Friederike Popp, Gott in uns retten. Annäherung an Etty Hillesum (1914-1943): „Kurz vor ihrem Tod findet Etty ein intimes, kostbares Verhältnis zu ihrem Schöpfergott, der ihrem untergehenden Leben einen Sinn gibt: Sie wird Gott hel­fen zu bleiben! Gott wird in ihr selbst wohnen, in ihrem Wesenskern, mitten in jener Welt, in der Menschen einander ausrot­ten. Diese neue Sicht wird ihr zur innersten Gewissheit: Gott in sich selbst Raum geben – darin erfährt sie Rettung und Heil.“

Gott in uns retten. Annäherung an Etty Hillesum (1914-1943)

Von Friederike Immanuela Popp

Am 9. März 1941 erhielt in Amsterdam eine 27-jährige Frau von ihrem Psycho­therapeuten den Auftrag, regelmäßig Tagebuch zu schreiben, um ihre chaoti­schen Gefühle und inneren Nöte in Worten auszudrücken. Etty Hillesum be­gann im Schreiben einen spannungsreichen Prozess der Selbstwahrnehmung, verbunden mit eindrücklichen Schilderungen des Alltags in den besetzten Nie­derlanden. Zunächst erlebte sie diese intensive Phase der Selbstreflexion als den Versuch einer persönlichen Klärung im therapeutischen Prozess:

„Samstag, 9. März. Also dann los! Dies ist ein peinlicher und kaum zu über­windender Au­genblick für mich: mein gehemmtes Inneres auf einem unschul­digen Blatt linierten Papiers preiszugeben. Die Gedanken sind manchmal so klar und hell in meinem Kopf und meine Gefühle so tief, aber sie aufzuschrei­ben will mir noch nicht gelingen. Hauptsächlich liegt es, glaube ich, am Scham­gefühl. Große Hemmungen, getraue mich nicht, die Gedanken preiszugeben, frei aus mir herausströmen zu lassen, und doch muß es sein, wenn ich auf Dauer das Leben rechtschaffen und befriedigend zu Ende bringen will.“[1]

Kontinuierlich füllte sie in ihrer kleinen und schwer lesbaren Handschrift Heft um Heft. Aus den Jahren 1941 bis Mitte 1942, in denen Etty Hillesum in Ams­terdam lebte, sind überwie­gend Tagebucheinträge erhalten geblieben. Aus den anschließenden zwölf Monaten der Inter­nierung im Durchgangslager Wester­bork besteht der Nachlass ihrer Werke aus zahlreichen Briefen an Freunde, die inhaltlich und sprachlich einer Fortschreibung des Tagebuches gleichkommen und die Intensität ihrer sensiblen Beobachtungsgabe und ihres nuancenreichen Ausdrucksvermögens durchscheinen lassen.

Kurz vor der Deportation nach Auschwitz übergab Etty die sorgfältig gehü­teten Tagebuch­hefte an ihre Freundin Maria Tuinzing mit der ausdrücklichen Bitte zur Weitergabe an den Schriftsteller Klaas Smelik und dessen Tochter Jo­hanna. Etty Hillesum wollte, dass ihre Auf­zeichnungen nach dem Krieg veröf­fentlicht werden. Doch erst in den 1970er Jahren fand Klaas Smelik einen He­rausgeber, J.G. Haarland, der aus den neun dicht beschriebenen Heften eine Auswahl transkribieren und drucken ließ: Unter dem Titel Het verstoorde Le­ven, deutsch Das gestörte Leben, erschien 1981 in Holland ein Buch mit etwa ei­nem Fünftel der erhaltenen Tagebücher und Briefe. Die faszinierende Mischung aus Selbstreflexion, persönlicher Ent­wick­lung in dieser extrem bedrohlichen Le­benssituation und geistlicher Weite rief eine starke Resonanz in den Niederlan­den und kurze Zeit später auch in Frankreich, Deutschland und dem anglo-amerikanischen Sprachraum hervor.

Das Werk von Etty Hillesum gilt heute als wertvolles Zeitzeugendokument: Eine junge jüdi­sche Frau, die sich bewusst war, dass sie und ihre Familie der Ver­nichtung nicht entgehen konnten, rang um ihre Würde. Sie kämpfte um Ver­stehen und um einen bleibenden Wert, der in den leidvollen Erfahrungen der Verfolgung ihrem Leben eine nicht zerstörbare Bedeutung geben konnte:

„Ich arbeite und lebe weiter mit derselben Überzeugtheit und finde das Leben sinnvoll, trotz­dem sinnvoll, auch wenn ich mir das kaum noch in Gesellschaft zu sagen getraue.

Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an den wund­gelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgung, die zahllo­sen Grausamkeiten, all das ist mir wie ein starkes Ganzes, und ich nehme es als Ganzes hin. Ich möchte lange leben, um es später doch einmal erklären zu können, und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird ein anderer mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde, und des­halb muß ich es so gut und überzeugend wie möglich weiterleben bis zum letzten Atemzug, so dass derjenige, der nach mir kommt, nicht ganz von neuem anfangen muss und es nicht mehr so schwer hat.“[2]

Etty Hillesum blieb in den Tagebüchern und Briefen im Duktus des Erzäh­lens und im Wahr­nehmen ihres Lebensumfeldes. Abends beschrieb sie den Tag im Rückblick und versuchte zu verstehen, was geschah. Die Einträge variieren zwischen einigen Zeilen und mehreren Seiten und sind nur manchmal datiert. Durch die wechselnden Ortsnamen und Tageszeiten ohne Da­tum wirken die Tagebuchhefte wie eine Sammlung von Fragmenten. Saul Friedländer zitiert in seinem Werk Die Juden und das Dritte Reich. Die Jahre der Vernichtung (Bd. 2) mehrmals Tagebucheinträge von Etty Hillesum sowie biographisches Material.[3] Die permanente Bedroh­ung findet in den Tagebüchern und Briefen von Etty Hillesum zwar immer wieder Erwähnung, bildet aber eher den Hintergrund als den Fokus ihrer einfühlsamen Beschreibungen.

Ein unterbrochenes Leben

Esther Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in der kleinen holländischen Stadt Middelburg geboren. Der Vater Levie Jacob („Louis“) Hillesum hatte als junger Mann ein Stipendium für die Ausbildung zum Rabbiner bekommen, wurde dann aber in seiner Begeisterung für alte Sprachen Lehrer für Latein und Grie­chisch am humanistischen Gymnasium in Middelburg. Im Jahr 1924 zog die Fa­milie nach Deventer, wo er Rektor des dortigen Gymnasiums wurde. Ettys Mut­ter Rebekka, geb. Bernstein, war gebürtige Russin und nach einem Pogrom als Flüchtling in die Niederlande gekommen. Etty charakterisierte sie als höchst emotionale und oft unausgeglichene Frau.

Etty, so der holländische Rufname für Esther, hatte zwei jüngere Brüder: Mi­chael, genannt Mischa, ein hochbegabter Pianist, sehr sensibel und psychisch in­stabil, und Jaap (Jakob), der Arzt wurde. Die Eltern erzogen ihre Kinder in geisti­ger Weite, pflegten Kontakte zu bekann­ten Wissenschaftlern und förderten intensiv die intellektuellen und musikalischen Begabun­gen der drei Geschwister. Etty und ihre Brüder wurden nicht ausdrücklich im jüdischen Glau­ben unterwiesen. Die Familie besuchte nur zu den hohen Feiertagen die Synagoge. Der Vater unterrich­tete aber seine Tochter in Hebräisch, so dass sie tiefe Einblicke in die Hebräische Bibel, in den Glauben und die Geschichte des jüdischen Volkes erhielt.

Die hochbegabte Abiturientin studierte ab 1932 in Amsterdam Jura und Sla­wistik, da sie durch ihre Mutter die russische Sprache bereits fließend sprach. Nach der deutschen Besat­zung der Niederlande im Mai 1940 wurden alle jüdi­schen Beamten vom Dienst suspendiert. Als die Studenten gegen die Entlassun­gen ihrer jüdischen Professoren protestierten, wurden die Universitäten von Delft und Leiden geschlossen. Etty Hillesum und ihre jüdischen Mitstu­dierenden versuchten, privat weiter zu lernen und einander zu unterrichten.

Etty begann auf Rat ihres behandelnden Arztes Dr. Julius Spier, einem Schü­ler C.G. Jungs, mit dem Schreiben ihres Tagebuches. Die intime Freundschaft zu dem zwanzig Jahre älteren Psychologen und Chirologen entwickelte sich zu ei­ner Liebesbeziehung.

Im Mai 1942 erhielt Etty eine Stelle in der Kulturellen Abteilung beim Jüdi­schen Rat, ein von den Nationalsozialisten eingeführtes Gremium, das zur Zu­sammenarbeit mit dem Regime gezwungen wurde. Der Joodse Rat musste als Vollstreckungsinstrument der Nazis steigende Quoten für die Rekrutierung von Zwangsarbeitern erfüllen und an die jüdische Bevölkerung den Gelben Stern verteilen. Etty erlebte diese Anstellung als Hölle und kündigte nach nur zwei Wochen. Damit verlor sie die Möglichkeit der so genannten Zurückstellung und erhielt im August den Aufruf ins Auffanglager Westerbork im Norden des Lan­des.

Das Angebot von Freunden, sie zu verstecken, lehnte sie kategorisch ab. Sie fühlte sich zugehörig zu ihrer Familie und zu ihrem Volk und war sich durch­aus bewusst, dass ihr Leben in extremer Gefahr war:

„Wenn man innerlich lebt, ist der Unterschied innerhalb und außerhalb der Lagermauern vielleicht gar nicht so groß. Werde ich diese Worte später vor mir selbst verantworten können, werde ich dementsprechend leben? Wir dür­fen uns keine großen Illusionen machen. Das Leben wird sehr schwer wer­den. Wir werden getrennt werden, wir alle, die wir einander teuer sind. Ich glaube, daß die Zeit nicht mehr fern ist. Man soll­te sich innerlich darauf vorbereiten.“[4]

Da sie ihren Ausweis nicht abgab, konnte Etty noch mehrmals zwischen dem Lager und Amsterdam hin- und herfahren. Mit dieser Möglichkeit wagte sie es, Kontakte zum Untergrund zu knüpfen und dringend benötigte Lebensmittel und Informationen nach Westerbork zu schmuggeln. Ihr geliebter Freund Julius Spier, in den Tagebüchern durchgängig S. genannt, erkrankte schwer an Lun­genkrebs. Etty konnte ihn noch einmal besuchen. Er hatte bereits den Deporta­tionsbefehl erhalten, starb aber noch in seiner Amsterdamer Wohnung im Bei­sein von Etty und weiteren Freunden.

Ab Juni 1942 forcierten die NS-Organisationen im Land die Maßnahmen, um die jüdische Bevölkerung über die Durchgangslager in deutsche Konzentrati­onslager zu deportieren und von dort aus in die Vernichtungslager im Osten. Zum letzten Mal versuchte die niederländische Bevölkerung offen zu protestie­ren. Erzbischof Johannes de Jong ließ in allen Sonntagsmessen ein Protesttele­gramm von der Kanzel verlesen. Als Racheakt verhafteten die Nazis alle zum ka­tholischen Glauben konvertierten Jüdinnen und Juden, so auch die Philosophin Edith Stein und ihre Schwester, die beide als Karmelitinnen im Karmel von Echtern Zuflucht gesucht hatten. Edith und Rosa Stein wurden nach Amersfoorth und dann nach Westerbork verschleppt. Die beiden Ordensschwestern und Etty Hillesum waren zur gleichen Zeit im Lager Westerbork interniert. Ob sie einan­der begegneten, bleibt aufgrund der Quellenlage unsicher, es gibt einige münd­liche und indirekte Hinweise. Ab Juli 1942 fuhren jede Woche ein oder zwei Züge mit fast 1000 Menschen in Richtung der Vernichtungslager im besetzten Polen. Bis zum Jahr 1944 verließen 93 plombierte Züge das Lager – jüdische Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge, Sinti- und Roma-Familien wurden in die Züge gedrängt.

Der letzte erhaltene Tagebucheintrag von Etty Hillesum stammt vom 12. Oktober 1942. Sie schreibt von der ausgedehnten kargen Landschaft um das Lager herum und über die Weite ihrer Seelenlandschaft. Manchmal findet sie in ihrer Muttersprache keinen Ausdruck. So be­ginnt dieser letzte Eintrag mit einem deutschen Wort:

„‚Vorwegnehmen‘. Ich kenne kein gutes holländisches Wort dafür. So wie ich hier seit gestern abend liege, bewältige ich ständig ein bißchen von dem vie­len Leiden, dass in der ganzen Welt bewältigt werden muss. Ich bringe im voraus einen Teil der vielen Leiden des kommenden Winters unter Dach. Doch das geht nicht auf einmal. Heute wird es ein schwerer Tag für mich werden. Ich bleibe liegen und ‚nehme‘ etwas ‚vorweg‘ von all den schweren Tagen, die noch kommen werden. Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.“[5]

Im Zuge einer der letzten Razzien am 20./21. Januar 1943 wurden die Eltern Hillesum und der Sohn Mischa inhaftiert und nach Westerbork gebracht. Nach acht Monaten Lagerhaft kam in der ersten Septemberwoche 1943 der Aufruf zum Transport. Mischa war nicht bereit, ohne seine Familie das Angebot der persönlichen Zurückstellung als so genannter Kulturjude zu nutzen. Die Inter­ventionsversuche von Freunden misslangen, aus Den Haag kam der unwider­rufliche Deportationsbefehl. Am 7. September 1943 wurden Louis und Rebekka Hillesum mit Etty und Mischa nach Auschwitz deportiert. Freunde standen an der Rampe, verabschiedeten sich und berichteten in Briefen:

„Fröhlich redend, lachend, ein liebes Wort für jeden, der ihr über den Weg lief, voll funkelnden Humors, vielleicht auch einer Spur wehmütigen Humors, aber ganz unsere Etty, wie ihr sie alle kennt. ‚Ich habe meine Tagebücher, meine kleine Bibel, meine russische Grammatik und Tolstoi bei mir‘ … Da fährt der Zug an, ein schriller Pfiff und die Tausend transportfähigen’ setzen sich in Bewegung. Noch ein Blick auf Mischa, der aus einem Spalt des Güter­waggons Nr.1 winkt und dann bei Nr. 12 ein fröhliches ‚Taaag‘ von Etty, und fort sind sie.“[6]

Den Dokumentationsblättern der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ist zu entnehmen, dass die Eltern Hillesum während des Transportes starben oder sofort nach der Ankunft in Auschwitz selektiert und ermordet wurden. Die Do­kumente des Roten Kreuzes verzeichnen den Tod von Etty Hillesum in Ausch­witz am 30. November 1943. Das letzte Lebenszeichen war eine Briefkarte an Christine von Nooten, irgendwo im Osten von Groningen geschrieben und aus dem Zug geworfen:

„Christien, ich schlage die Bibel an einer willkürlichen Stelle auf und finde: Der Herr ist meine starke Burg. Ich sitze mitten in einem überfüllten Güter­wagen auf meinem Rucksack. Vater, Mutter und Mischa sitzen einige Wag­gons entfernt. Die Abfahrt kam doch noch recht unerwartet. Ein plötzlicher Befehl für uns aus Den Haag.
Singend haben wir dieses Lager verlassen, Vater und Mutter sind tapfer und ruhig. Mischa ebenfalls. Wir werden drei Tage auf der Reise sein. Dank für all Euer gutes Sorgen. Zurückbleibende Freunde werden noch nach Amsterdam schreiben. Vielleicht hörst Du etwas? Auch von meinem letzten langen Brief? Auf Wiedersehen von uns vieren.
Etty“[7]

Spirituelle Suche

Etty Hillesum war eine leidenschaftlich Liebende, eine spirituell Suchende, eine einfühlsame Pädagogin, eine fragende Philosophin und eine Mystikerin. Über re­ligiöse Innenwelten zu sprechen war für sie zunächst ein literarisches Experi­ment. Sie wagte sich in ihren Tagebuch­einträgen unvermittelt auf eine spiritu­elle Ebene. Manchmal wählte sie dafür – wie in der Hebräischen Bibel – die passive Sprachform, sie erlebte ein Berührtsein und Ergriffenwerden:

„26. August, Dienstag (1941) abend. In mir gibt es einen ganz tiefen Brun­nen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muß er wieder ausgegraben werden. Ich stelle mir vor, dass es Menschen gibt, die beim Beten die Augen zum Himmel erheben. Sie suchen Gott außerhalb ih­rer selbst. Es gibt auch andere, die den Kopf senken und in den Händen ver­bergen; ich glaube, diese Menschen suchen Gott in sich selbst.“[8]

Seite um Seite füllte Etty ihre Hefte mit alltäglichen Beobachtungen, mit ih­ren tief empfundenen Stimmungen und Selbstzweifeln, mit nachdenklichen Be­schreibungen und Fragen. Inmitten der zunehmenden Bedrohungen und unter Eindruck der unvorstellbaren Nachrichten aus den Konzentrationslagern suchte sie nach Sprache und fand zu Gesten, die sie später als Gebet verstehen lernte:

„Am gestrigen Abend kniete ich vor dem Zubettgehen plötzlich auf dem hel­len Läufer zwischen den Stahlstühlen mitten im großen Zimmer nieder. Das ergab sich wie von selbst, ich wurde zu Boden gezwungen von etwas Stärke­rem als ich es bin. Vor einiger Zeit habe ich zu mir selbst gesagt: Ich übe mich jetzt einmal im Knien. Vor dieser Gebärde hatte ich noch spürbare Scheu, ist sie doch ebenso intim wie es die Gebärden der Liebe sind. Über diese kann ei­gentlich auch nicht gesprochen werden, es sei denn, man wäre ein Dichter.“[9]

Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Judenverfolgungen mit extrem bedrängenden und deprimierenden Alltagserfahrungen hebt sich die fast unge­brochene Lebenskraft von Etty Hillesum hell und deutlich ab. Manchmal schien auch sie von Verzweiflung und Angst über­rollt zu werden, doch sie stand immer wieder auf:

„20. Juli, Montag abend, halb 10. Unbarmherzig, unbarmherzig. Aber umso barmherziger müssen wir innerlich sein, das ist das einzige, um das sich mein Gebet heute morgen in der Frühe drehte: Mein Gott, diese Zeiten sind zu hart für so zerbrechliche Menschen wie mich. Ich weiß, dass danach wieder an­dere, humanere Zeiten kommen werden. Ich möchte so gerne am Leben blei­ben, um all die Menschlichkeit, die ich trotz allem, was ich täglich mitmache, in mir bewahre, in diese Zeiten hinüber zu retten. Ich würde gern am Leben bleiben, um die neue Zeit vorbereiten zu helfen und das Unzerstörbare in mir für die Zeit aufzubewahren, die sicherlich kommen wird (…) Ich kniete spon­tan auf die harte Kokosmatte im Badezimmer nieder, und die Tränen ström­ten mir über das Gesicht.“[10]

Ettys ungebrochene Hoffnung auf Menschlichkeit sprechen aus ihren nach­denklichen Einträgen inmitten des brutalen Lagerlebens. Sie fand die innere Frei­heit, in demütigenden Situationen in Würde und innerer Klarheit Widerstand zu leisten:

„Zur Erniedrigung sind zwei Leute notwendig. Einer, der erniedrigt, und ei­ner, der sich erniedrigen lässt. Entfällt das letztere, ist also die passive Seite gegen jede Erniedrigung immun, dann verpuffen die Erniedrigungen in der Luft. Was übrigbleibt, sind nur lästige Verordnungen, die das tägliche Leben beeinflussen, aber keine Erniedrigung oder Unterdrückung darstellen, die die Seele bedrängen. Zu dieser Einstellung müsste man jeden Juden erziehen. Ich radelte heute morgen über den Stadionkade, genoß den weiten Himmel über dem Stadtrand und atmete die frische, nicht rationierte Luft. Und in der freien Natur überall Tafeln auf den Wegen, die für Juden gesperrt sind. Aber auch über dem einzigen Weg, der uns verblieben ist, wölbt sich der gesamte Himmel.“[11]

Gott in uns retten

Wie konnte Etty Hillesum die täglichen Grausamkeiten und Bedrohungen aus­halten, ohne daran zu zerbrechen? Sie verfügte über profunde Kenntnisse der Thora, des Neuen Testamen­tes und der Kirchenväter. Sie liebte russische Lite­ratur und ganz besonders die Gedichte von R.M. Rilke. In ihrer Freiheitsliebe und offenen Denkweise entzog sie sich einer Zuordnung zu einer Glaubens­richtung. Sie war Jüdin, bezeichnete sich nicht als fromm, hatte humanistische Schulbildung erhalten und genoss den Austausch mit ihren christlichen Freun­den. Je bedroh­ter die Außenwelt wurde, desto innerlicher wurde ihr Glaube. Sie verwurzelte sich in einer tief gründenden Zugehörigkeit zu Gott, der sich zu ver­bergen schien und den sie dennoch inmitten der grausamen Wirklichkeit ent­decken konnte. In einem ihrer späten Tagebucheinträge taucht der Topos der Wohnung Gottes auf. Bilder der Schechina, der mystischen Beschreibung der Seele als Gefäß und Wohnung Gottes in jüdischer und christlicher Weisheitsli­teratur, haben sie dabei möglicherweise inspiriert. Dennoch spricht sie in eige­nen, tiefempfundenen Bildern von ihren Glaubenserfahrungen, die sie in einem Gebet formuliert:

„Wie groß ist doch die innere Not deiner Geschöpfe auf dieser Erde, mein Gott. Es genügt nicht, nur von dir zu predigen, mein Gott, man muss dich in den Herzen der anderen erst aufspüren. Manchmal kommen mir die Men­schen vor wie Häuser mit offenstehenden Türen. Ich gehe hinein, sehe mich in den Gängen und Zimmern um. Man sollte aus jedem Haus eine Wohnung machen, die dir geweiht ist, mein Gott. Und ich verspreche dir, ich verspre­che dir, dass ich in so vielen Häusern wie möglich Wohnung und Unterkunft für dich suchen werde, mein Gott. Ich gehe einen Weg entlang und suche nach einer Unterkunft für dich. Es gibt so viele leerstehende Häuser, in denen ich dich als Ehrengast unterbringe. Verzeih mir dieses nicht allzu geistreiche Bild.“[12]

Kurz vor ihrem Tod findet Etty ein intimes, kostbares Verhältnis zu ihrem Schöpfergott, der ihrem untergehenden Leben einen Sinn gibt: Sie wird Gott hel­fen zu bleiben! Gott wird in ihr selbst wohnen, in ihrem Wesenskern, mitten in jener Welt, in der Menschen einander ausrot­ten. Diese neue Sicht wird ihr zur innersten Gewissheit: Gott in sich selbst Raum geben – darin erfährt sie Rettung und Heil:

„Sonntagmorgengebet. Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute nacht ge­schah es zum erstenmal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, mein Gott, dass du mich nicht verläßt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und da­durch helfen wir uns letzten Endes selbst.

Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu ret­ten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Her­zen der anderen Menschen aufer­stehen zu lassen.“[13]

Quelle: Geist und Leben 87 (2014), S. 304-312.


[1] Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. Hrsg. u. eingel. v. J.G. Gaarlandt. Aus dem Niederländischen von M. Csollany. Reinbek 242013, 13. – Zum Folgenden s. auch F. I. Popp, Bedrängt und un­endlich geborgen. Begegnungen mit Etty Hillesum. Münsterschwarzach 2014.

[2] Das denkende Herz, 124 [siehe Anm. 1].

[3] S. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. München 2006.

[4] Das denkende Herz, 96 [siehe Anm. 1].

[5] Ebd., 207 [siehe Anm. 1].

[6] Brief von Jopie Vleeschouwer, Westerbork, 7.9.1943, in: ebd., 221.

[7] Diese Karte ist in der Dauerausstellung im Etty Hillesum-Centrum (Roggestraat 2, 7411 EP Deventer) zu sehen.

[8] Das denkende Herz, 52 [siehe Anm. 1].

[9] Ebd., 82.

[10] Ebd., 157.

[11] Ebd., 114.

[12] Ebd., 176.

[13] Ebd., 149.

Hier der Text als pdf.

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