Fürchtet Euch nicht! Ein Brief (1950)
Lieber Herr Pfarrer! [Wolf-Dieter Zimmermann]
Soso, nun ist also in Westdeutschland — und ausgerechnet in „Christ und Welt” — mein Brief an Hromadka vom Herbst 1938 ausgegraben und gegen Heinemann und Niemöller ausgespielt worden. Ich staune. Damals wollte dieses Schriftstück nämlich niemandem in Deutschland gefallen — und den Leuten vom Schlage derer, die heute „Christ und Welt” schreiben und lesen, schon gar nicht! —; sondern damals regneten die besorgten, betrübten und vor allem entrüsteten Äußerungen auch von sachlich und persönlich befreundeter Seite (um von den anderen nicht zu reden!) nur so auf mich ein; nicht selten mit Belehrungen über meinen offenkundigen Abfall von Barmen I. Und unter einem förmlichen Verweisbrief — ausgehend von einem hohen Gremium der Bekennenden Kirche — stand damals der Name eben des Mannes, den Sie jetzt in Ihrem Brief als Kursleiter der gegen Heinemann und Niemöller aufgebotenen Dämonentheologie und politischen Antichrist-Lehre erwähnen. Heute aber scheint jenes Schriftstück als Zeugnis des „Vaters der Bekennenden Kirche” für die deutsche Remilitarisierung gerade gut genug zu sein. O wunderliche Welt.
Aber Sie meinen, es sei gut, wenn ich Ihnen ausdrücklich sage, warum ich meinen Hromadka-Brief heute nicht auf den Osten angewendet wissen wollte? Warum ich heute nicht die Situation von 1938 gegeben sehe? Sie könnten die Frage ja auch noch schärfer stellen: warum ich heute nicht an einen meiner westdeutschen Freunde einen ähnlichen oder gleichen Brief mit der Applikation (Anwendung) auf die Russen schreibe? Ich will versuchen Ihnen Antwort zu geben.
1. Der Hromadka-Brief von 1938 war mein Aufschrei in den Tagen des Münchner Vertrages. Er ging nach Prag: dorthin, wo damals die Entscheidung fallen mußte, ob nun auch die Welt außerhalb Deutschlands sich den Einbruch Hitlers gefallen lassen wolle oder nicht. Am 30. September jenes Jahres schrieb ich in meinen Kalender: „Katastrophe der europäischen Freiheit in München.” Ich sah mich namenlos allein mit dieser Auffassung. Unter „Realismus” verstand damals ungefähr jedermann: Anerkennung der von Hitler geschaffenen Tatsachen. In allen Kirchen — auch hier in der Schweiz — wurden Dankgottesdienste für die Erhaltung des Friedens gehalten. Ein halbes Jahr später hatte Hitler freilich auch jenen schmählichen Vertrag schon gebrochen. Und ein Jahr später stand er schon in Polen — und das Weitere folgte. Wenn „der tschechische Soldat” 1938 gestanden und wenn ihn der Westen damals nicht verraten hätte, würden die Russen heute nicht an der Elbe stehen. Damals fielen die Würfel. Damals wurde das Ost-West-Problem aufgerollt. Und damals schliefen Europa und die Christenheit. Damals war es Zeit zu schreien.
Wir sind seither Zeugen unzähliger schrecklicher Konsequenzen der damals geschehenen Fehlentscheidung geworden. Wir hatten und haben ihnen gegenüber von Schritt zu Schritt konkret Stellung zu nehmen. Ich habe das nach meiner Einsicht und meinen Kräften auch getan. Ich weiß aber tatsächlich nicht, wann, wohin und an wen ich seither wieder einen Brief von der Art des damaligen hätte richten sollen. Eine solche Wende, Entscheidung und Katastrophe wie damals, in der bei Ja oder Nein alles auf dem Spiel stand, ist seither meines Wissens nicht wieder eingetreten. So habe ich jenen Aufschrei nicht wiederholt. Die — gut oder schlecht begründete — Entschlossenheit zur Abwehr des drohenden Stalin’schen Kommunismus, um die es heute geht, ist im Westen Gemeingut. Ihre Verstärkung und Intensivierung durch ein christliches Wort ist überflüssig. In dieser Hinsicht schläft ja heute niemand. Im Gegenteil: in dieser Hinsicht herrscht heute eine allgemeine Überwachheit, Nervosität, Angst und Aufregung, ein allgemeines, lautes Denken und Reden in großen Schlagworten, das der gebotenen und nötigen Entschlossenheit in dieser Sache bestimmt nicht zugute kommt.
Das christliche Wort heute muß dahin lauten, daß wir uns nicht fürchten sollen. Dieses Wort aber kann jedenfalls nicht geschrieen werden; und mir scheint, daß es am besten damit gesprochen wird, daß man es zu leben versucht und schweigt, wo ohnehin so viel geredet — neben wenig Nützlichem so viel Unnützes und Gefährliches geredet wird. Ich habe es darum z. B. für meine Person vorgezogen, in diesen Jahren der Verwirrung, der Stockung und des Lärms, statt nun etwa alle Augenblicke weitere Hromadka-Briefe zu schreiben, meine Dogmatik weiter zu treiben; und ich wollte eigentlich auch vielen anderen den Rat geben, ihre Entschlossenheit dadurch zu üben und unter Beweis zu stellen, daß sie — statt dauernd die Hände zu verwerfen — ihr Korn für den Frühling säen, ihr Vieh wintern, an ihrem Ort aufbauen und helfen, das Wort Gottes predigen und ihm trauen — kurz: westliche Menschen und Christen sein möchten, ohne zu viel Kraft an die Sorge zu wenden, ob sie es wegen Stalin übers Jahr auch noch sein könnten. Alles habe seine Zeit, meine ich in der Bibel gelesen zu haben.
2. Im Hromadka-Brief von 1938 habe ich — und das des Glaubens willen — zum bewaffneten Widerstand gegen die eben stattfindende bewaffnete Drohung und Aggression Hitlers aufgerufen. Ich bin nicht Pazifist und würde heute in derselben Lage dasselbe wieder tun. Der damalige Feind der tschechoslowakischen und der europäischen Freiheit bewies es in jenen Tagen durch die Tat und hat es nachher immer wieder bewiesen, daß seiner Gewalt nur durch Gewalt zu begegnen war. Gab es außerhalb Deutschlands noch eine Staatsordnung, so mußte sie in dem Augenblick, wo Hitler über die Grenzen Deutschlands hinausgriff, so verteidigt werden, wie der Staat seine Ordnung im Notfall auch sonst zu verteidigen hat. Daß das geschehen müsse, war das, was damals gerade christlich zur Sache zu sagen war. Der Friede um jeden Preis, den die Welt und auch die Kirche damals haben wollten, war eine tief unmenschliche, aber auch tief unchristliche Angelegenheit. Das ist es, was ich damals zu „schreien” versuchte. Viel Unmenschliches und Unchristliches, was nachher geschah, hätte damals, wenn die Staatsordnung im Westen rechtzeitig verantwortlich verteidigt worden wäre, verhältnismäßig schmerzlos, vielleicht sogar ohne Blutvergießen, einfach durch den Beweis bewaffneter Festigkeit, verhindert werden können.
Und nun ist das heutige Rußland bestimmt nicht die Friedensmacht, als die es sich ausgibt. Es fühlt sich nach den Aussagen seiner Wortführer speziell durch die angelsächsischen Staaten bedroht. Die Gründe dafür sind mir bei aller Offenheit für seine Sorgen in diesen Jahren nicht so einsichtig geworden, daß ich sie für notwendig halten könnte. Sicher ist, daß Rußland sofort nach Kriegsschluß seinerseits eine drohende Haltung einzunehmen begonnen hat. Es ist zuerst zu einer Blockbildung und zu wunderlichen Abgrenzungen geschritten. Die Unruhe im Blick auf einen weiteren Krieg ging von seinen Verhaltungsweisen aus: nicht zuletzt von dem immer aggressiven Charakter seiner Propaganda in anderen Ländern und gegen deren Regierungen und Lebensformen. Ich gestehe darum offen, daß ich es, wenn ich verantwortlicher Staatsmann in Amerika oder in England wäre, auch nicht unterlassen könnte, auf eine möglicherweise notwendig werdende militärische Defensive bedacht zu sein. Und es fällt mir erst recht gar nicht ein, es nicht gutzuheißen, wenn die Schweiz ihre bescheidenen Abwehrmittel auf diese Perspektive hin aufs neue instand setzt und in Ordnung bringt. Aber eben: das Entsprechende geschieht ja heute im Westen auf der ganzen Linie ohnehin und wahrlich ohne daß eine besondere christliche Ermahnung dazu auch nur von ferne nötig wäre. Sie könnte eines Tages wieder sehr nötig werden: wenn es plötzlich darum gehen sollte, von all der jetzt vorbereiteten Rüstung unter Einsatz von Gut und Blut Gebrauch zu machen und also aus all den Aufregungen Taten werden zu lassen. Wir werden ja sehen, wer dann am klarsten und entschiedensten zu reden weiß.
Heute aber geht die christliche Aufgabe bestimmt in andere Richtung. Heute haben wir vor allem unermüdlich darauf hinzuweisen, daß der Krieg — er hat das mit dem Tode gemeinsam — erst unvermeidlich ist, wenn er da ist. In dem Ereignis von 1938 war er faktisch schon da und hätte damals durch kriegerische Entschlossenheit im Keim erstickt werden können und müssen. Ein solches Ereignis hat Rußland bis heute nicht herbeigeführt. Es hat bis jetzt niemandem ein Ultimatum gestellt oder sich — ich halte Korea nicht dafür — einer entsprechenden Aggression schuldig gemacht. Es gibt keinen Beweis dafür, sondern es spricht manches ernstlich dagegen, daß es den Krieg überhaupt will. Noch sind andere Mittel vorhanden, den bestehenden Konflikt auszutragen. Bevor sie erschöpft sind, wie sie im Herbst 1938 faktisch schon erschöpft waren, hat niemand im Westen das Recht, den Krieg zu erwarten oder gar an ihn zu glauben und also Rußland so zu begegnen, wie man Hitler damals hätte begegnen müssen. Wir haben darum nicht nur aller da und dort auch im Westen schon wieder aufbrechenden natürlichen Kriegslust, Kriegsfreudigkeit und kriegerischen Herausforderung als solcher entgegenzuwirken, sondern wir haben energisch daran zu erinnern, daß die westliche Abwehrentschlossenheit gegen den östlichen Kommunismus auf gar keinen Fall den Charakter von Angst und also von Haß tragen, daß sie sich vorläufig auf gar keinen Fall in einem kriegerischen Reden, Denken und Verhalten ausleben darf. Krieg, der kein aufgezwungener Krieg, der etwas anderes ist als die „ultima ratio” (der letzte Ausweg) der Staatsordnung, Krieg an sich ist Mord und Totschlag und also auch alles, was zum Ausbruch des Krieges treibt, statt ihm entgegenzuwirken. Alle voreilige Bejahung des Krieges, alle Gedanken, Worte und Maßnahmen, die im Grunde damit rechnen, daß der Krieg schon da sei, treiben aber zum Kriege. Aus diesem Grund ist es nötig, daß es jetzt in allen Ländern Menschen gibt, die sich an dem im Schwung befindlichen — ja doch nur oratorischen — Kreuzzug gegen Rußland und den Kommunismus, wie sehr man sie deswegen von allen Seiten anbrülle, in aller Ruhe nicht beteiligen.
Und endlich: wir werden nicht dringlich genug darauf aufmerksam machen können, daß es dem Kommunismus gegenüber letztlich und im Grunde nur die positive Abwehr gibt, die in der Schaffung gerechter, für alle Schichten der Bevölkerung tragbarer sozialer Verhältnisse besteht. Man sollte sich nicht verheimlichen oder ausreden wollen, daß wir es, wenn es zum Krieg kommen müßte, mit einer gegnerischen Armee von Millionen zu tun haben würden, die nicht nur tüchtige und gut ausgerüstete Soldaten, sondern die — sei es denn: nach unserer begründeten Ansicht mit Unrecht — von der Güte ihrer Sache tief überzeugt und von daher entschlossen sind, im Kampf gegen eine Welt von Verbrechern (das sind wir!) ihr Letztes dafür herzugeben. Würde Ähnliches von den der „Freien Welt” auch gelten? Irgend eine Abneigung gegen Rußland und den Kommunismus würde dazu sicher nicht genügen, sondern nur dies, daß die westlichen Massen die Güte dessen, was wir im Westen Freiheit nennen, am eigenen Leib so erfahren haben, daß sie auch ihnen des Einsatzes ihres Lebens wert erscheinen wird. Der Kommunismus könnte aber auch ohne Krieg einfach dadurch triumphieren, daß sein schlechteres Angebot den westlichen Massen (wie es etwa in Frankreich heute schon der Fall zu sein scheint) immer noch besser erscheinen könnte als das, was man ihnen unter der Marke „Demokratie” auf unserer Seite zu bieten wagt. Wer den Kommunismus nicht will — und wir wollen ihn alle nicht —, der trete gerade nicht gegen ihn in die Schranken, sondern stehe für einen ernsthaften Sozialismus! Das sind die heutigen Schläfer, die das immer noch nicht begriffen haben. Und ihnen das begreiflich zu machen, ist heute die christliche Aufgabe. Sie sieht wirklich anders aus als 1938.
3. Der Brief von 1938 war an einen tschechischen Freund gerichtet und handelte bekanntlich vom „tschechischen Soldaten”. In ähnlicher Weise — nur eben in gemessenerem Ton und in größerer Genauigkeit — bin ich dann in den folgenden Jahren für die geistige, aber auch für die militärische Abwehrbereitschaft der Schweiz eingetreten. In der Frage, die Sie mir stellen, geht es aber um die Wiederaufrüstung, die „Remilitarisierung” des deutschen bzw. des westdeutschen Volkes. Man sollte diese Frage weder mit dem allgemeinen Problem des Pazifismus verwirren, noch mit der Frage der sonstigen westlichen Abwehrbereitschaft. Die Logik kann durchaus nicht verlangen, daß, wer den Pazifismus ablehnt und die westliche Abwehrbereitschaft bejaht, darum auch der Aufstellung einer neuen deutschen Armee im Rahmen eines künftigen Westheeres zustimmen müsse. Auf der Linie dieses Trugschlusses schreibt heute auch die bürgerliche Presse in der Schweiz: Deutschland müsse zur „Verteidigung der freien Welt” auch seinen Beitrag leisten (und wie das alles heißt); sie schreibt also im Sinn von Adenauer und gibt Niemöller und Heinemann fortwährend schlechte Noten. Ich will Ihnen in ein paar Punkten angeben, warum ich die Frage der deutschen Remilitarisierung für eine besondere halte, warum ich sie mit Niemöller und Heinemann negativ beantworte, warum ich mich also wohl hüte, heute einen dem Brief von 1938 formal entsprechenden Brief an einen deutschen Freund zu richten. Daß die Deutschen gewaltige Soldaten sind, ist mir bekannt. Daß es dem Westen darum technisch erwünscht sein kann, sie nun doch wieder „marschieren” zu lassen, ist mir verständlich. Ich verstehe auch den einfachen Abwehrinstinkt, der auch einen Westdeutschen selbst angesichts dessen, was er in der Ostzone vor sich hat, dazu treiben könnte, doch wieder nach den Waffen zu rufen. Dennoch denke ich, zu dieser Sache eindeutig „Nein” sagen zu müssen.
Ich bringe nämlich erstens einfach die Unverfrorenheit nicht auf, dem deutschen Volk, dessen Jugend sich nun in zwei Kriegen weißgeblutet hat wie die keines anderen Volkes, dieses Opfer ein drittes Mal zuzumuten. Und ich meine, daß ein gesunder und berechtigter Selbsterhaltungstrieb auch das deutsche Volk selbst dazu anregen sollte, sich dieses Opfer zu verbitten.
Ich halte es zweitens für unmöglich, ihm zuzumuten, sich auf einen Krieg zu rüsten, der — so wie die Dinge liegen — für Deutschland notwendig den Charakter eines Bürgerkrieges, des Kampfes von Deutschen gegen Deutsche, haben müßte.
Es scheint mir drittens moralisch undurchführbar, ein Volk, dem man nun seit fünf Jahren alles militärische Wesen bis hin zu den Bleisoldaten seiner Büblein konsequent auszutreiben versucht hat, nun auf einmal doch wieder mit allen möglichen allgemeinen und besonderen christlichen und politischen Argumenten dahin belehren zu wollen, daß es sein Heil in der Vorbereitung eines weiteren Krieges zu suchen habe.
Es scheint mir viertens klar zu sein, daß, wenn etwas, so gerade eine militärische Aufrüstung in Westdeutschland eine direkte Herausforderung der Sowjetunion bedeuten würde und den Funken ins Pulverfaß bedeuten könnte, mit dem der Westen, und Deutschland insbesondere, nicht zu spielen allen Anlaß hätte.
Es ist mir — und nicht nur mir — fünftens völlig verborgen, ob und inwiefern eine ernsthafte Verteidigung Deutschlands zwischen Elbe und Rhein (die Sache also, die der Remilitarisierung allein einen allenfalls möglichen Sinn geben könnte) von den westlichen Strategen überhaupt beabsichtigt ist, oder ob eine deutsche Armee schließlich doch nur als Nachhut sich zu opfern oder allenfalls — unter Hinterlassung von Weib und Kind — an den Pyrenäen zu fechten hätte.
Ich denke sechstens, daß das vorhin über die positive Abwehr des Kommunismus allgemein Gesagte für Westdeutschland ganz besondere Bedeutung habe: Ist denn in Sachen der Ostflüchtlinge, der Arbeitslosen, des Lastenausgleichs, der Wohnungsbeschaffung, der Kriegsgefangenen-Heimkehrer in Westdeutschland schon so viel getan, daß man sicher davor ist, daß die dortige soziale Situation den Kommunismus nicht trotz aller jetzt bestehenden Abneigung endlich und zuletzt doch anziehen muß wie ein Schwamm die Feuchtigkeit? Ist nun wirklich „realistisch” gedacht, der Vorbereitung eines möglichen Ostkrieges auch nur den Bruchteil der ohnehin geringen Kraft zuzuwenden, die man zur Bewältigung der durch den Krieg und seinen Ausgang gestellten, wie mir scheint, geradezu ungeheuerlich großen Aufgaben nötig hat? Als Deutscher würde ich sagen: non possummus (wir können das nicht), wir sind für lange hinaus anders beschäftigt.
Und nun frage ich — etwas zögernd, weil ich mir in Deutschland nicht gern neue Ungunst schaffen möchte — siebentens: Wäre es nun nicht doch allen Ernstes eine mißliche Sache, wenn heute ausgerechnet eine deutsche Armee mit allem, was dazu gehört, aufs neue entstünde und als angeblicher Faktor der europäischen Sicherheit ins Spiel träte? Es ist nun einmal, wie die Geschichte sattsam gezeigt hat, zweierlei, ob ein Engländer oder ein Schweizer die Uniform anzieht und die Waffe in die Hand nimmt, oder ob ein Deutscher dasselbe tut. Der Deutsche wird dabei nachweislich allzu leicht und allzu allgemein zum totalen Soldaten. Ihn möchten wir anderen im europäischen Lebensraum lieber nicht mehr auftauchen sehen; auch nicht im Blick auf seinen an sich sicher sehr tüchtigen Beitrag zu einer gemeinsamen Verteidigung. Und auch — nein, gerade wenn ich selbst Deutscher wäre, würde ich nach seiner Auferstehung kein Verlangen haben: auch nicht im Blick auf die dem deutschen Westen drohende Ostgefahr. Dieser totale Soldat hat Deutschland selbst zu viel Unheil gebracht. Es muß in Deutschland zu vieles radikal neu gelernt und zu viel radikal vergessen werden, was heute noch keineswegs vergessen und noch keineswegs gelernt scheint, bevor man an die Existenz von deutschen Soldaten wieder ohne Grauen denken kann.
Das also sind die Erwägungen, auf Grund derer ich mich als Verfasser des Hromadka-Briefes von einst heute im Ergebnis nur mit aller Bestimmtheit auf die Seite von Niemöller und Heinemann stellen kann.
Sie fragen mich, ob man es wegen der in dieser Sache bestehenden Differenz innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschlands auf einen neuen Kirchenkampf ankommen lassen dürfe und solle? Ich kann von hier aus nicht beurteilen, ob es zu einem solchen kommen muß, wenn die evangelischen Gegner der Remilitarisierung in ihrer Haltung fest bleiben. Ich denke aber, daß sie darin, wenn sie die Sache theologisch und politisch gut durchdacht haben und ihres Gewissens vor Gott sicher sind, auf alle Fälle, und komme und werde daraus, was da wolle, fest bleiben sollten. Der Fall des guten und darum notwendigen Bekenntnisses im Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde dürfte gegeben sein.
Sie haben mich gebeten, mich zu der Sache in „Unterwegs” zu äußern, und nun habe ich Ihnen einen Privatbrief geschrieben. Aber wissen Sie was? Machen Sie es, wie es seinerzeit mein Freund Hromadka mit meiner Zustimmung gemacht hat: Drucken Sie diesen Brief, wenn er Ihnen dort lehrreich und brauchbar erscheint, als solchen und so, wie er lautet, in „Unterwegs” ab! Vielleicht erregt er nicht einmal einen solchen Aufruhr wie jener andere Brief. Oder vielleicht doch?
Mit freundlichem Gruß!
Ihr K. B.
Quelle: Karl Barth, Der Götze wackelt. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hrsg. v. K. Kupisch, Berlin 1961, S. 150-157.