihrer Motive in allen Ehren! Sie stammen offenbar aus einem anderen Buch als dem, in das wir vorhin hineingeblickt haben. Aber subjektives Wohlmeinen genügt nun doch nicht, um aus Unrecht Recht zu machen. Die für diesen ganzen Problembereich zentrale Erkenntnis, daß es Gottes und nur Gottes Sache ist, dem menschlichen Leben ein Ende zu setzen und daß der Mensch dabei nur auf seinen besonderen, klaren Befehl hin mitwirken soll, ist offenbar auch bei den Befürwortern solcher Euthanasie willkürlich – wenn auch in wohlmeinender Willkür – außer acht gelassen. Warum soll es nicht so sein, daß es für alle Menschen und also nicht nur für die mehr oder weniger ausgesprochen Leidenden – aber allerdings auch für sie, und für sie sogar in besonderem Sinne – eine Wohltat sein wird, endlich und zuletzt einmal sterben zu dürfen? Aber gerade Wohltat kann offenbar das Sterben ebensowohl wie das Leben dem Menschen nur sein, indem ihm Beides von Gott zukommt und indem er Beides von ihm entgegennimmt. Woher will nun eigentlich irgend einer der in einem solchen Falle Beteiligten, woher sollten sie auch bei vollem Einverständnis aller unter sich sicher wissen, daß auch ein von schwerstem Leiden heimgesuchtes Leben wirklich aufgehört hat, eben die Wohltat zu sein, die Gott diesem Menschen zugedacht hat? ob es nicht gerade so, wie es jetzt noch von ihm zu leben ist, diese göttliche Wohltat in höchster Form tatsächlich ist? Und woher wissen sie das Andere, daß der Tod, um dessen absichtliche Herbeiführung es da gehen soll, eben indem er vom Menschen willkürlich herbeigeführt wird, für diesen Kranken die Wohltat tatsächlich sein wird, die sie ihm zudenken möchten? ob man ihm nicht in Wahrheit, auch wenn er selbst es wünschen sollte, schwerstes Leid zufügt, indem man ihm nun das Leben nimmt? Von diesen beiden Seiten gesehen: woher will Jemand wissen, daß einem Menschen damit wirklich geholfen wird, daß man ihm «sterben hilft»? Und wie sollte es gewagt werden, auf diese unsichere – vom Glauben an Gott her wird man sogar sofort sagen müssen: auf diese freche und also gewiß nicht verheißungsvolle – Vermutung hin sich töten zu lassen und zu töten?
Man mache sich die Sache im Einzelnen klar (vgl. zum Folgenden William Hordern, Some reflections on Euthanasia, in: Christianity and Crisis, 1950, Nr. 6):
Das von einem Kranken selbst ausgehende – sein vielleicht stürmisches Begehren nach der Euthanasie, der Faktor also, der, wenn er wirklich vorliegt, das Beabsichtigte noch am ehesten rechtfertigen könnte, kann doch wohl nicht als etwas Anderes denn als eine Form von Selbsttötung verstanden werden: der dahingehende Wunsch und Wille des Kranken soll nun eben, da er selbst dazu nicht in der Lage ist, durch die Hand des Arztes ausgeführt werden. Die Frage, die zur Selbsttötung zu stellen war, wird sich also auch hier erheben: wie wird sich das, was der Kranke will, daß es durch die Hand des Arztes geschehe, von einem Selbstmord unterscheiden? Doch nicht dadurch, daß dieser Kranke wohl ohnehin nur noch Tage und Wochen vor sich hat, die von ihm gewünschte Tötung also nur die Abkürzung einer ohnehin nur noch kurzen Lebenszeit bedeuten kann? Denn erstens weiß man das doch nicht sicher; und zweitens könnte man es wohl geradezu zur relativen Entschuldigung des gewöhnlichen direkten Selbstmörders geltend machen: daß er sich in der Regel dem zu erwartenden Ungemach eines vermutlich noch langen Lebens entziehen will, zu seinem Tun also mehr Grund hat als der Kranke, der ja eben nicht mehr lange auf die Erlösung von seinem Leiden zu warten haben dürfte? Das ist sicher: wenn der direkte Selbstmörder im Unrecht ist, dann ist es auch dieser Kranke als indirekter. Wird er wirklich dadurch ins Recht gesetzt, daß er sich ja nur jene so problematische Wohltat erweisen oder also erweisen lassen will?
Und nun seine Angehörigen: Wäre die Euthanasie eine reguläre Möglichkeit, dann würde wohl der Fall nicht selten sein, in dem an Stelle des Kranken sie von sich aus das entscheidende zustimmende oder sogar bittende Wort an den Arzt zu richten hätten. Aber nehmen wir sogar an, sie täten es im Einverständnis mit dem Kranken! Der Fall müßte auch dann jedenfalls bedacht, und zwar zuerst und vor allem von ihnen selbst bedacht sein: ob ihre Zustimmung nicht auch mehr oder weniger unreine Motive enthalten könnte, ihre eigene Befreiung von dem Schmerz, den die Schmerzen des Kranken auch ihnen bereiten, ihre Befreiung von der Last, zu der ihnen sein Leben geworden ist, vielleicht auch noch selbstsüchtigere Gründe, seinen Tod herbeizuwünschen? Aber nehmen wir den Idealfall an: ihre Zustimmung entspringe einer höchsten Form von Liebe; sie möchten es dem Kranken einfach ehrlich gönnen, daß es mit seiner Not ein Ende haben dürfte und da ein anderes nicht abzusehen ist, nun eben dieses. Wieder stehen wir vor der sehr dunklen Frage, ob es denn wirklich eine Gunst, also etwas zum Gönnen ist, was dem Kranken mit der Beschleunigung seines Endes erwiesen wird? Wer hat das Recht dazu, das als Gunst zu verstehen? Einen Kranken also «aufzugeben», sein Leben fallen zu lassen und nun noch mehr: es geradezu in den Tod zu stoßen? Ist es anders denkbar, als daß wirklich, d. h. aber nicht eigenmächtig, sondern in menschlicher Demut liebende Angehörige eines Kranken zwar Alles für seine Pflege und zu seiner Erleichterung tun werden: Alles, was seinen Lebensmut und seine Kraft im Kampf gegen die Krankheit bis zum letzten Augenblick zu stärken vermag, daß sie aber unmöglich etwas in der Richtung auf seinen Tod wünschen, wollen und also zugeben oder gar veranlassen können? Würden sie nicht eben doch zu Mördern werden, wenn sie das tun würden?
Und endlich die entscheidende Figur des Arztes: dem Kranken und den Angehörigen gegenüber (aber zuerst und vor allem Gott gegenüber!) geht es ja um seine Verantwortlichkeit schon für die Feststellung, daß das in Frage stehende Leben dem Tod ohnehin in Bälde verfallen, jene absichtliche Abkürzung des Prozesses also überhaupt in Frage kommen könne. Er hat ja fachmännisch darüber zu entscheiden, ob «Euthanasie» angebracht sein könnte. Und er wird ja dann auch die Ausführung des Entscheides und also die Tötung zu vollziehen haben. Ist die Verantwortung schon für jene Feststellung im Zusammenhang mit diesen Konsequenzen für ihn tragbar? Wo es doch Fälle zu geben scheint, in denen ein von allen Autoritäten schon als «hoffnungslos» krank, als moribundus erklärter Mensch nachher doch noch lange und zwar in wiedergewonnener Gesundheit weitergelebt hat? Wie, wenn man ihm nun voreilig zum Sterben verholfen hätte? Dürfte das Risiko solcher voreiliger Tötung in den einen Fällen der Preis sein für die problematische Wohltat, die der Arzt in anderen, vielleicht relativ sicheren Fällen den Kranken erweisen möchte? Kann man sich verhehlen, daß die Erweiterung der ärztlichen Befugnisse nach dieser Seite nichts mehr und nichts weniger als die schwerste Problematisierung des ärztlichen Berufes als solchen bedeuten würde? Hat nicht gerade der Arzt – unter Umständen im Gegensatz zu allen Meinungen und Wünschen des Kranken und seiner Angehörigen – unbedingt und unermüdlich dem Leben zu dienen, seiner Erhaltung, Entfaltung und Wiederherstellung? Kann er daneben nach seinem Gutdünken auch noch ein Diener des Todes sein wollen?
Überlegt man Alles rundum, so wird man doch auch von dieser Form absichtlicher Tötung schwerlich sagen können, daß sie in irgend einem Grenzfall als wirklich geboten und also als etwas Anderes denn als Mord erscheinen könnte. Man halte sich vor Augen: Sterbende, das heißt nach Ablauf irgend einer ihnen unbekannten Frist dem Tode verfallene Menschen sind in solchem Fall nicht nur der Kranke, sondern auch seine Angehörigen, auch der Arzt selber, und irgend ein Leid, das ihnen die Abkürzung der ihnen noch gegebenen Frist als wünschenswert erscheinen lassen könnte, haben sie bestimmt alle zu tragen. Und gilt das nicht von allen Menschen? Wo kämen wir aber hin, was würde des Menschen Verhältnis zu Gott und was würde der gebotene Schutz des Lebens noch bedeuten können, wenn es über eine willkürliche Erfüllung solcher Wünsche alle Augenblicke zu Selbstgesprächen und anderen Gesprächen kommen, wenn die Möglichkeit eigenmächtiger Leidensverkürzung durch Lebensverkürzung als eine Diesem und Jenem zu erweisende «Wohltat» wirklich zur Diskussion stehen dürfte? Wo könnte diese Diskussion legitim anfangen und wo könnte sie, einmal eröffnet, endigen? Wo Leben gegen Leben auf dem Spiele steht, wie in der Frage der Schwangerschaftsunterbrechung, da kann in Übereinstimmung mit dem Gebot gefragt und geantwortet werden. Wie aber soll das da geschehen, wo es um die Wahl zwischen einem – ob zwar leidenden – Leben und dem Tod gehen soll? Bleibt also, Alles wohl überlegt, etwas Anderes übrig, als auch von der in dieser Absicht und Gestalt zu administrierenden «Euthanasie» zu sagen: sie ist vor dem Gebot Gottes auf keinen Fall zu rechtfertigen, im Gehorsam gegen Gottes Gebot wird diese Aktion nicht zu unternehmen und durchzuführen sein?
Auch dann nicht, wenn es sich nicht sowohl um aktive Tötung als passiv um die Unterlassung der Anwendung jener das Leben, das heißt die Herztätigkeit, noch und noch einmal aufs Künstlichste verlängernden Stimulantien handeln sollte, in deren Erfindung und Herstellung die chemische Industrie unserer Tage so erfolgreich geworden ist? Man wird grundsätzlich gewiß sagen müssen: Nein, auch dann, auch so nicht! Man wird aber in dieser Hinsicht allerdings die Frage nicht ganz unterdrücken können, ob es bei dieser Art künstlicher Lebensverlängerung immer mit rechten Dingen zugeht, ob hier nicht auch so etwas wie ein menschlicher Übergriff in der entgegengesetzten Richtung vorliegen könnte? Ob hier ärztliche Pflichterfüllung nicht doch schon zum Fanatismus, Vernunft nicht doch schon Unsinn, gebotene Wohltat nicht doch schon zur verbotenen Plage menschlichen Lebens zu werden droht? Der Fall ist mindestens denkbar, daß ein Arzt vor solcher Lebensverlängerung ebenso zurückschrecken könnte und müßte wie vor einer eigenwilligen Lebensverkürzung. Man wird die weitere Entwicklung der Dinge auf diesem Gebiet noch abwarten müssen, um allgemein klar zu sehen. Es ist aber nicht unmöglich, daß sich in dieser speziellen Hinsicht doch noch einmal so etwas wie ein Grenzfall abzeichnen könnte. Nicht um eine willkürliche «Euthanasie» würde es sich dann handeln, sondern um denjenigen Respekt, den auch das sterbende Leben als solches in Anspruch nehmen darf.
Quelle: Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. III,4 (Zollikon-Zürich 1951), § 55 Freiheit zum Leben, Seiten 484-488.
Die Frage im Verhältnis des Menschen zu Gott, hat ein wir, mit einer Dazwischenrede nicht zu bestimmen. Das kein Urteil einem anderen zu seiner unteilbaren Menschenwürde je erlaubt. Jeder Mensch ist alt genug um zu sterben.