Von Wilfried Joest
I
Wir wollen diese Geschichte zuerst einmal von der menschlichen Seite betrachten, versuchen, die Angst und Verzweiflung des Mannes zu verstehen, der da zu Jesus gelaufen kommt. Ein Hofbeamter des Königs Herodes Agrippa, der im Auftrag des römischen Kaisers die politische Macht in Galiläa ausübt – für das Empfinden der damaligen Juden also nicht gerade ein sympathischer Zeit- und Volksgenosse. Jetzt aber eben: ein Vater in großer Angst um das Leben seines jungen Sohnes. Die Brutalität der Krankheit, die das junge Leben dahinrafft – heute ist das eine verhältnismäßig seltene Erfahrung geworden. Vor hundert Jahren, als die Medizin gegen die ansteckenden Krankheiten noch machtloser war, als Jungen und Mädchen immer wieder von Scharlach und Diphtherie abgewürgt oder von der Schwindsucht langsam umgebracht wurden, da hätten Väter und Mütter noch viel von dieser Erfahrung zu sagen gewußt, sich selbst leicht wieder erkannt in dem Vater, der da zu Jesus gelaufen kommt: „Herr, komm rasch, ehe mein Junge stirbt!“
Ich möchte einmal einfach sagen: Ich freue mich, wenn ich eine solche Geschichte in den Evangelien lese oder höre – diese und manche anderen, in denen von Menschen erzählt wird, die mit ihren Krankheiten, mit ihrer Angst zu Jesus kommen. Mit dieser ganz natürlichen, menschlichen Angst, an der wir doch alle teilhaben, wenn es uns oder unsere nächsten Menschen treffen sollte. Ich freue mich daran, daß den Menschen geholfen wird, daß Jesus ihnen so wunderbar hilft. Und darüber freue ich mich, daß unser Herr nicht erhaben ist und erhaben hinweggeht über die leibliche Seite unserer Ängste und Nöte, Krankheit und Sterben, und uns nicht lehrt, über sie erhaben zu sein, als ob das ein Geringes wäre, das das eigentliche, wahre Leben gar nicht betrifft. Es ist doch der ganze Mensch, der da an seinem Leib gequält und zerbrochen wird. Um den ganzen, leibhaftigen Menschen nimmt sich Jesus an.
II
Aber dann kommen freilich auch Fragen. So, wie es in diesen Geschichten der Evangelien erzählt wird, erfahren wir die Hilfe ja in der Regel nicht mehr. Die Leidensverhängnisse, die Angst um das leibliche Leben, die doch eine Angst des ganzen Menschen ist, Krankheit, die Menschen zu Tode quält – das alles ist ja immer noch in der Welt, in vielen Gestalten. Heute noch verstärkt durch die Angst vor der Möglichkeit katastrophaler Zukunftsentwicklungen, die nicht nur das persönliche Schicksal des einzelnen, sondern das Leben der Menschen überhaupt mit Vernichtung bedrohen. Und wenn das Weggerafftwerden des jungen Lebens durch Krankheit bei uns eine seltenere Erfahrung geworden ist – da gibt es nun das sinnlose Sterben der Jungen auf den Straßen, durch Verkehrsunfall, vielleicht durch einen, der betrunken am Steuer saß. Da gab es das Hingeopfertwerden von zwei Generationen junger Menschen durch zwei Kriege, die, wie man heute doch sehen muß, nicht unabwendbar gewesen waren, sondern durch politische Unvernunft und nationale Überheblichkeit heraufgeführt wurden.
Und nun ist das eben so: Die Leidensverhängnisse, die wir erfahren, die persönlichen wie etwa Krankheit und Unfall und erst recht die großen, die das Ganze betreffen, pflegen ihren Weg zu gehen. Menschliche Hilfe wird oft möglich und erfolgreich sein, gegen die Krankheit mehr als früher. Menschliche Hilfe zu suchen und zu geben, sollte, wo das möglich ist, nie unterlassen werden. Aber sie stößt auf ihre Grenzen, wo dann eben nichts mehr zu machen ist. Wer spricht das Machtwort, dem die unbegrenzte Macht gegeben ist? Als Christen wissen wir wohl: Wir sollen und dürfen den Herrn anrufen – ebenso wie es der Vater in dieser Geschichte getan hat, über allem Leiden, das uns ängstigt, dem seelischen und dem körperlichen, dem persönlichen Leiden und den Weltverhängnissen. Aber so unmittelbar wie jener Mann, als ein Wunder, das die Grenzen, die menschlicher Hilfe gezogen sind, durchbricht, erfahren wir ja sein Eingreifen in der Regel nicht. Wir haben gesagt, wir freuen uns an dieser Geschichte, weil da solche Hilfe geschieht. Die Frage bleibt: Was sollen wir mit dem Wunder in der Geschichte anfangen?
III
Aber wenn wir sie nun genauer ansehen: Da ist ja auch Jesus nicht sofort und geradezu mit dem Wunder zur Hand. Da steht zuerst einmal ein fast abweisendes Wort: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“ Jesus hat nicht das Wunder getan sozusagen auf Abruf und als zauberhafter Wünscherfüller. Er hat es vor allem da nicht getan, wo man es haben wollte als den Beweis, die Legitimation, daß er wirklich Vollmacht hat, Gottes Wort zu reden und Gottes Werk zu tun. Jesus hat den Glauben der Menschen gesucht – einen Glauben, der sich an sein Wort hält. Aber nun ist hier ja kein mißtrauischer Schriftgelehrter, dem Jesus und sein Wort verdächtig wäre und der darum fordern würde: Zeige erst einmal mit einem Wunder, was du vermagst und wer du bist. Sondern hier ist ein Vater, der in Angst um seinen todkranken Jungen um Hilfe schreit. Daß er damit zu Jesus kommt, bei ihm diese Hilfe sucht – ist das nicht ein Anfang von Glaube? Trotzdem geht Jesus nicht geradewegs und auf die Weise, wie der Mann meint, daß es geschehen muß, auf seine Bitte ein. Der meint, er müsse nun mit ihm kommen, nach Kapernaum kommen, wo der Sohn krank liegt, an sein Bett treten, etwas Besonderes tun: „Komm mit, komm rasch, ehe er stirbt!“ Aber Jesus tut das nicht. Er gibt ihm nur sein Wort mit: „Gehe heim, dein Sohn wird leben.“ Und so lernt der Mann, dem Wort Jesu glauben.
Die Ausleger dieser Geschichte hat das beschäftigt, was es zu bedeuten hat, daß Jesus sich hier gegenüber der Bitte des Vaters und seiner Erwartung, wie er ihm helfen soll, so zurückhaltend verhält. Bei einem dieser Ausleger habe ich gelesen, daraus sollten wir entnehmen, daß „Jesu Hilfe nicht ein weichmütiges Sichfügen in die Wünsche der Bedürftigen ist, sondern diesen Leuten auch weiterhelfen will, weil sonst gerade seine Wunder die Menschen tiefer verstrickt hätten in ihren irdischen Sinn, der Gott zum Aushelfer in den irdischen Nöten erniedrigt“ … „Wer von Gott Hilfe begehrt, muß frei werden können, daß er Gottes größte Gabe erfasse, die nicht in greifbaren, sichtbaren Dingen besteht, sondern in der geistigen Gemeinschaft mit ihm.“ Stimmt das so? Und würde das dann heißen: Um die nackte, leibliche Not geht es eigentlich gar nicht; daß der Junge geheilt wird und nicht sterben muß, das ist nicht das Wichtige an der Geschichte, das gehört ja bloß zu den irdischen, greifbaren, sichtbaren Dingen – eigentlich geht es um das Geistige? Dann hätten wir uns mit dem, was uns an dieser Geschichte zuerst gefreut hat, also zu früh und sozusagen am falschen Ende gefreut? Dann wäre also die Antwort auf die Frage, die wir vorhin gestellt haben, einfach die: Mit dem Wunder in der Geschichte sollen wir gar nichts anfangen?
IV
Sicher hat der Ausleger recht, wenn er über die unmittelbare leibliche Hilfe hinaus auf die größere Gabe hinweist, die Gott uns in Jesus selbst gegeben hat: daß wir ihn bei uns wissen, uns von seiner Liebe umfaßt wissen dürfen in allem, was uns trifft, in Gesundsein und Kranksein, im Leben und im Sterben; daß nichts uns von ihm scheiden wird, auch nicht die Krankheit, die nicht mehr geheilt wird, auch keine künftigen Katastrophen. Aber darin hat er nicht recht, wenn es da in seinen Worten so lautet, als ob das leibliche Leidenselend „irdische Nöte“ wären, zu denen man Gott als Nothelfer nicht „erniedrigen“ solle – als ob es eigentlich gar nicht darum gehe in unserer Erlösung, sondern nur um das Innerliche, Geistige. Denn Jesus hat sich ja um die leibliche Not gekümmert, auch in ihr den ganzen Menschen in Not gesehen. Er hat geheilt, hier in dieser Geschichte den kranken Jungen und viele andere. Und dem Evangelisten, der die Geschichte erzählt, ist das offenbar kein unwesentliches Beiwerk, daß der Sohn auf das Wort Jesu tatsächlich gesund wurde, sondern es ist ihm wichtig. Denn er sagt: Das ist ein Zeichen, das Jesus tat. Und nun fragen wir: Wofür steht und wohin weist dieses Zeichen?
V
Das Zeichen, das Jesus gibt, steht für eine Zukunft. Gewiß, das Zeichen ist nicht das Ganze. Aber die Zukunft, für die es steht und auf die es hinweist, betrifft das Ganze: den ganzen Menschen mit Leib und Seele; die ganze Welt, in deren Verhängnisse wir mit Leib und Seele hineingebunden sind. Die Zeichen, die Jesus getan hat, stehen für das Kommen des Reiches Gottes, das er angesagt hat.
„Dein Reich komme“, so bitten wir in jedem Gottesdienst, wenn wir das Vaterunser beten. Worum bitten wir da? Nur darum, daß in einer Welt, die eben ihre Wege geht, gegen die man nichts machen kann, in der es wüst und immer hoffnungsloser aussieht, Gottes Reich innerlich zu uns kommen, uns den Frieden des Herzens geben und bewahren möge? Ja, wir dürfen und wollen Gott auch darum bitten. Wir haben ihn dringend nötig, diesen Frieden des Herzens. Aber wagen wir es, auch darum zu Gott zu schreien, daß er endlich am Ganzen wahrmachen möge, wofür sein Sohn diese wunderbaren Zeichen gegeben hat: an dieser ganzen Welt, die doch seine Schöpfung ist? „Dein Reich komme“, das heißt doch auch: Herr, bring die Zukunft herauf, in der du ein Ende machst mit dem Leiden und Unrecht dieser Welt, mit Krankheit und Sterben, mit Kriegen und Kriegsgeschrei, mit den zerstörerischen Zwängen, in die wir verstrickt sind.
Ich habe manchmal den Eindruck, ja mir selbst geht es oft so, daß wir es nur noch wagen, Gott für uns selbst und unsere Nächsten um Hilfe zu bitten, um unser tägliches inneres und äußeres Durchkommen – das trauen wir ihm zu. Aber im Blick auf das Ganze, auf den Lauf dieser Welt befällt uns tiefe Resignation.
Aber Jesus hat mit seiner wunderbaren Hilfe die Zeichen der Zukunft gegeben, die Gott an seiner ganzen Schöpfung verwirklichen wird. So weist uns auch dieses Zeichen, von dem wir heute geredet haben, ein in den Glauben, der von Gott nicht nur das Nächste, sondern das Ganze erwartet: das Kommen seines Reiches, die Zukunft, die alles Leidenselend dieser Welt zu Ende bringen wird – auch wenn wir gegenwärtig keine Wunder sehen und uns keine Vorstellung davon machen können, wie Gott diese Zukunft verwirklichen wird.
Aber wenn uns das Zeichen Jesu in den Glauben weist, der zu Gott für das Ganze hofft und nicht resigniert, so weist es uns damit auch in die Bereitschaft, an unserm Ort und mit den Möglichkeiten, die wir haben, in der Richtung dieser großen Hoffnung etwas zu tun; daß wir versuchen zu tun, was wir tun können, um Menschen zu helfen und Verhältnissen und Verhängnissen, die über die Menschen Leiden bringen, abzuhelfen. Wir können damit gewiß auch nur Zeichen dieser Hoffnung für das Ganze geben, dem Gott allein helfen kann – viel kleinere Zeichen als die, die Jesus getan hat. Aber diese Zeichen sind nötig.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Quelle: Wolfgang Bub/Christian Eyselein/Günter R. Schmidt, Lebenswort. Erlanger Universitätspredigten. Manfred Seitz zum 60. Geburtstag, Erlangen: Junge & Sohn, 1988, S. 130-134.