Jürgen Roloff, Exegese als Sprachhilfe zur einfachen Gottesrede (1994): „Wer predigt, sollte ein Gespür für jene Aussagen des biblischen Textes haben, von denen zu erwarten ist, daß sie bei den Predigthörern historische Zweifel und kritische Rückfragen provozieren. Diese Hörer sind nun einmal weitgehend bestimmt vom rationalistischen Denken der modernen Gesellschaft, der sie angehören.“

Exegese als Sprachhilfe zur einfachen Gottesrede

Von Jürgen Roloff

I.

Die lange Zeit als selbstverständlich geltende Behauptung, der Weg von der historisch-kriti­schen Textauslegung zur Predigt sei theologisch sachgemäß, weil der Sache der Predigt dienlich, ist in den letzten Jahren zusehends kritisch in Frage gestellt worden. Und dies, wie mir scheint, mit Recht. Die gewichtigen Gegenargumente kamen sowohl aus dem Bereich der theologischen Hermeneutik wie auch aus der Erfahrungs­welt der Predigtpraxis. Um nur einige davon kurz anzudeuten: Die Vorschaltung der Exegese bringt den Text in eine kaum überbrückbare Distanz zur heutigen Gemeinde. Die Rekonstruktion dessen, was der Text in seiner geschichtlichen Ursprungssituation sagen wollte, gewinnt zumeist ein so starkes Eigengewicht, daß der Prediger mit dem folgenden Schritt, durch Interpretation die Bedeutung des Textes für Glauben und Leben heutiger Christen aufzuweisen, überfordert ist. Es bleibt dann in der Regel beim Aufweis anthropologischer Parallelen[1], wenn nicht gar bei der Auswertung einzelner Worte, die sich für einen assoziativen Bezug zu gegenwärtigen Erfahrungen anbieten. Der Prediger entscheidet aufgrund seiner exegetischen Kompetenz, in wieweit und ob überhaupt der Text „uns heute“ noch etwas zu sagen hat. Damit aber maßt er sich die unangemessene Kompetenz eines Richters über den Text an.

Friedrich Mildenberger hat, indem er auf die theologische Relevanz des Genus der einfachen Gottesrede aufmerksam machte, die Reihe der eben genannten Argumente nicht nur um ein weiteres bereichert, sondern- verstehe ich ihn recht- ein diese summierendes übergreifendes Kriterium in die Diskussion eingeführt. Einfache Gottes­rede „bringt durch die biblischen Texte Anstehendes auf Gott hin zur Sprache“[2]. Sie hat das unmittelbare Zusammengehören von Kirche und biblischem Wort zur Vorausset­zung. Die Kirche ist die durch das Wort der Heiligen Schrift geschaffene Gemeinschaft, weil dieses Wort sie erst sprachfähig auf Gott hin werden läßt und sie damit zugleich zu vom Glauben bestimmter Kommunikation fähig macht. Sie ist also – ohne daß damit andere ekklesiologische Bestimmungen ausgeschlossen wären – zunächst in einem ganz wesentlichen Sinn von der Heiligen Schrift bestimmte Sprachgemeinschaft. Die primäre Funktion der Predigt ist eben solche einfache Gottesrede; sie soll aufgrund des bibli­schen Textes ansagen, was jetzt im Blick auf Gott für die Gemeinde an der Zeit ist. Damit umschreibt Mildenberger letztlich nichts anderes, als das, was im Neuen Testa­ment als der profetische Aspekt der Predigt dargestellt wird: Urchristliches prophēteúein war ja nichts anderes als die vom Wort der Schrift her erfolgende Ansage des jetzt und hier der Gemeinde geltenden Willens Gottes bzw. des erhöhten kúrios (vgl. 1Kor 14,3.25f). Zu solcher Ansage aber ist nach Mildenberger die heutige Predigt nur fähig, solange sie den Lebenszusammenhang der Gemeinde mit dem Wort der Schrift voraus­setzen kann. Im Blick auf eine Predigt hingegen, die von einem Verständnis des bibli­schen Textes als einer in historischer Distanz zur heutigen Gemeinde stehenden Größe ausgeht, erhebt er den Vorwurf, sie trenne auseinander, was wesenhaft zusammen­gehört. Mit dem Versuch jedoch, das historisch Getrennte mittels theologischer Inter­pretation letztlich doch wieder zusammenzubringen, überfordere der Prediger sich selbst und auch die Gemeinde. Der durch die Historisierung des Textes bestrittene Lebens­zusammenhang zwischen Schrift und Gemeinde werde hierbei nämlich ersetzt durch die mehr oder weniger mühsame Konstruktion eines bloßen gedanklich-assoziativen Zu­sammenhanges, der bestenfalls interessant sein mag, aber keinesfalls Verbindlichkeit kon­stituieren kann.

Immer wieder hat Mildenberger seine Sorge darüber artikuliert, daß die heutige Exegese, weil sie auseinanderreißt, was wesenhaft zusammengehört, den Weg zur einfachen Gottesrede verbaut. Vor allem in seinen Lehrveranstaltungen fand er harsche Worte gegen den Historismus der Exegeten. Wenn die Studierenden (was freilich manchmal geschah) diese als Freibrief dafür auffaßten, es mit den exegetischen Fächern nicht so ernst zu nehmen, so war das gewiß ein Mißverständnis, das schon durch die Tatsache widerlegt sein sollte, daß Mildenbergers eigene wissenschaftliche Anfänge in der Exegese lagen und daß er bis in die Gegenwart hinein in regem Gespräch mit ihr geblieben ist. Für das letztere ist die „Biblische Dogmatik“ ein eindringlicher Beweis. Seine Kritik bezieht sich allein auf den historistischen Ansatz der Exegese und dem darin implizierten Anspruch, „der Wahrheit darin näher“ zu sein, „daß sie den eigentli­chen, von gegenwärtigen Fragen unbehelligten Sinn der Bibel erfaßt“[3].

Als Exeget, der Tag für Tag das historisch-kritische Handwerk betreibt und dessen Methodik vom Proseminar an in der Lehre den Studierenden zu vermitteln sucht, sehe ich mich durch diese Kritik nicht in Frage gestellt. Das wäre auch eine schlechte Basis für ein Gespräch. Ich nehme Mildenbergers Kritik vielmehr als eine Herausforderung, im Gespräch mit ihm und in kritischer Aufnahme seiner Gedanken darüber nachzu­denken, ob und wie es möglich sein könnte, Exegese so in die Predigtarbeit einzubrin­gen, daß der Bruch zwischen Text und Gemeinde vermieden wird und der Weg zu einfa­chem Reden von Gott sich auftut. Dieses Nachdenken geschieht auf dem Hintergrund eigener Predigtpraxis. Ich gestehe gern, daß ich als relativ häufig predigender Exeget mein Handwerk je länger desto weniger als die Unmittelbarkeit des Textes zur Gemein­de und zu mir als Prediger behindernd empfunden habe. Es hat mir eher geholfen, die Nähe des Textes aufzuspüren. Dabei mag viel Intuitives und Unreflektiertes im Spiel gewesen sein. Umso nötiger erscheint es mir, diese Erfahrungen methodisch zu reflek­tieren.

Nun hat freilich Mildenberger selbst bislang hinsichtlich solcher methodischer Reflexion eine überraschende Zurückhaltung an den Tag gelegt. In seiner „Kleinen Predigtlehre“ ist von der historisch-kritischen Methodik lediglich als von einem „Hand­werk“ die Rede, das zu den notwendigen Voraussetzungen des Predigers gehört, sich aber nicht in den Vordergrund rücken darf. Seine Beherrschung macht den Prediger frei, seine Aufmerksamkeit auf anderes, wichtigeres zu richten[4]. Die Textauslegung in der Predigt verlangt anderes „als die historisch-kritische Textbearbeitung, wie sie etwa in einer Proseminararbeit vorgelegt wird“[5], nämlich dies, daß sie der Kontinuität des Geistgeschehens Rechnung trägt, kraft derer Text und Situation so zusammenkommen, „daß sie sich gegenseitig erhellen“[6]. Im selben Zusammenhang benennt Mildenberger auch jene Faktoren, in denen sich die Kontinuität des Geistgeschehens manifestiert und auf die der Prediger darum zu achten hat: die biblischen Texte entstammen einem geschichtlichen Zusammenhang, der auch die heutige Gemeinde mit einbezieht, und müssen innerhalb desselben interpretiert werden; sie bezeugen Jesus Christus als Gottes Zuspruch und Anspruch, und deshalb muß dieses Zeugnis auch in der Predigt laut werden. Er sagt jedoch nichts über positive Möglichkeiten der Exegese, an die Erkennt­nis dieser Faktoren heranzuführen. So hat es den Anschein, als bliebe die exegetische Arbeit aus dem eigentlichen theologischen Geschehen der Predigtvorbereitung ausge­grenzt und als sei das beste, was von ihr erwartet werden könne, dies, daß sie sich auf dieses Eigentliche und Zentrale nicht störend auswirkt.

Darin, daß dies nicht das letzte Wort zur Sache sein kann, hoffe ich mit Milden­berger einig zu sein. Ich will deshalb versuchen, das von ihm begonnene Gespräch weiterzuführen, indem ich einige Gedanken aus meiner Sicht – das heißt, aus der Sicht des sich als Prediger verstehenden Exegeten – beitrage.

II.

Ich setze mit der Besprechung des Ausgangspunktes der Kritik Mildenbergers an der Exegese ein: diese schaffe eine nicht überbrückbare Distanz zwischen Text und Gemeinde. Hier scheint mir eine Differenzierung dringend geboten zu sein. In der Tat gehört es zu den Aufgaben der Exegese, festzustellen, was ein Text in seiner ursprüng­lichen Entstehungssituation sagen wollte. Dabei wird sich in vielen Fälle auch ein Abstand zur heutigen Predigt- und Hörsituation ergeben. Diese Aufgabe wird heute weithin als theologisch begründet, ja notwendig beurteilt. Man spricht – in Anlehnung an Bertolt Brechts dramaturgisches Programm – von einer notwendigen Verfremdung, die eine vorschnelle Okkupation des Textes als eines angestammten Besitzes verhindere und so sicherstelle, daß dieser Text in der ihm zukommenden Position des Gegenübers zur heutigen Gemeinde wahrgenommen werden könne[7]. Die Exegese werde – und das ist freilich eine von Bertolt Brecht völlig abweichende Zielsetzung des Verfremdungs­prinzips[8] , indem sie verfremdend den historischen Abstand aufweise, zur Sachwalterin des reformatorischen Schriftprinzips, das die Schrift als Trägerin eines von außen auf die Gemeinde zukommenden, ihr zunächst fremden Wortes verstehe und der Predigt so die Aufgabe zuweise, die Gemeinde zur Entdeckung dieses Fremden und zur Verständi­gung mit ihm anzuleiten. Markant ausgeprägt erscheint diese Sicht bei Hans Weder, der das exegetisch-hermeneutisch erhobene Schriftverständnis in die Metapher des fremden Gastes faßt[9]. Es geht darum, sich dessen bewußt zu bleiben, daß die Schrift nicht einfach eine Funktion der Kirche ist, sondern der Kirche wesenhaft vorgeordnet bleibt und ihr ein Wort sagen will, das sie sich nicht selbst sagen kann. Es läßt sich schwer­lich bestreiten, daß die historische Exegese, insofern sie der „Sicherung der Fremdheit des Evangeliums gegenüber seiner vorschnellen Einverleibung durch die Kirche“ dient, eine theologische Funktion hat, die speziell für die Predigt unentbehrlich ist[10].

Aber insofern die Exegese diese Funktion wahrnimmt, hilft sie gerade noch nicht zu einer einfachen Gottesrede. Sie verhindert, ganz im Gegenteil, daß es zu einem allzu einfachen, weil den Text in seiner Eigenart nicht das Wort gebenden Reden von Gott kommt. Und sie tut das, indem sie den geschichtlichen Abstand bewußt macht. Solche Reflexion über den ursprüngli­chen historischen Ort des Textes gehört zunächst in den Bereich jener wissenschaftlichen Kontrollfunktionen, die der seine Verkündigung methodisch reflektierende Prediger wahrzunehmen hat, und die auch Mildenberger, wenn ich ihn recht verstehe, für unumgänglich hält[11]. Er wäre wohl auch bereit, zuzuge­stehen, daß diese Reflexion unter gewissen Umständen auch in der Predigt selbst thematisiert werden kann. Das hat freilich zur Folge, daß diese in dem Maße, wie solcher Reflexion des geschichtlichen Abstands in ihr Raum gewährt wird, aus dem Genus der einfachen Gottesrede herausfällt. Denn mit ihr tritt an die Stelle der Ansage dessen, was jetzt von Gott her an der Zeit ist, die Information über das, was damals geschah und gedacht wurde, in welcher Situation sich der Verfasser befand und mit welcher Intention er schrieb. Thema ist dann nicht mehr das Reden Gottes zu uns durch den biblischen Text, sondern das Reden über Gott in diesem Text. Damit befinden wir uns im Bereich der Lehre, deren Thema ja das Reden über Gott ist. Das ist legitim, wenigstens so lange der Prediger die Genera seines Redens zu unterscheiden weiß. Die Predigt war stets auch Ort der Lehre, wenn auch keineswegs ihr primärer Ort. Heute allerdings, wo andere Formen kirchlichen Lehrens immer stärker zurücktreten, wird sie mehr und mehr zum einzigen Ort, wo solches Lehren möglich ist.

Ich wage hier noch einen weiteren Schritt mit der Behauptung, daß zum nötigen und sinnvollen Lehren auch die Information über exegetische Sachverhalte gehören kann. Sicher darf diese Information nicht zum Selbstzweck werden. Die Kanzel ist nicht der Ort für die Ausbreitung der Ergebnisse der historischen Textanalyse des Predigers.

Aber wer predigt, sollte ein Gespür für jene Aussagen des biblischen Textes haben, von denen zu erwarten ist, daß sie bei den Predigthörern historische Zweifel und kritische Rückfragen provozieren. Diese Hörer sind nun einmal weitgehend bestimmt vom rationalistischen Denken der modernen Gesellschaft, der sie angehören. Das gilt übrigens auch von denen, die ein fundamentalistisches Schriftverständnis vertreten: Ihr Pochen auf die wörtliche historische Zuverlässigkeit der Bibel ist das Korrelat eines rationalistischen Positivismus[12]. So ist der Prediger etwa Rechenschaft darüber schuldig, wie es um die Historizität mancher krass-wunderhaften Züge biblischer Erzählungen steht. Er muß deutlich zu machen versuchen, daß es sich hier nicht um Tatsachenberich­te im modernen Sinn handelt, sondern um doxologisch überhöhende Darstellungen aus der Sicht des Glaubens. Anders gesagt: die Aufgabe, die sich ihm stellt, läuft darauf hinaus, dazu zu helfen, in solchen Texten das Genus der einfachen Gottesrede freizulegen und wahrnehmbar zu machen. Das darf freilich nicht im Ton überheblicher Besserwis­serei geschehen. Vielmehr muß erkennbar bleiben, daß es die Ehrfurcht vor dem Text ist, die den Prediger veranlaßt, dessen innere Bewegung nach-denkend – und das heißt: auch kritisch – nachzuvollziehen. In der Regel wird dann die Gemeinde auch bereit sein, sich ihrerseits auf solchen Nachvollzug einzulassen.

Nun kommt es allerdings entscheidend darauf an, daß die Verfremdung des Textes nicht das letzte Wort der Exegese bleibt. Die Metapher vom fremden Gast erweist sich nämlich als höchst fragwürdig, sobald man ihr etwas genauer nachdenkt. Der Fremde bleibt ja im Status des Gastes. Er ist einer, der nicht dazugehört und der keinen bleibenden Platz im Hause hat[13]. Man kann versuchen, auf ihn einzugehen, ihn seine Sache sagen zu lassen und ihn zu verstehen. Man kann sogar Neues von ihm erfahren und sich so durch ihn bereichern lassen. Aber er hat nicht teil am normalen Leben der Hausbewohner. Solange er da ist, ist Ausnahmesituation. Die Kommunikation mit ihm hat insofern etwas Künstliches, weil sie die normale Kommunikation der Hausbewoh­ner[14] unterbricht. Man darf annehmen: erst wenn der Gast gegangen ist, sind die Hausbewohner wieder unter sich und ihre normale Kommunikation kann weitergehen.

Die Überdehnung der Metapher sollte die Problematik der von ihr implizierten Verhältnisbestimmung von Text und Gemeinde verdeutlichen helfen: Der Text wird im Grunde in jener Distanz festgehalten, in die ihn die exegetische Verfremdung versetzt hat. Auch wenn es durch die Begegnung mit ihm zu einem die Hörer einbeziehenden, deren eigene Situation beleuchtenden Verstehensprozeß kommt, ändert sich an der Grundsätzlichkeit dieser Distanz nichts. Die Begegnung bleibt außerhalb der Normalität der Kommunikationsprozesse, in denen die Hörer stehen. Ihr eignet letztlich ein episodenhafter Charakter.

Evangelischem Verständnis der gepredigten Schrift wäre eine andere Metapher sehr viel gemäßer: die der Heiligen Schrift als Vater bzw. Mutter der Familie. Vater oder Mutter sind nicht Fremde; sie gehören zur Familie; mehr noch: sie ermöglichen sogar die Existenz und das Miteinander der Kinder innerhalb des Familienverbandes. Ja sie geben ihre Sprache an die Kinder weiter und machen diese dadurch fähig zur Sprache und zur Kommunikation. Innerhalb dieses Eltern-Bildes bleibt durchaus auch noch Raum für den Gesichtspunkt der Verfremdung: Unbeschadet vorgängiger familiärer Zusammengehörigkeit werden Kinder in der Regel erst dann Vater oder Mutter in deren individueller Eigenart erkennen und vielleicht sogar bewußter lieben können, wenn sie – meist als Heranwachsende – durch die Erfahrung der Distanz hindurch­gegangen sind. Umgekehrt gilt aber auch, daß solche Distanzerfahrung nur dann nicht zu bleibender Fremdheit führt, wenn sie sich mit der Bewußtmachung bereits erfahre­ner, sich als beständig erweisender Zusammengehörigkeit verbindet. Gleiches läßt sich aber auch für die Begegnung von Heiliger Schrift und Gemeinde in der Predigt sagen: Nur wenn Prediger und Gemeinde von der Gewißheit solcher grundlegender vorgängi­ger Zusammengehörigkeit herkommen, wird die Erfahrung der Distanz zum jeweiligen – als Teil des Ganzen der Heiligen Schrift verstandenen – Text zu einem Verstehen führen können, das nicht episodenhaft und abstrakt bleibt, sondern vielmehr aus diesem zugleich in seiner Nähe und Fremdheit begriffenen Text die gültige und lebensver­ändernde Ansage dessen, was von Gott her jetzt an der Zeit ist, herauszuhören vermag.

III.

Der vorgängige Zusammenhang von Heiliger Schrift und Gemeinde ist keineswegs nur ein dogmatisches Postulat. Ich will im folgenden drei ihn maßgeblich konstituierende Faktoren beschreiben. Dabei nehme ich Anregungen Mildenbergers auf, setze jedoch, der spezifischen Sicht des Exegeten folgend, einige Akzente ein wenig anders als er. Zugleich will ich zu zeigen versuchen, daß sich aus diesen Faktoren jeweils konkrete Möglichkeiten und Aufgaben für die Exegese ergeben, die sie über die ihr zumeist zugewiesene enge Domäne der historischen Verfremdung hinausführen.

1. Die Heilige Schrift ist das Zeugnis von der Selbstkundgabe Gottes in seinem Handeln an Menschen. Sie hat zwar in letzter Hinsicht Gott zum „Thema“. Aber der Gott, von dem sie spricht, kann nur in seiner Zuwendung zu Menschen wahrgenommen werden. Der Gott der Bibel gibt sich darin zu erkennen, daß er Menschen sich zum Gegenüber erschafft, sich aus diesen Menschen ein Volk zu unmittelbarer Gemeinschaft erwählt und dieses Volk durch immer neue Erweise seiner Nähe, helfend und richtend, in dieser Gemeinschaft festhält. So will denn auch der alttestamentliche Gottesname JHWH den bezeichnen, „der sich in diesem Namen an Israel erwiesen hat und immer neu er­weist“[15]. Darin kann dieser Name als die Mitte, besser noch: als der Einheit stiftende Bezugsrahmen der Heiligen Schrift gelten. Reden über diesen Gott kann man nur, indem man die Reihe der Wahrnehmungen dessen, was er an seinem Volk getan hat, aufzählt und erinnernd berichtet. Und das heißt: die Rede von Gott führt hinein in die Erkenntnis der von diesem Gott bestimmten und gestalteten Geschichte. Sie vollzieht sich in der Bezeugung dieser Geschichte. Die Grundform biblischen Redens von Gott ist das Erzählen von Gottes großen Taten[16].

Zugleich gilt aber auch für die Bibel: Reden über den Menschen in seinem Verhält­nis zu Gott läßt sich nur, indem der Standort dieses Menschen im Bereich des ge­schichtlichen Handelns Gottes an seinem Volk bewußtgemacht wird. Das je Spezifische der gegenwärtigen Situation des Gottesvolkes wie auch seiner einzelnen Glieder in bezug auf Gott wird herausgestellt, indem der Bezug zu vergangenen Situationen und Heilserfahrungen aufgezeigt wird. Weil Gott seine Selbigkeit und die Treue zu den ihm zugehörigen Menschen in seinem Handeln erweist, darum kommt alles darauf an, daß die Gegenwart mit der Vergangenheit zusammengebracht und so ihr Bestimmtsein von dieser Selbigkeit und Treue Gottes erkennbar gemacht wird. Dies geschieht in der Weise ständiger Neuinterpretation von vergangener Geschichte auf die Gegenwart hin. Vergangenes wird so dargestellt, daß die Gegenwart in ihm Platz hat und von ihm her erhellt wird. Vom Vergangenen her kann gesagt werden, was jetzt an der Zeit ist. Das heißt: durch Neuinterpretation wird das Vergangene zum Medium einfacher Gottesrede.

Wenige Beispiele solcher Neuinterpretation müssen hier genügen. So deutet das Deuteronomium die Situation des nachexilischen Israel durch eine vergegenwärtigende Neuerzählung der Sinai-Gesetzgebung: „nicht mit unseren Vätern hat JHWH diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier stehen, mit uns allen, mit den Lebenden.“ (Dtn 5,3) Und ebenso stellt mit seinem „heute“ Ps 95 eine Verbindung zwischen der Gegenwart und der Wüstenwanderungszeit des Gottesvolkes her, die der Hebräerbrief ausdehnt auf die schlaff und müde gewordene Kirche des ausgehenden 1. Jahrhunderts n.Chr. (Hebt 3,7-11). Matthäus und Johannes erzählen die vergangene Geschichte Jesu so nach, daß ihre Gemeinden sich in den Jüngern wiederfinden können, um von den – auf ihre gegenwärtige Situation hin kühn umformulierten – Worten Jesu unmittelbar das zu erfahren, was jetzt für sie von Gott her ansteht[17]. Nicht weniger kühn ist auch die von der Johannesoffenbarung geleistete Neuinterpretation alttestamentlicher Profetenbücher: vor allem aus Daniel und Ezechiel werden einzelne Motive neu zusammenmontiert (z. B. Offb 13,1-3; vgl. Dan 7) und ganze Passagen völlig frei paraphrasiert (z.B. Offb 21,9-22,5; vgl. Ez 40-48), so daß deren Herkunft zwar den Lesern noch deutlich bleibt, sie aber zugleich zu Trägern einer auf die Gegenwart bezogenen Deutung des jetzt anstehenden Geschehens werden. Mit Neudeutung haben wir es schließlich auch in den deuteropaulinischen Briefen zu tun, wenn diese die Botschaft des leibhaft nicht mehr gegenwärtigen Paulus auf die Gegebenheiten der dritten christlichen Generation hin so aktualisieren und transformieren, daß Antworten auf nunmehr neu anstehende Fragen christlichen Glaubens und Lebens hörbar werden, in denen sich die apostolische Autorität auf die Gegen­wart hin gleichsam verlängert[18].

Der Umstand, daß das Erzählen von Gottes geschichtlichem Handeln als gleichzeiti­ges Neudeuten von Vergangenem eine so gewichtige Rolle spielen, kann als Hinweis darauf gelten, daß die Bibel keine statische Größe, sondern die Manifestation einer geschichtlichen Bewegung ist, in der es um das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk geht. Und zwar hat auch das Neue Testament an dieser Bewegung Anteil. Gewiß steht im Mittelpunkt des Neuen Testaments das Zeugnis von Gottes endgültiger Selbstkundgabe in Jesus Christus (Joh 1,18), die, als sein letztes Wort, alle seine bisheri­gen Heilserweise zusammenfaßt und überbietet (Hebr 1,1f). Aber auch von diesem Christusgeschehen gilt das gleiche wie von den vergangenen Selbstkundgaben Gottes: es ist bezogen auf das Gottesvolk und setzt es in Bewegung. So hat schon in der Botschaft des irdischen Jesus die basileía toũ theoũ ihr unmittelbares Korrelat im Volk Gottes, dessen endzeitliche Sammlung mit ihrer Ausrufung ihren Anfang nehmen soll. Und ebenso besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Offenbarung des Auferstandenen als des von Gott beglaubigten Christós, des endzeitlichen Gesalbten für sein Volk (1Kor 15,3b-5), und der Sammlung der Jünger Jesu zur Heilsgemeinde an Pfingsten (Apg 2). Diese nämlich verstand sich als der Anfang des aufgrund des Christusgeschehens gesammelten Gottesvolkes der Endzeit, zu dem nun auch – in Erfüllung des bereits im Alten Testament proklamierten universalen, weltumspannenden Heilsplans – die Weltvölker hinzukommen sollten. Die Kirche der Anfangszeit erfuhr sich so als kraft des geschichtlichen Handelns Gottes als in unmittelbarer Kontinuität mit Israel stehend. Ihre eigene Geschichte mit Gott begriff sie mit Selbstverständlichkeit als die Fortsetzung des in Israels Bibel bezeugten geschichtlichen Gotteshandelns. Es war diese Gewißheit, die sich zunächst in der Inbesitznahme der Bibel Israels und ihrer Interpretation auf die eigene Geschichte spiegelte und die schließlich zu dem kühnen Wagnis führte, dieser Bibel einen zweiten Teil, das Neue Testament, hinzuzufügen. Das, was die beiden Teile der christlichen Bibel zu einer Einheit zusammenfügt, ist die von der Kirche erfahrene und bezeugte Einheit des geschichtlichen Handelns Gottes. Das Neue Testament ergibt sich unter diesem Aspekt als die durch die Existenz der auf­grund des Christusgeschehens aus Juden und Heiden gesammelten Kirche gleicherma­ßen notwendig gewordene wie auch legitimierte Weiterinterpretation der Bibel Israels[19]. Wenn irgendwo, so wäre hier auch der Ausgangspunkt für eine gesamtbiblische Theolo­gie zu suchen! Mit der hier angedeuteten Sicht ist auch der Möglichkeit eines „doppel­ten Ausgangs“ des Alten Testamentes im Talmud und im Neuen Testament Rechnung getragen. Denn daß das Neue Testament der legitime Ausgang des Alten Testamentes sei, ist eine Aussage, die nicht auf der Ebene historischer ideengeschichtlicher Dedukti­on erfolgen kann, sondern allein durch das Bekenntnis der sich dem Christusgeschehen verdankenden Kirche legitimiert wird.

Als erste und wichtigste Konsequenz aus diesen Überlegungen für die predigtbezoge­ne Exegese ergibt sich die Einsicht: der biblische Text muß nicht erst mit der Gemeinde zusammengebracht werden. Er gehört vielmehr bereits mit ihr zusammen, weil die Bibel Alten und Neuen Testaments, deren Teil er ist, jenes geschichtliche Handeln Gottes bezeugt, dem sich die Kirche verdankt und in dem sie ihr – freilich dem gegenwärtigen Weltbestand entsprechend nur vorläufiges – Ziel findet.

Damit hängt ein weiteres zusammen: der jeweilige Text ist nur ein abstractum. Er gewinnt seine Konkretion erst, wenn es mir gelingt, seinen Ort innerhalb des biblischen Gesamtzeug­nisses Alten und Neuen Testaments zu entdecken. Inwieweit bezieht er sich zurück auf Altes? Worin kündigt er Neues an? Und mit welchen Mitteln tut er das? Will er erzählend ein Handeln Gottes berichten, wobei die Möglichkeit besteht, daß er durch die Weise seines Erzählens die Erinnerung an früheres Gotteshandeln mit einbezieht? Will er auf dem Wege der Interpretation Vergangenes auf die Gegenwart hin aufschließen?

In diesem Zusammenhang kann auch die diachrone Analyse, die Entwicklungsstadi­en des Textes aufdeckt sowie in ihn eingegangene Traditionen und Motive sichtbar macht, homiletische Bedeutung gewinnen. Gewiß ist das, was zu predigen ist, im Regelfall der Text in seiner kanonisch gewordenen Endgestalt, obwohl das (etwa im Falle von Gleichnissen) kein ehernes Gesetz sein sollte. Aber der Blick zurück in die Tiefenschichten kann dazu helfen, den Text als Resultat eines bewegten interpretatorischen Prozesses zu verstehen. Dieser Prozeß ist mit dem vorliegenden Text nicht abgeschlos­sen, sondern drängt weiter auf die gegenwärtige Gemeinde hin. So steht der Prediger vor der Aufgabe, diese Bewegung aufzunehmen und so weiterzuführen, daß sie an ihrem Ziel „ankommt“.

2. Insofern die Heilige Schrift menschliches Wort ist, ist sie Reflex der Erfahrungen, die das Volk Gottes mit dem Handeln Gottes gemacht hat. Diese Erfahrungen waren ver­schiedener Art; sie standen jeweils im Zusammenhang mit unterschiedlichen geschichtli­chen Situationen. Sie werden jedoch durch den Bezug auf den Namen des lebendigen Gottes zu einem Ganzen zusammengefügt. Die Schrift wurde so zum Erfahrungshorizont des Gottesvolkes und damit zugleich zu jenem Deutungsrahmen, der das religiöse Leben des einzelnen und der Gemeinschaft bestimmte. Jedes einzelne Glied Israels gewann aus der Schrift die Kategorien für eine Deutung aller Lebensbezüge, in der es stand. Die Schrift gab ihm die sprachlichen Muster an die Hand, die erst dazu befähigten, Lebenssituationen im Blick auf Gott wahrzunehmen und zu bewältigen, ja sie lieferte wohl auch das sprachliche und gedankliche Material, aufgrund dessen bestimmte religiöse Erfahrungen erst möglich wurden[20]. Und das gleiche galt auch für die Kirche der Anfangszeit. Christ zu werden war, zumal für den ehemaligen Heiden, mehr als ein einmaliger Akt der Entscheidung für Jesus als den kúrios und sōtḗr. Es bedeutete das Sich-Einleben in den Kosmos der Schrift – und diese war für das Urchristentum ja das Alte Testament! –, ihre Übernahme als Deutehorizont für das eigene Leben und das der Gemeinschaft des endzeitlich gesammelten Gottesvolkes. Den eindrucksvollen Beweis dafür liefern jene neutestamentlichen Schriften, die mit großer Wahrscheinlich­keit als Werke von Heidenchristen gelten müssen und die als Adressaten Heidenchri­sten voraussetzen, die aber zugleich eine profunde Kenntnis und Durchdringung des Alten Testaments verraten, so etwa das lukanische Geschichtswerk und der Erste Petrusbrief. Natürlich wird in den neutestamentlichen Schriften auch einiges an Neuin­terpretation des Heilsgeschehens für Menschen mit hellenistischen Denkvoraussetzun­gen geleistet. Aber dies geschieht – wie man etwa am Beispiel des Hebräerbriefs sehen kann – doch immer so, daß damit Elemente des fremden Denkens in den biblischen Deutungsrahmen hineingeholt werden, diesen so erweiternd und bereichernd, niemals jedoch umgekehrt.

Wer predigt, muß wissen, daß ihm oder ihr die Schrift bereits voraus ist in der Weise, daß sie als Deutehorizont christlicher Existenz für die Gemeinde eine Rolle spielt. Sie ist vorhanden in den verschiedenen Teilen der Liturgie und im Gesangbuch. Dabei ist es unerheblich, ob der Schriftbezug den Gemeindegliedern bewußt ist oder nicht. Entscheidend ist, daß biblische Gedanken und Motive von da her in das religiöse Denken eingegangen sind. Selbst in Gemeinden, deren Glieder mehrheitlich eine defizitäre christliche Sozialisation aufweisen, ist zumindest mit dem Vorhandensein von Rudimenten christlicher Deutungsmuster zu rechnen. Der Prediger bzw. die Predigerin sollte versuchen, Bezüge dazu, die sich vom jeweiligen Text her anbieten, aufzugreifen und bewußt zu machen. Was die Gemeinde erwartet und was sie vor allem benötigt, ist die Verstärkung und Konsolidierung dieser Deutungsmuster. Es kann nicht darum gehen, die Aussagen des jeweiligen Textes in extraskripturale Kategorien zu übersetzen. Die Aufgabe ist vielmehr, zu zeigen, daß der Text Teil jenes biblischen Universums ist, das die ganze erfahrbare Welt umgreift und in das Licht Gottes zu setzen vermag, und daß dem je einzelnen die Sprache gibt, um seine eigene Existenz in ihrem Bezug auf Gott zu deuten[21]. Nur solange die Gemeinde diesen biblischen Deutehorizont hat und mit ihm lebt, kann sie christliche Gemeinde bleiben. Es gilt darum, ihn zu stärken und nicht etwa, ihn zu destruieren.

Der Prediger bzw. die Predigerin muß sich zu allererst um die Wahrnehmung jener Funktion bemühen, die ein Text innerhalb des biblisch vorgegebenen Deutehorizonts der Gemeinde bereits hat. Wo kommt der Text etwa in der Liturgie vor? Welche Bezüge hat er zum Kirchenjahr? Welches Brauchtum hat sich möglicherweise aus ihm entwickelt? Weckt er Assoziationen zu bestimmten Kasualien und den persönlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit diesen? Ist er vielleicht in handliche Sprichworte und Lebensweisheiten eingegangen?

Werden diese Funktionen in der Begegnung mit dem Text zur Sprache gebracht, so ist damit auch die Voraussetzung für die konkrete Aktualisierung des Deutehorizonts geschaffen. Jetzt kann – wiederum vom Text her – das besprochen werden, was jetzt im Rahmen eines biblisch orientierten Glaubens- und Lebensvollzuges ansteht.

Es ist freilich auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß bestimmte Texte aus dem Deutehorizont für die eigene christliche Existenz herausgefallen sind, so daß sie zunächst von der Gemeinde nur in einer – in den meisten Fällen unbewußten – polemischen Abwehrhaltung wahrgenommen werden können. Das gilt in allererster Linie für Texte, die wirkungsgeschichtlich durch ihren Mißbrauch zum Aufbau von Vor­urteilen und zur gesellschaftlichen Diskriminierung von Menschen und Menschen­gruppen belastet sind, sowie für Texte, die durch konfessionelle Polemik belastete Themen und Reizworte enthalten. Für evangelische Gemeinden gehören zu den ersten ‘antijüdische’ Passagen wie z.B. Mt 27,25 und Joh 8,37-47, zu den letzten die matthäischen Aussagen über „gute Werke“ (Mt 5,48) oder über die Sonderstellung des Petrus (Mt 16,17-19). Es genügt nicht, solche falschen Vorverständnisse wahrzunehmen und anzusprechen, so nötig dies auch sein mag. Die entscheidende homiletische Aufgabe besteht vielmehr darin, diese Texte als legitime Teile des biblischen Deutehorizonts zu interpretieren. Diese aber kann nur aufgrund von Exegese geleistet werden: freilich nicht von einer nur neutral historischen, sondern von einer den Text auf die anstehende Problematik hin kritisch befragenden Exegese.

In diesem Zusammenhang muß nun auch auf die Bedeutung des biblischen Kanons noch kurz eingegangen werden. Sie scheint mir in einem Doppelten zu liegen.

Zum einen ist daran festzuhalten, daß der Kanon in seiner Einheit aus Altem und Neuem Testament der umfassende, keiner weiteren Ergänzung bedürftige Deutungshori­zont für die Erfahrungen des Volkes Gottes ist. Sicher hat die Kirche auf ihrem langen Weg durch die Geschichte vielerlei Situationen durchlaufen, die sich in prägenden, immer wieder abrufbaren und aktualisierbaren Erfahrungen niedergeschlagen haben. Ich nenne hier nur die Reformation des 16. und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Der Kanon ist abgeschlossen, weil – übrigens nach jüdischem gleichermaßen wie nach christlichem Verständnis – die Akte der ge­schichtlichen Selbstkundgabe Gottes gegen­über seinem Volk abgeschlossen sind. Keineswegs zu seinem Ende gekommen ist jedoch mit dem Abschluß des Kanons der Prozeß der Erfahrung des Volkes Gottes in der Begegnung mit der geschichtlichen Selbstkundgabe Gottes. Hier besteht eine offenkun­dige Diskrepanz[22]. Diese läßt sich wenigstens teilweise bewältigen[23] durch die Erwägung, daß die im biblischen Kanon dokumentierten Erfahrungen des Volkes Gottes in einem unmittelbaren Bezug zum Offenbarungsgeschehen stehen. Sie schreiten den Kreis möglicher Reaktionen auf Gottes Handeln aus. Von daher haben sie typischen, bzw. paradigmatischen Charakter. Sie geben Raum dafür, daß sich die Erfahrung aller späteren Generationen in ihnen wiederfinden und sich durch sie aussprechen kann.

Zum andern bietet der Kanon infolge seiner Fülle und der in ihm reflektierten Vielfalt von Erfahrungen die Möglichkeit, jeweils konkret anstehende Gegenwartspro­bleme in den biblischen Deutungshorizont einzubringen und von da her erkennbar und aussprechbar werden zu lassen. Ich erinnere nur an das Nebeneinander der vier Evangelien. Jedes von ihnen hat, wie die Wirkungsgeschichte erweist, einen ganz charakteristischen Bereich christlicher Erfahrung erschlossen. Jedes von ihnen hatte darum auch Zeiten besonderer Nähe bzw. Feme. Dies gilt erst recht vom einzelnen Text. Es kann sein, daß durch bestimmte Tagesereignisse Altbekanntes, nur routinehaft Wahrgenommenes unmittelbare Aktualität gewinnt, und ebenso, daß anderes ferngerückt erscheint. Dem ist grundsätzlich standzuhalten[24], wobei allerdings der Exegese die Aufgabe einer kritischen Überprüfung der Gründe für die jeweilige Nähe oder auch Distanz zufällt.

3. Soll in der Predigt Anstehendes auf Gott hin angesprochen werden, so bedarf es dazu der Sprache[25]. Aber nicht jede Sprache kann das leisten. Es muß vielmehr eine Sprache sein, die geeignet ist, das jeweils Anstehende innerhalb jenes biblischen Deutungshorizonts, der dem Volk Gottes aufgrund seiner Erfahrungsgeschichte mit Gott zugewachsen ist, zu orten. Erfahrung und Sprache gehören unmittelbar zusammen. Die Erfahrungsgeschichte, aus der die Kirche lebt, hat sich immer aus der biblischen Sprache genährt. Es war diese Sprache, die die Christen (und, wie man nicht vergessen sollte, ebenfalls die Juden) auf Gott hin und auf die Gemeinschaft des Gottesvolkes hin sprachfähig gemacht hat. Es ist die Heilige Schrift, aufgrund derer die Kirche zu einer Sprachgemeinschaft geworden ist[26]. Diese Tatsache sollte gegenüber der häufig erhobe­nen Forderung skeptisch machen, die Predigt solle die Inhalte biblischer Texte in eine der Erlebnis- und Erfahrungswelt des heutigen Menschen entsprechende Sprache übersetzen[27]. Das liefe auf eine Ausgrenzung des biblischen Textes als eines fremden Gastes, und damit in letzter Konsequenz auf den Verlust kirchlicher Sprachgemein­schaft hinaus. Es muß vielmehr versucht werden, in der Predigt so weit wie möglich Anschluß an die biblische Sprache zu finden[28].

Sicher dürfen wir die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß in heutigen Gemeinden die Kenntnisse biblischer Texte und Zusammenhänge in einem rapiden Rückgang begriffen ist. Aber dies ist kein Gegenargument. In dieser Situation wird es umso dringlicher, daß durch die Predigt die noch vorhandenen Rudimente biblischer Sprache (es sind wohl weit mehr, als vielfach angenommen wird!) zu Bewußtsein gebracht und aufgefrischt werden. Es könnte sein, daß hier der Predigt die Funktion einer Einübung in die biblische Sprache neu zuwächst.

Es ist nun in erster Linie Sache der Exegese, Anwendungsmöglichkeiten für die Sprache des jeweiligen biblischen Textes in der Predigt zu erkunden. Hierzu nur einige kurze Anregungen!

So sollte die Exegese zunächst die Aussageform und -richtung des jeweiligen Textes achten: Handelt es sich um eine Geschichtserzählung, ein Gleichnis, eine Metapher (bzw. Metaphernreihung), um profetische Rede, um weisheitliche Explikation einsichti­ger Sachverhalte, um argumentierende Darlegung oder Polemik? Hier geht die Rich­tung der Rede jeweils auf Menschen. Oder haben wir es mit Lobpreis, Klage und Bitte zu tun, also mit an Gott gerichteter Rede?

Die nächstliegende Option sollte jeweils die Aufnahme der Aussageform in der Predigt sein. Das gilt vor allen Dingen für erzählende Texte. Sie fordern zu einem Nacherzählen auf, das Möglichkeiten für eine Identifikation der Hörer und Hörerinnen offenhält, entweder mit den Personen der Handlung oder auch mit den ursprünglichen Adressaten der Erzählung. Bei Gleichnissen bietet sich eine Nacherzählung, die die ursprünglichen Hörer samt ihren Reaktionen mit einbezieht, an. Bei weisheitlichen Texten muß versucht werden, den Appell an die Bereitschaft zum Erkennen und Entdecken des Naheliegenden in die gegenwärtige Situation hineinzutragen. Argumenta­tion und Polemik lassen sich angemessen nur in der Form der Lehrpredigt, die freilich in der Regel außerhalb des Bereichs einfacher Gottesrede liegt, aufnehmen. Predigten über Lobpreis, Klage und Bitte schließlich sollten dazu dienen, die betreffenden Sprach­formen der Gemeinde als Möglichkeiten anzubieten und aufzuschließen, um deren eigene Erfahrungen vor Gott auszusprechen.

Aber auch die im Text enthaltenen Bilder und Metaphern sollte die Exegese zur Kenntnis nehmen. In ihnen kommen vielfach Bezüge zu Wort, die einer Isolierung des Textes gegenüber dem gesamtbiblischen Zeugnis Widerstand entgegensetzen.

IV.

Die vorliegenden Überlegungen wollen der Predigtpraxis dienen. Gemäß dieser Intention münden sie aus in die folgende schematischen Darstellung der Schritte einer Predigtvorbereitung, in der Möglichkeiten der Exegese sinnvoll eingesetzt sind.

A. Erste Arbeitsphase: Vorklärung des Verhältnisses des Predigers/der Predigerin zum Text und kritische Ermittlung des vorhandenen Vorverständnisses. (Grundlage: Lektüre des Textes in deutscher Übersetzung – naheliegenderweise im Blick auf den gottesdienstli­chen Gebrauch nach der Lutherbibel!)

1.Persönliche Reflexion. Welche spontanen Eindrücke entstehen bei meinem Lesen des Textes? Verbinden sich für mich mit dem Text persönliche Erinnerungen? Wo fordert er mich zu unmittelbarer Zustimmung heraus, wo zum Widerspruch? Und warum? Verbindet sich damit die Erinnerung an gehörte Predigten über den Text?

2.Traditionsbestimmte Überlegung. In welcher Hinsicht hat sich der Text in der Ver­gangenheit auf Lehre und Leben der Kirche (und zwar zunächst meiner konkreten Konfessionskirche, also z.B. der evangelisch-lutherischen Kirche) bestimmend ausge­wirkt? Enthält er kirchlich positiv oder negativ besetzte Motive und Reizworte?

3.Aktualitätsbezogene Überlegung. Welche gegenwärtig anstehenden Erfahrungen und Probleme der Gemeinde im ganzen und einzelner ihrer Glieder fallen mir spontan ein? Welche Bezüge zu gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Vorgängen und Problemen kommen daneben in den Blick?

B. Zweite Arbeitsphase: Exegetische Entdeckung des Textes. (Grundlage: Übersetzung des griechischen Textes bzw. hebräischen und nachfolgende Lektüre eines neueren Kom­mentars!)

1. Zur Sprechsituation des Textes. Falls es sich um menschliche Adressaten handelt: Wer sind sie? (Hier ist gegebenenfalls zwischen textinternen und textexternen Adressaten zu unterscheiden.) In welcher Situation befinden sie sich? Welche Ein­stellungen und Verhaltensweisen setzt der Verfasser bei ihnen voraus? Gibt es für diese Einstellungen und Verhaltensweisen Analogien in unserer heutigen kirchlichen Situation? Falls (bei Gebeten und liturgischen Stücken) Gott der textinterne Adressat ist, ist daneben auch die Frage nach dem textexternen Adressaten zu stellen.

2. Zur sprachlichen Gestalt des Textes. Welche sprachlichen Mittel benutzt der Ver­fasser, und wie setzt er sie ein? Handelt es sich um einen Geschichtsbericht, um ein Gleichnis, um argumentative Entwicklung eines Gedankens, um weisheitliches Re­gelgut, um Polemik, um Klärung eines von der Tradition vorgegebenen Begriffes oder Gedankens? Handelt es sich um Gebet, Klage oder Doxologie?

3. Zu Duktus und Gefälle des Textes. Worauf läuft der Text hinaus? Stehen in ihm einzelne Aussagen gleichgewichtig nebeneinander, oder hat er ein Gefälle, und – wenn ja – wie verläuft es? Wo liegt die Spitze des Arguments bzw. die Pointe der Erzählung? Gibt es ein Überraschungsmoment (z.B. bei Gleichnissen in Gestalt des Gleichnisschlusses)?

4. Feststellung der Tiefenstruktur des Textes. Gibt es aufgrund des Vorhandenseins ver­schiedener Schichten innerhalb des Textes (z.B. Tradition – Redaktion, Erstgestalt und abschließende Überarbeitung) erkennbare Spannungen? Weisen diese auf einen Lern- und Erfahrungsprozess der frühen Gemeinde hin, der als solcher für uns heute relevant sein könnte?

5. Zur Text-Hörer/Leser-Beziehung. Was wollte der Verfasser bei seinen damaligen Hörern/ Lesern bewirken? Ging es ihm um Veränderung einer Einstellung/eines Verhaltens, um Vergewisserung des Glaubens, um Motivierung zu konkreter Aktion, um Trost in kritischer Lage, oder um (Aufforderung zum) Gotteslob? In welcher Hinsicht finde ich mich in einer Gemeinsamkeit mit den damaligen Hörern/Lesern vor? Und gibt es eine derartige Gemeinsamkeit auch für meine Predigthörer? Oder erweist sich die damalige Text-Hörer/Leser-Beziehung als nicht übertragbar?

6. Zur Stellung des Textes im Kontext. Inwieweit ist der Makrotext, dessen Bestandteil die jeweilige Perikope ist, mit zu bedenken?

7. Zur Stellung des Textes im Ganzen der Heiligen Schrift. Vermag ich eine Besonder­heit des Textes, die ihm eine unverwechselbare Eigenart im Schriftganzen zuweist, festzustellen? Ist der Text durch Sprache und/oder einzelne Traditionen und Motive mit anderen Texten verbunden?

C. Dritte Arbeitsphase: Auf dem Weg zur Predigt.

1. Zur historischen Informationspflicht. Welche Klärungen historisch-kritischer Sach­verhalte dürfen die Predigthörer und -hörerinnen von mir mit Recht erwarten? Wo sind weltanschaulich bedingte Ärgernisse und Mißverständnisse (z.B. vom modernen naturwissenschaftlichen Weltbild und vom historistischen Geschichtsverständnis her) zu klären, und wie kann das geschehen?

2. Zur Identifikation des Predigers/der Predigerin mit dem Text. In welcher Hinsicht bin ich trotz des historischen Abstandes, der mich vom Text trennt, aufgrund meiner ex­egetischen Überlegungen dazu fähig und bereit geworden, mich zum Träger seines Anliegens machen zu lassen? Inwieweit bin ich über mein Vorverständnis hinausge­führt worden? Wie kann ich die hörende Gemeinde an diesem meinem Lernprozeß Anteil haben lassen? Wie kann ich die Botschaft des Textes im Horizont heutiger theologischer und kirchlicher Verantwortung aufnehmen und weitersagen?

3. Zum Gemeinde- und Weltbezug. Inwieweit haben sich meine spontanen Eindrücke zum Gemeinde- und Weltbezug (vgl. A.3) bestätigt? In welcher Hinsicht muß ich sie nun korrigieren? Wie kommen Gemeinde und Welt im Text tatsächlich vor?

4. Zu Inhalt und Gestalt der Predigt. Zu fragen ist hier (a) nach dem sachlichen Gehalt, d.h. nach dem, was heute unbedingt vom Text her gesagt werden muß, sowie (b) nach dem, was ich als Prediger/Predigerin bei den Hörern und Hörerinnen bewirken will.

Quelle: Jürgen Roloff/Hans G. Ulrich (Hrsg.), Einfach von Gott reden. Ein theologischer Diskurs. FS Friedrich Mildenberger, Stuttgart-Berlin-Köln, 1994, S. 33-48.


[1] Dazu R. Bohren, Biblische Theologie wider latenten Deismus, JBTh 1 (1986) 163-186. 169f.

[2] F. Mildenberger, Biblische Dogmatik I, Stuttgart 1991, 30.

[3] Biblische Dogmatik 1, 34.

[4] F. MILDENBERGER, Kleine Predigtlehre, Stuttgart 1984, 28f: „Hoffentlich beherrscht einer dann (seil, in der Praxis) dieses Handwerkszeug so, daß er damit keine Probleme mehr hat und also seine Aufmerksamkeit auf anderes konzentrieren kann.“

[5] Ebd. 29.

[6] Ebd. 30.

[7] Vgl. hierzu B. BRECHT, Über experimentelles Theater (1939), in: ders., Werke. Schriften, zusammengestellt von W. Jeske, Frankfurt am Main 1991, 133-151. 148: „Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen … Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen.“ Ders., Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt (1940), ebd., 161-181.166: „Der Schauspieler muß die Vorgänge als historische Vorgänge spielen. Historische Vorgänge sind einmalige, vorübergehende, mit bestimmten Epochen verbundene Vorgänge. Das Verhalten der Personen in ihnen … hat durch den Gang der Geschichte Überholtes und Überholbares und ist der Kritik vom Standpunkt der jeweilig darauffolgenden Epoche aus unterworfen. Die ständige Entwicklung entfremdet uns das Verhalten der vor uns Geborenen.“

[8] Nach Brecht (ebd. 166) geht es nicht um Verständigung mit dem geschichtlich Abständigen, sondern um dessen kritischer Ortung innerhalb geschichtlicher und gesellschaftlicher Prozesse. So ist das vom Schau­spieler zu fordernde Verhalten das einer Nicht-Identifikation, die den Zuschauer, indem sie ihn an der Identifikation hindert, „zur Kritik der dargestellten Person“ auffordert (ebd.).

[9] H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, 428-435.

[10] R. Oechslen, Kronzeuge Paulus, München 1990 (BEvTh 108), 251.

[11] Dazu MILDENBERGER, Biblische Dogmatik 1, 30: „Eine theologische Begleitung der einfachen Gottesrede ist unumgänglich, wenn das reformatorische Schriftprinzip bewahrt werden soll.“

[12] Dazu S. Hauerwas, Unleashing the Scripture: Freeing the Bible from Captivity to America, Nashville 1993, 18: „The fundamentalist and biblical critic share the assumption that the text of the Bible should make rational sense (to anyone) apart from the uses that the Church has for Scripture.“

[13] S. hierzu WEDER, a.a.O., 435: „Der eigentliche Sinn der Wahrnehmung neutestamentlicher Texte besteht darin, diesen Fremden Gastrecht zu gewähren. Sie sollen Fremde bleiben dürfen, ohne weggeschickt zu werden. Dann entfalten sie den Reichtum, den sie als Gäste auszuteilen haben.“ Hier kommt die Fragwür­digkeit der Metapher mit aller wünschenswerten Deutlichkeit zum Ausdruck.

[14] Nach WEDER ist dies eine Kommunikation unter der Voraussetzung der voll bejahten Weltlichkeit der Welt. Dazu kritisch MILDENBERGER, Biblische Dogmatik I, 45f.

[15] W. ZIMMERLI, Biblische Theologie I, TRE VI, Berlin 1980, 446.

[16] Dazu G.A. LINDBECK, The Story-shaped Church: Critical Exegesis and Theological Interpretation, in: Scriptural Authority and Narrative Interpretation, ed. G. Green, Philadelphia 1987,161-178; I. SCHOBERTH, Erinnerung als Praxis des Glaubens, München 1992 (Öffentliche Theologie 3).

[17] S. hierzu J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament, Göttingen 1993 (GNT 10), 145f. 294f.

[18] Dazu J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1988 (EKK XV), 376-382.

[19] Aus dieser Sicht ergibt sich – in Umkehrung der üblichen Meinung – die Notwendigkeit, das Neue Testament im Licht des Alten, d.h. als dessen weiterführenden Kommentar, zu lesen. Hierin sehe ich mich einig mit CH. DOHMEN, in: Ch. Dohmen/F. Mußner, Nur die halbe Wahrheit? Für die Einheit der ganzen Bibel, Freiburg u.a. 1993, 43-60. S. hierzu ferner CH. Dohmen/M. OEMING, Biblischer Kanon, warum und wozu?, 1992 (QD 137).

[20] Ich beziehe mich hier und im folgenden auf das „cultural-linguistic model“ von G.A. LINDBECK, The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age, Philadelphia 1984, bes. 32-41.

[21] Vgl. Lindbeck, Nature, 118: „It is the text, so to speak, which absorbs the world, rather than the world the text.“

[22] Die entscheidende Schwäche wichtiger neueren Entwürfe einer kanonsorientierten Gesamtbiblischen Theologie (H. GESE; P. STUHLMACHER, ,B. CHILDS) scheint mir darin zu bestehen, daß sie einseitig am Abschluß des Traditionsprozesses der Offenbarungsgeschichte orientiert sind und darüber die ekklesiologische Komponente der Kanonsbildung übersehen. Vgl. die Kritik bei D. RITSCHL, „Wahre“, „reine“ oder „neue“ Biblische Theologie, JBTh 1 (1986) 134-150.144f.

[23] Eine volle theologische Bewältigung wäre gleichbedeutend mit der Lösung des Problems des Verhältnis­ses von Schrift und Tradition.

[24] Vgl. RITSCHL, a.a.O., 149: „Wir werden zu einer Selektion gedrängt, die ohne den ‚Anlaß‘ nicht vorgenom- men worden wäre.“

[25] Vgl. Lindbeck, Nature, 35: „experience, like matter, exists only insofar as it is informed“.

[26] Hierin dürfte übrigens auch der tragfähige Grund der ökumenischen Bewegung liegen. Die bisherige Erfahrung zeigt, daß für die Annäherung der getrennten Kirchen die Entdeckung der gemeinsamen biblischen Sprache und der Versuch, diese (gleichsam über alle „Dialekte“ hinweg) gemeinsam zu gebrau­chen, maßgeblich gewesen ist.

[27] Dies sei an einem bewußt trivial gewählten Beispiel verdeutlicht. Man könnte Ps 23 etwa so in die Erfahrungs- und Sprachwelt heutiger Menschen übersetzen: „Der große Boß ist mein Tankwart, er macht in seinem Laden Tag und Nacht für mich einen klasse Service. Er füllt meinen Tank mit prima Sprit bis oben; wenn ich damit loszische, sehen die andern nur noch meine Schlußlichter. Deshalb schau’ ich immer wieder gern bei ihm rein“. Von Fragen des guten Geschmacks sei hier einmal abgesehen. Das entscheidende Defizit dieser Übersetzung besteht darin, daß die tragenden Bilder und Metaphern, die eine Fülle innerbi­blischer Bezüge freilegen könnten („Hirte“, „grüne Aue“, Sättigen und Tränken, „Bleiben im Haus des Herrn“), ausfallen und durch nichtssagende Platituden ersetzt werden. Theologisch subtiler, aber nicht weniger charakteristisch geschieht dies auch in modernen Bibelübertragungen, wie etwa der „Guten Nach­richt“: Da wird z.B. in Gal 1,14 der „Eifer” des Paulus zum Fanatismus, und der Gegenstand dieses Eifers, nämlich die „Überlieferungen der Väter“ wird – weil anscheinend dem heutigen Menschen zu fernliegend – gänzlich unterschlagen.

[28] Dazu LINDBECK, Nature 118: „Intratextual theology redescribes reality within the scriptural framework rather than translating Scripture into extrascriptural categories. It is the text, so to speak, which absorbs the world, rather than the world the text.”

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

  1. Die Seele, der Geist ist in uns und nicht da draussen. Wir müssen nicht am Wort zweifeln, verzweifeln. Wir sind Geworfene, wie alle Menschen vor uns, bestimmt in das Dasein in unserer Zeit. Wir müssen der Seele, durch das Gewissen gehorchen.

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