Wider die Selbsttötung. Aus einem Brief an Lore Karrenbrock (1895-1928) vom 9. Mai 1919
Ich sagte Ihnen, was ich vom freiwilligen Sterben denke und will Ihnen sagen, was ich niemals aussprach: dann aber niemals mehr ein Wort hiervon reden und vernehmen. Ich selbst habe um die Zeit, als Sie geboren wurden, jahrelang den Gedanken mit mir herumgetragen, den ich jetzt verwerfen muß.
Ich halte dies Ende für ein metaphysisches Unrecht, für ein Unrecht am Geiste. Es ist Mangel an Vertrauen zur ewigen Güte, Auflehnung gegen die innerste Pflicht, dem Weltgesetz zu gehorchen. Wer sich tötet, tötet; und nicht nur sich selbst, sondern ein anderes Wesen. Denn der Mensch ist keine Einheit. Dieser Tod, das ist meine tiefe Überzeugung, ist keine Befreiung wie das natürliche und unverschuldete Ende. Jede Gewalt in der Welt wirkt fort, wie jede Tat. Wir sind dazu da, um vom Leiden der Welt etwas auf uns zu nehmen, indem wir unsere Brust darbieten, nicht es zu vermehren, indem wir Gewalt tun.
Ich weiß, daß Sie leiden und fühle Ihr Leiden mit Ihnen. Seien Sie gütig gegen dieses Leiden, es wird gegen Sie gütig sein. Durch Wünsche mehrt es sich und durch Unwillen; durch Milde schläft es ein wie ein Kind.
Sie haben so viel Liebe in sich; wenden Sie alles den Menschen zu, den Kindern, den Dingen, selbst Ihnen und Ihren Schmerzen. Seien Sie nicht einsam; wollen Sie es nicht sein; überwinden Sie das Hemmnis, blicken Sie ihm ins Auge; es ist nichts.
Walter Rathenau
Quelle: Walther Rathenau, Briefe an eine Liebende, Dresden: Carl Reißner, 1931, S. 19.