Karl Barths Rückruf-Brief an Dietrich Bonhoeffer in London vom 20. November 1933: „Sie müssten jetzt alle noch so interessanten denkerischen Schnörkel und Sondererwägungen fallen lassen und nur das Eine bedenken, dass Sie ein Deutscher sind, dass das Haus Ihrer Kirche brennt, dass Sie genug wissen und was Sie wissen gut genug zu sagen wissen, um zur Hilfe befähigt zu sein und dass Sie im Grunde mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückkehren müssten! Nun, sagen wir: mit dem übernächsten!“

Nachdem Dietrich Bonhoeffer den Pfarrdienst für zwei deutschsprachige Auslandsgemeinden in London übernommen und seine Beweggründe Karl Barth in einem Brief vom 24. Oktober 1933 dargelegt hatte, schrieb dieser folgenden Rückruf-Brief:

Brief Karl Barths an Dietrich Bonhoeffer in London

20. November 1933

Lieber Herr Kollege!

Sie können schon aus dieser Anrede entnehmen, daß ich gar nicht daran denke, Ihren Abmarsch nach England anders denn als ein vielleicht persönlich notwendiges Zwischenspiel zu betrachten. Sie hatten, da Sie diese Sache nun einmal im Sinn hatten, sehr recht, meinen weisen Rat dazu nicht erst einzuholen. Denn ich würde Ihnen bedingungslos und wahrlich unter Aufführung schwersten Geschützes davon abgeraten haben. Und da Sie mich nun nachträglich wegen dieser Sache anreden, kann ich Ihnen wahrlich nichts Anderes zurufen als: Schleunigst zurück auf Ihren Berliner Posten! Was heißt „Abseitsgehen“, „Stille des Pfarramts“ usw. in einem Augenblick, wo Sie in Deutschland einfach gefordert sind? Sie, der Sie so genau wissen wie ich, daß die Berliner Opposition und die kirchliche Opposition in Deutschland überhaupt innerlich auf so schwachen Füßen steht! Daß jeder ehrliche Mann alle Hände voll damit zu tun haben müßte, sie scharf und klar und fest zu machen! Daß jetzt vielleicht Alles kaputt geht nicht an der wahrlich nicht allzu großen Macht und List der D. C., wohl aber an der Sturheit und Dämlichkeit, an der heillosen Ungrundsätzlichkeit gerade der Anti-D. C.! Daß man jetzt unter keinen Umständen weder Elia unter dem Wacholder noch Jona unter dem Kürbis spielen darf sondern aus allen Rohren schießen muß! Was soll das Lob, das Sie mir spenden – von der andern Seite des Kanals her? Was sollte die Botschaft, die mir Ihr Schüler ausrichtete als ich gerade mitten im Gemenge mit dem famosen „Brüderrat“ des Notbundes war – statt daß Sie dagewesen und mir diesen Brüdern gegenüber beigestanden hätten? Sehn Sie, ich bin ja nun in den letzten Wochen zweimal in Berlin gewesen und glaube nun ziemlich genau zu wissen, was dort gespielt wird, habe mich auch redlich bemüht, das Steuer herumzureißen, habe wohl auch einige Teilerfolge gehabt, hätte aber, wenn die Dinge sich zum Guten wenden sollten, ganz, ganz andere Erfolge haben müssen und bin darum speziell das zweite mal sehr deprimiert von jener Stätte weggegangen. Warum waren Sie nicht da, um mit am Seil zu ziehen, das ich fast allein ja wirklich kaum vom Fleck kriegen konnte? Warum sind Sie nicht dauernd dort, wo nun so viel darauf ankäme, daß ein paar beherzte Leute bei jedem großen oder kleinen Anlaß auf der Wache wären und versuchten zu retten, was zu retten ist? Warum, warum? Sehn Sie ich unterstelle ja, wie schon gesagt gerne, daß dieser Ihr Abmarsch für Sie persönlich notwendig war! Aber ich muß schon hinzufügen dürfen: Was heißt im gegenwärtigen Augenblick sogar „persönliche Notwendigkeit“? Ich meine aus Ihrem Briefe zu sehen, daß Sie, wie wir Alle – jawohl wie wir Alle! – leiden unter der ganz ungemeinen Schwierigkeit, in dem gegenwärtigen Chaos „gewisse Tritte“ zu tun. Aber sollte es Ihnen nicht einleuchten, daß das kein Grund ist, sich diesem Chaos zu entziehen, daß wir vielmehr in und mit unsrer Ungewißheit, und wenn wir zehnmal und hundertmal straucheln und irren sollten gefordert sind, unsern Mann zu stellen, wie gut oder schlecht wir dann unsre Sache machen mögen. Mir will es einfach so gar nicht gefallen, daß Sie angesichts dessen, worum es für die deutsche Kirche heute geht, jetzt noch eine solche Privattragödie auf die Bühne stellen mögen, als ob nicht nachher, wenn wir so Gott will aus dem Schlamassel wieder ein wenig heraus sind, zur Abreagierung der verschiedenen Komplexe und Hemmungen, an denen Sie leiden wie andere auch darunter zu leiden haben, Zeit genug wäre. Nein, ich kann und ich werde Ihnen auf alle Begründungen oder Entschuldigungen, die Sie mir vielleicht noch vortragen könnten, immer nur antworten: Und die deutsche Kirche? Und die deutsche Kirche? – bis Sie wieder in Berlin sind, um treu und brav Ihr dort verlassenes Maschinengewehr zu bedienen. Merken Sie noch nicht, daß jetzt eine Zeit gänzlich undialektischer Theologie angebrochen ist, in der es auf keinen Fall angeht, sich mit „Vielleicht – vielleicht auch nicht!“ in Reserve zu halten, sondern daß jetzt jeder beliebige Bibelspruch uns förmlich zuschreit, wir verlorenen und verdammten Sünder sollten jetzt einfach glauben, glauben, glauben?! Sollten Sie mit Ihrem schönen theologischen Rüstzeug, und dazu noch eine solche Germanengestalt wie Sie, sich nicht fast ein wenig genieren etwa vor einem Mann wie Heinz Vogel, der verhutzelt und aufgeregt wie er ist, einfach immer wieder da ist, seine Arme kreisen läßt wie eine Windmühle und „Bekenntnis, Bekenntnis!“ schreit und in seiner Weise, – in Kraft oder Schwachheit darauf kommt jetzt nicht so viel an – tatsächlich ablegt? Ich kann Ihnen ja wirklich nicht die Beteiligung an einem Triumph in Aussicht stellen, wenn ich Sie bitte, wieder nach Deutschland zurückzukommen. Es ist hier Alles so mühselig und unerfreulich wie nur möglich und so wie man sich auf ein taktisches oder geschichtsphilosophisches Denken auch nur ein bißchen einläßt, kann man sich jeden Augenblick klar machen, daß – es rast der See und will sein Opfer haben – alle Mühe doch umsonst, die deutsche Kirche doch verloren ist. Sie werden aus der Fortsetzung der neuen Schriftenreihe – sie bringt auch in Heft 3 und 4 mehr oder weniger aktuelle Dinge von mir – sehen, wieviel Mühe ich selber habe, mich der Müdigkeit zu erwehren. Aber nichtwahr, man darf ja jetzt nicht müde werden. Und so darf man jetzt noch weniger nach England gehen! Was in aller Welt sollen und wollen Sie dort drüben? Seien Sie froh, daß ich Sie nicht persönlich hier habe, denn ich würde sonst noch ganz anders eindringlich auf Sie losgehen mit der Forderung, Sie müßten jetzt alle-noch so interessanten denkerischen Schnörkel und Sondererwägungen fallen lassen und nur das Eine bedenken, daß Sie | ein Deutscher sind, daß das Haus Ihrer Kirche brennt, daß Sie genug wissen und was Sie wissen gut genug zu sagen wissen, um zur Hilfe befähigt zu sein und daß Sie im Grunde mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückkehren müßten! Nun, sagen wir: mit dem übernächsten! Aber ich kann Ihnen schon nicht ausdrücklich und eindringlich genug aussprechen, daß Sie nach Berlin und nicht nach London gehören.

Da auch Sie mir im Grunde nur dies geschrieben haben, daß Sie nun eben dort seien, will ich Ihnen für diesmal auch nichts Anderes schreiben als dies, daß Sie in Berlin sein sollten.

Leider muß ich mir Ihre Adresse erst durch Gertrud Staeven schicken lassen, so daß Sie dieser Brief erst mit einiger Verspätung erreichen kann. Sie werden ihn so freundschaftlich verstehen wie er gemeint ist. Wenn mir nicht so an Ihnen gelegen wäre, würde ich Ihnen nicht so ans Portepee greifen.

Mit herzlichem Gruß

Ihr [Karl Barth]

Grüßen Sie Herrn Hildebrandt. Ich wurde mir erst nachträglich klar darüber, daß er ja der Mann ist, der das Buch „Est“ geschrieben hat und darin ja wohl auch einiges Böse über mich gesagt haben soll. Ich habe es nicht gelesen und bin schon darum bereit ihm Alles zu verzeihen.

Hier der Brief als pdf.

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