Das muss als Ganzes gelesen werden, Arthur Goldschmidts (1873-1947, Vater von Georges-Arthur Goldschmidt) Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942–1945, in der dieser Rechenschaft über seine pastorale Tätigkeit für die evangelische Gemeinde im KZ/Ghetto Theresienstadt gibt. Man hört den Oberlandesgerichtsrat heraus, man erfährt einiges über das Zusammenleben von jüdischstämmigen Christen und Juden in Theresienstadt. Innergemeindliche Konflikte kommen zur Sprache. Und schließlich verdienen Goldschmidts homiletischen Besinnungen tiefsten Respekt. Peter Handke hat Goldschmidts Schrift 2018 unter dem Titel Auf dem Dachboden in der Süddeutschen Zeitung rezensiert. Zur evangelischen Gemeinde in Theresienstadt siehe außerdem Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche 1933-1945, Band 4/2, Stuttgart: Calwer Verlag, 2007, Kap. 35 »In meinem Namen versammelt« -Judenchristliche Gemeinden im Ghetto Theresienstadt, S. 112-144; bzw. Johannes Wallmann, Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt, Leipzig: EVA, 2019, S. 9-120; sowie Clara Eisenkraft, Damals in Theresienstadt. Erlebnisse einer Judenchristin, Wuppertal: Aussaat Verlag, 1977.
Geschichte der evang. Gemeinde Theresienstadt 1942-1945
Von DR. ARTHUR GOLDSCHMIDT † weil. Oberlandesgerichtsrat in Hamburg
VORWORT
Die Geschichte der evangelischen Gemeinde in Theresienstadt — bei deren Darstellung sich die „Ich“-Form leider nicht ganz vermeiden ließ — hat vielleicht eine Bedeutung, die über das Interesse an den sachlichen Vorgängen und den persönlichen Schicksalen hinausgeht.
Die anfangs auf dunklem Dachboden, bei Kerzenlicht und in halber Heimlichkeit stattfindenden Gottesdienste wurden gelegentlich mit dem Gottesdienst in den Katakomben verglichen.
Dieser an das äußere Geschehen anknüpfende Vergleich verdeckte einen tieferen Sinn.
Denn auch das Dasein der Theresienstädter Gemeinde, so kurze Zeit es in steter Spannung zwischen „Ungeschichtlichkeit“ und „Geschichtlichkeit“ gedauert hat, beweist, daß das von Kamlah in seinem so benannten Werke aufgeworfene Problem „Christentum und Selbstbehauptung“ nur in einem Sinne beantwortet werden kann, daß der Wegweiser aus dem die Welt überwuchernden Irrgarten des Nihilismus das Kreuz ist!
Reinbek bei Hamburg, den 6. November 1946.
Arthur Goldschmidt.
I. THERESIENSTADT
Theresienstadt liegt an der Eger, unweit von Leitmeritz an der Elbe, in einer fruchtbaren Landschaft Böhmens. Es ist eine von Kaiser Joseph II. auf geometrischem Grundriß erbaute kleine Festungsstadt, in ihrer alten Anlage umschlossen von Festungswällen und Gräben.
Der Ort enthält eine Reihe zum Teil architektonisch ausgezeichneter Kasernen, mit großen von Galerien umgebenen Höfen, eine schöne Kirche mit anmutigem Turm auf weitem Marktplatz und eine Menge kleiner Privathäuser, vielfach in bestem josefinischem Stil. Ringsum schauen die Höhenzüge des Mittelgebirges in die Straßen hinein. Die Zahl der Einwohner — außer der Besatzung — belief sich auf etwa fünf- bis sechstausend Menschen.
Dieses Theresienstadt wurde, wie Hitler einmal verkündete, „den Juden geschenkt“; die Häuser waren zu dem Zweck enteignet und die Bewohner evakuiert.
Demgemäß wurde es Ende 1941 zum „Ghetto“ erklärt; eine Bezeichnung, die später in „jüdische Siedlung“ verändert wurde.
Bis zum Ende sind schätzungsweise einhundertundfünfzig- bis einhundertundsechzigtausend „Juden“ hindurchgekommen, bei ständigem Wechsel zwischen Antransport und Abtransport.
Die Zahl der Insassen schwankte daher zwischen dreißigtausend und fünfzig- bis sechzigtausend; darunter waren Menschen vom frühen Kindesalter bis zum höchsten Greisenalter, Gesunde und Kranke, Sieche und Kriegsbeschädigte, unter ihnen viele Blinde und schwer Amputierte.
Die Sterblichkeit war, besonders im ersten Jahre, sehr groß; in diesem Jahre starben etwa fünfunddreißigtausend Insassen, schätzungsweise fünfundzwanzigtausend, vor allem Alte und Sieche, sind an Unterernährung und infolgedessen eingetretener Widerstandslosigkeit gegen Krankheiten und Seuchen gestorben.
Theresienstadt hatte nicht den Charakter der verrufenen Konzentrationslager, es war vielmehr eine nach den Anweisungen und unter der Aufsicht der SS. geführte städtische Selbstverwaltung.
Die SS. trat im allgemeinen und grundsätzlich mit den Einwohnern, die nur jede Uniform zu grüßen hatten, nicht in Berührung, sondern nur mit den Verwaltungsorganen.
Mißhandlungen kamen nur vereinzelt vor, zum Beispiel bei Außenarbeiten, wenn jemand das Mißfallen eines kontrollierenden SS.-Mannes durch die Art seiner Arbeit oder durch eine Übertretung erregte oder wenn jemand beim Rauchen — das anfangs sogar unter Todesstrafe verboten war — ertappt wurde.
Anders soll es in der „kleinen Festung“ zugegangen sein, einem außerhalb der Stadt gelegenen Festungswerk, wohin Personen wegen schwererer Vorwürfe gebracht wurden. Ganz im Anfang, im Januar 1942, wurden allerdings siebzehn Insassen gehängt, darunter ein siebzehnjähriger Junge, weil er eine Karte an seine Mutter „ich habe Hunger“ durchgeschmuggelt hatte!
Die Außenpolizei war in den Händen von tschechischen Gendarmen und einer „Ghettowache“.
Die Verwaltung führte ein von der SS. eingesetzter „Ältestenrat“ unter Leitung des „Judenältesten“, also eine Art Magistrat, der in die verschiedensten Verwaltungen zerfiel, wie Finanzwesen, Arbeitszentrale, Gesundheitswesen, Fürsorgewesen, Elektrizitätswerk, Wasserwerk, Bauabteilung, Materialverwaltung, Beerdigungswesen und so fort. Auch ein Gericht, das „Ghettogericht“, fehlte nicht.
Das so im Laufe der Entwicklung durchorganisierte Gemeinwesen war völlig kommunistisch, „kollektiv“ — wie es genannt wurde — aufgebaut. Geld gab es nicht — der Besitz von solchem war unter strengen Strafen verboten —, außer einem formellen „Ghettogeld“, das nur Verrechnungsbedeutung für die Gutschrift von Arbeitslohn und für den kontrollierten Bezug von Kleidern, Wäsche, Schuhen, Galanteriewaren, die aus den Nachlässen stammten, auf Grund von aufgerufenen Nummern hatte. Auf die Guthaben wurden allerdings bei der Auflösung von Theresienstadt gewisse Beträge in Tschechenkronen ausgezahlt. Privateigentum gab es nicht, außer an den für den persönlichen Gebrauch dienenden Sachen. Alle Hinterlassenschaften fielen in die „Gemeinschaft“. Grundsätzlich und behördlich bestand bis zum fünfundsechzigsten Lebensjahre Arbeitspflicht.
Bei vollkommener Gleichstellung aller Personen ohne Unterschied in bezug auf Vorbildung, Herkunft, Amt oder Beruf, wurden Professoren, Künstler, Ärzte, Großindustrielle und ihre Frauen als Straßenarbeiter, Klosettwarte, Kartoffelschälerinnen und anderes eingestellt; ebenso häufig wurden Personen ohne jede sachliche Berufung in gehobenen Stellen verwendet. Soweit aber der Bedarf es forderte, wurden qualifizierte Persönlichkeiten ihrer Eignung entsprechend verwandt. Die Finanzierung des Gemeinwesens ruhte auf großen in Prag vorhandenen Guthaben, die aus den in Deutschland und Böhmen den Juden abgenommenen Vermögen stammten, und aus denen die SS. die Mittel gewährte, welche in dem Verkehr mit der Außenwelt — Bezug von Nahrungsmitteln und Materialien — erforderlich waren.
Die Einwohner — alles „Juden“ im Sinne der Nürnberger Gesetze — waren ein buntes Gemenge völlig ungleichartiger Menschen. Gelehrte, Künstler, hohe Beamte, Schriftsteller, große Industrielle und Kaufleute waren vermischt mit Angehörigen des mehr oder minder gebildeten jüdischen Mittelstandes und einer großen Anzahl von noch völlig „östlich“ anmutenden Personen. Im großen ganzen war daher die Menge nur zusammengehalten durch das unter dem Druck der Verfolgung verstärkte und vielfach erneute Bewußtsein, „Jude“ zu sein.
Dieses Bewußtsein war natürlich bei dem Teile, der noch konfessionell eingestellt war, religiös begründet und beruhte auf dem bei ihm noch durchaus wachen Gedanken, das auserwählte Volk Gottes zu sein. Aber bei dem wohl überwiegenden Teile, der religiös mehr oder minder entwurzelt war und nationalistisch dachte, war der jüdische Gedanke nur ein politischer, ein „nationaler“, der in starkem Umfange nicht nur in der Bejahung des Zionismus seinen Ausdruck fand, sondern auch in der ohne jede Kritik und Prüfung erfolgenden Aufnahme der Rassenideologie. Es bedarf kaum einer Ausführung, daß die überzeugten Christen an dieser geistigen Bindung an das Judentum, von dem sie — innerlich und äußerlich — immer schon gelöst waren oder sich selbst gelöst hatten, nicht teilhatten.
Der Tag war — abgesehen von den Alten, Siechen und Kranken — durch scharf kontrollierte Arbeit der mannigfachsten Art ausgefüllt; abends war, mit der Zeit in zunehmendem Maße, Gelegenheit zu Ausspannung und geistiger Anregung durch von der „Freizeit“ organisierte, von der SS. kontrollierte Vorträge belehrenden Inhalts, Konzerte, Varietes, selbst Opern und Schauspiele wurden geboten. Auch ein Kaffeehaus mit Musik — als besonderer Lichtpunkt für die sogenannten „Rote Kreuz“-Kommissionen — fehlte nicht. Innerhalb der Festung selbst herrschte im allgemeinen Bewegungsfreiheit.
Das alltägliche Leben spielte sich also äußerlich geruhsam ab und entbehrte nicht einmal eines gelegentlichen Reizes. Aber dennoch blieb es eine schwer zu ertragende Qual. Zunächst war die Ernährung aus den Gemeinschaftsküchen völlig unzureichend und — wie sich jedem fortwährend schon beim Anblick des anderen einhämmerte — auf allmählichen Untergang abgestellt. Es herrschte ständiger Hunger, und die Menschen magerten rasch zu Skeletten ab; das Gewicht der Verstorbenen betrug vielfach nur sechzig Pfund! Aber nicht nur war das Quantum völlig unzulänglich, sondern es war in einer Gegend, die an Obst und Gemüse reich war, für eine Bevölkerung, die selbst in großem Umfange Gemüsegärtnerei zu betreiben hatte, jede Verabreichung von Gemüse und Obst unterbunden, so daß die immer schwerer werdenden Erscheinungen der Avitaminose schließlich alle befielen. Die sehnlichst erwarteten kleinen Nahrungsmittelpäckchen, die nur selten aus der Heimat gesandt werden durften, waren nur eine winzige Erleichterung. Zu dem Hunger kam das unbeschreibliche Wohnungselend.
Nur einige sogenannte „Prominente“ — teils bevorzugt wegen besonderer Stellung und Verdienste auf Weisung von Berlin, teils als höhere Angestellte in der Verwaltung oder als Nutznießer besonderer Beziehungen — genossen eine Sonderstellung, indem ihnen, zu wenigen, gut möblierte Zimmer eingeräumt wurden. Alle anderen waren entweder in den Kasernen oder in den Einzelhäusern untergebracht. In den Kasernen bewohnte man halbhelle Riesensäle, dunkle, licht- und luftlose Kasematten und Dachböden; alles war aufs engste vollgepfropft. Holzgestelle mit Strohsäcken, drei übereinander, wurden als Betten im Laufe der Zeit hergestellt; viele aber mußten bis zum Kriegsende auf dem Boden liegen, oft ohne jede oder mit ganz ungenügender Heizungsmöglichkeit. In den Häusern war es nicht besser. Es gab weder Raum noch Gelegenheit zum Sitzen, außer primitiven, mühsam beschafften Hockern; Raum für Tische war eine Seltenheit. Ausreichende Waschgelegenheiten und Waschgeschirre fehlten — viele Insassen mußten ihre Eßnäpfe zum Waschen benutzen. Dazu herrschte ein unbeschreiblicher, trotz aller Mühe nie zu beseitigender Schmutz, und man litt unter unvorstellbaren Mengen von Ungeziefer, besonders Wanzen und Flöhen, so daß viele im Sommer ihre Bettsäcke ins Freie, in die Höfe trugen. Wenigstens die Läuseplage konnte durch planmäßiges und energisches Vorgehen im wesentlichen behoben werden.
Über dieses materielle Elend hinaus wirkte die seelische Qual. Man war von der übrigen Welt völlig abgeschlossen; aus ihr drangen nur Gerüchte herein. Nur alle zwei bis drei Monate durfte man eine Karte mit fünfundzwanzig Worten, mit streng zensiertem Inhalt, hinaussenden; fast ebenso spärlich war die Nachricht von den Lieben draußen, die außerdem immer um Monate verzögert ankam. So lebte man wie auf einer weltentlegenen Insel.
Dieses abgetrennte Leben war dazu voll steter Sorge um eben dieses Leben: Man sah ein gewaltsames Ende voraus, wußte aber nicht, wie und wann es eintreten würde. Würde der Krieg gewonnen? Würde man dann durch SS.-Fliegerbomben vernichtet oder mit Maschinengewehren zusammengeschossen? Vielleicht auf dem eine Zeitlang eingezäunt gewesenen Marktplatz oder in jenem Talkessel, in dem einmal — an einem regnerischen Novembertag — die Bevölkerung zur Abzählung von früh morgens bis spät abends wie eine Viehherde zusammengetrieben war und wo man die Maschinengewehre schon aufgepflanzt gewähnt hatte! Und wurde der Krieg verloren, war dann nicht erst recht das Schicksal das gleiche — es sei denn, daß die Feinde noch rechtzeitig als Befreier kämen; die Feinde, die mit Tücherwinken aus den Höfen begrüßt wurden, wenn die Angriffsstaffeln die Stadt, die sich von ihnen geschont wußte, überflogen?
Aber nicht nur ein solches Ende drohte; auch ein früheres Todesgeschick klopfte Tag für Tag an das Tor: „Abtransport“! Alle acht bis zwölf Wochen, mitunter öfter, wurden ein-, zwei-, fünftausend Menschen zum Transport bestimmt; niemand wußte, wen und wann es ihn traf. Wohin die Transporte gingen, erfuhr man nicht. — Hoffnungen auf erträgliches Arbeitslager mischten sich mit der Furcht vor Polen und Birkenfeld, worunter sich der Name Auschwitz verbarg. — Man nahm Abschied auf Nimmerwiedersehen. Nur spärliche Gerüchte von den neu Verbannten, zuweilen angeblich eine beruhigende Postkarte, drangen nach Theresienstadt. Erst nach der Befreiung erfuhr man, daß die vielen Tausende wohl meistenteils in Auschwitz vernichtet waren, auch daß das gleiche Schicksal dem kleinen in Theresienstadt gebliebenen Reste zugedacht war, dessen Vergasung in der „kleinen Festung“ für den 15. Mai 1945 vorbereitet war.
So war es ein Leben ohne Sinn, es sei denn, daß man wußte: „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende“ (Mtth. 28, 20).
II. DER AUFBAU DER GEMEINDE
A) innerhalb der Evangelischen
Ich war bis 1933 Oberlandesgerichtsrat in Hamburg, daneben immer Maler, seit 1933 nur noch Maler. Am kirchlichen Leben hatte ich mich nie tätig beteiligt. Ich galt als Jude im Sinne der Nürnberger Gesetze, da die Großeltern Juden gewesen waren. Im Juni 1942 starb meine Frau und am 20. Juli 1942 wurde ich nach Theresienstadt „evakuiert“.
Ich ging dorthin, wie unter dem Auftrag, dort Gottes Wort verkünden zu sollen.
Daher verschaffte ich mir zu dem Zweck durch befreundete Pastoren liturgisches Material. Es wurde mir in Theresienstadt mit meinem gesamten Gepäck von der SS. weggenommen; ich behielt eine kleine Tasche, in der sich Reiseproviant, ein Paar Strümpfe und das Evangelium befanden.
Nach einigen furchtbaren Wochen in der Kaserne kam ich, mit einigen Hamburger Herren, auf den Dachboden einer Kaserne. Dort versammelte ich, am ersten Sonntage, einige Bekannte von mir; wir lasen einen Text des Evangeliums und ein geistliches Lied. Das sprach sich rasch herum, und von Sonntag zu Sonntag wuchs die kleine Gemeinde.
Wir saßen in dem halbdunklen, nur durch die Dachluken erhellten großen Raum auf den Tragbalken. Die Andacht nahm bald festere Formen an; man begann mit einem Lied; dann las Dr. Münzer, Professor der alten Geschichte aus Münster, der leider schon im Herbste gestorben ist, mit tiefer, klangvoller Stimme den Text; ich knüpfte einige Worte an, und wir schlossen mit Gebet und Lied. Binnen kurzem reichte der Raum nicht mehr aus, und wir hielten die Andacht in einem Schuppen auf dem Hofe, inmitten von Schreinerwerkzeug. Auch dieser Raum war viel zu eng, und für kurze Zeit fand sich ein leerstehender Laden, der indessen bald mit neuen Ankömmlingen belegt wurde.
Es galt nun, für die Dauer einen ausreichenden Raum für den Gottesdienst zu erlangen.
Was tun? — Alle unsere Zusammenkünfte waren eigentlich verboten, denn mehr als zwanzig Menschen durften ohne Genehmigung der SS. nicht zusammenkommen. Es gab, bei der Einstellung der Partei, keine Kultusgemeinschaften und keine Seelsorger als solche. Die Rabbiner wurden irgendwie in der Verwaltung untergebracht. Der Gottesdienst der Juden war nur geduldet. Daß die Bildung einer christlichen Gemeinde in einer reinen Judenstadt von der Verwaltung nicht gern gesehen würde, war anzunehmen.
Ich wandte mich trotzdem an den damaligen Judenältesten, Herrn Edelstein, und schilderte ihm die Sachlage. Über die vollzogene Tatsache, daß sich eine evangelische Gemeinde gebildet hatte, war er erstaunt, aber durchaus verständnisvoll. Der liebe Gott sei ja schließlich derselbe, und ihm, Edelstein, sei es gleichgültig, in welcher Weise man ihn verehre. Aber Räume, in denen jüdische Gottesdienste abgehalten würden, könnten nicht zur Verfügung gestellt werden, denn dort sei die Thora aufgestellt, und das sei unverträglich mit christlichem Gottesdienst, geschweige denn mit der Anbringung eines Kreuzes. Er wolle indessen sehen, ob nicht doch irgendein Raum zu schaffen sei; vorläufig möge ich versuchen, einen Dachboden in einer Kaserne zu erhalten. Das gelang, und wir hielten den Gottesdienst wieder auf einem Dachboden ab, zu dem viele steile Treppen führten. Auch dieser Raum erwies sich als unzulänglich — die Zahl der Besucher stieg ständig.
Inzwischen war der Dachboden, auf dem wir begonnen hatten, von der Abteilung für „Freizeit“ für Variete und Vorträge hergerichtet, eine Bühne und Holzbude aufgestellt und elektrische Beleuchtung angebracht worden. Nach allerlei Schwierigkeiten wurde dieser Raum zur Abhaltung evangelischer — später auch katholischer — Gottesdienste durch Schreiben vom 18. Oktober 1942 zur Verfügung gestellt. Das war die erste, halbwegs offizielle, Anerkennung der Gemeinde.
Ich bat nun einige Herren und Damen, mich bei den mannigfachen Aufgaben und Fragen, die dauernd entstanden, zu unterstützen. Vor allem gebührt Dank Dr. O. Stargardt — Landgerichtsrat aus Berlin und Mitglied der Provinzialsynode —, den ich zum „Diakon“ bestellte; er hat all die Jahre hindurch die Gemeinde in innigster Hingabe, mit mir zusammen, geleitet.
Wir schritten bald dazu, eine Liste der Gemeindeglieder herzustellen und eine Kartei einzurichten.
Bei der Aufnahme der Personalien stellte sich heraus, daß eine große Anzahl von Personen sich erst als Erwachsene hatten taufen lassen, meist erst aus Anlaß der Ehe; durch Tod oder Scheidung getrennte Mischehen verhinderten schon 1942 nicht mehr die Evakuation. Ich unterließ es daraufhin grundsätzlich, den Zeitpunkt der Taufe festzulegen, um eine Differenzierung innerhalb der Gemeinde und nach außen hin zu vermeiden. Denn die Stellungnahme der Juden, vor allem der gesetzestreuen Juden — und deren waren sehr viele —, war, wie ich bald erfuhr, eine völlig verschiedene gegenüber denen, die schon von Kindheit an christlich erzogen waren, deren Eltern schon Christen gewesen waren, und denen, die erst später übergetreten waren. Gegenüber den ersteren war die Haltung im allgemeinen neutral und gipfelte höchstens in einer grundsätzlichen, gelegentlich auch mißachtenden Ablehnung des Christentums, wie sie im Judentum weit verbreitet zu sein scheint. Ganz anders war die Haltung gegenüber denjenigen, die erst als Erwachsene übergetreten waren. Man betrachtete und verachtete sie als „Abtrünnige“, als Renegaten und Verräter und bezeichnete sie als „Geschmockle“. Diejenigen, welche keine Selbstbeherrschung besaßen, vielleicht auch keine gute Erziehung erhalten oder sie in ihrer jetzigen Umgebung verloren hatten, scheuten sich oft nicht, ihrer Mißachtung bei gegebener Gelegenheit unverblümten Ausdruck zu geben. Der Gedanke, daß jemand nicht aus Nützlichkeitsgründen, sondern aus Überzeugung zum Christentum übergetreten sei oder ein gläubiger Christ habe werden können, war offenbar unvollziehbar. Vielleicht war das Mißtrauen gegen die Echtheit des dortigen Christentums bei den Theresienstädtern überhaupt etwas größer, weil die weitgehende Anwendung der Nürnberger Gesetze auch bei den Juden fast gänzlich unbekannt war, so daß niemand wußte oder glauben wollte, daß als „Jude“ auch galt, wessen Urgroßeltern zur Zeit der Geburt der Großeltern noch nicht getauft waren. Immer wurden die, die als Kinder getauft und deren Eltern Christen gewesen waren, gefragt: „Warum sind Sie denn hier?“
Jedenfalls hatten aus dieser Einstellung viele, besonders Frauen, zu leiden, die einzeln oder in der Minderzahl in Massenquartieren mit Juden hausten.
Aus dieser Situation ergab sich auch die Tatsache, daß nicht nur ein gewisser Rückstrom in das Judentum zu beobachten war, sondern nicht wenige es von vornherein scheuten, sich als Christen zu bekennen; sie hatten sich deshalb bei den offiziellen Personalaufnahmen als mosaisch oder konfessionslos bezeichnet. Das hatte im Einzelfalle die Folge, daß beim Tode jene Eintragung maßgebend war und die christliche Bestattung dieser Toten von der Verwaltung verweigert wurde.
Es meldeten sich auch Nichtchristen; sie wurden als Mitglieder nicht eingetragen, jedoch wurde ihnen gesagt, daß ihre Teilnahme an den Gottesdiensten willkommen sei, daß sie aber am Abendmahle nicht teilnehmen dürften.
Von einer konfessionellen Beschränkung war im übrigen keine Rede. Es meldeten sich und wurden, in bunter Mannigfaltigkeit, eingetragen: Lutheraner, Reformierte, Unierte, Hussiten, Angehörige der Böhmischen Landeskirche, Anglikaner, Remonstranten, Angehörige von Brüdergemeinden und andere.
Die Zahl der evangelischen Christen, die sich zur Gemeinde hielten, läßt sich nicht angeben, in die Kartei mögen etwa achthundert aufgenommen worden sein; ihre Feststellung ist nicht mehr möglich, da die Kartei in Theresienstadt verblieben ist. Diese Zahl wäre auch nicht maßgebend; denn der Bestand wechselte dauernd infolge der ständigen Zu- und Abtransporte und der, besonders in der ersten Zeit, sehr großen Sterblichkeit. Die Kartei auf dem laufenden zu halten, war aus äußeren Gründen nicht möglich.
Der Gottesdienst wurde regelmäßig von einhundertundfünfzig bis zweihundert Personen besucht; an den Feiertagen war der Besuch ein sehr viel größerer.
Im ganzen wuchs die Anzahl der Christen bis zum Februar 1945, als der letzte Transport ankam, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, ständig, und zwar vor allem deswegen, weil auch bestehende Mischehen nicht mehr vor der Evakuierung schützten.
Die Schätzungen über den Anteil der Christen an der Theresienstädter Bevölkerung schwankten; die Verwaltung schätzte ihn, bei mündlichen Verhandlungen, auch in der letzten Zeit auf nicht mehr als fünf bis sechs vom Hundert.
Wahrscheinlich war es jedoch statistisch festgestellt; jedenfalls waren die Grundlagen für solche Statistik vorhanden. Es war aber — trotz oft geäußertem Wunsche und anscheinendem Entgegenkommen — nicht möglich, eine solche zu erhalten, vielleicht weil man befürchtete, es würden dann „Minderheitsansprüche“ mit größerer Stoßkraft erhoben.
Wie schon erwähnt, war diese Gemeinde nur „geduldet“ — es bestand daher auch keine Möglichkeit, ihr eine Rechtsform zu geben, sie als „Verein“ oder gar als öffentliche Körperschaft zur Anerkennung zu bringen. Es wurde auch keine Satzung eingeführt, überhaupt der Versuch unterlassen, diese rein tatsächliche Gegebenheit des Zusammenschlusses mit doch nur leeren Rechtsformen zu umkleiden; es erschien richtiger, alles dem persönlichen Einfluß und der Autorität der Leitung zu überlassen und so von vornherein innere Differenzen und Spannungen möglichst zu vermeiden.
Zu überlegen war jedoch, wie unter diesen Umständen kirchenrechtlich die Stellung des Leiters sich darstellte, ob und wie weit ihm das Recht zu kirchlichen Funktionen zustehe.
Nach evangelischem Kirchenrecht steht das, bei Vorhandensein eines Kirchenregiments oder einer Kirchenordnung, nur einem ordinierten und von der Kirchenleitung ernannten oder von der Gemeinde gewählten Geistlichen zu. Ein Kirchenregiment bestand in Theresienstadt nicht; es war staats- und kirchenrechtlich eine im Protektorat gelegene Enklave, die in ihrer rein tatsächlich zugestandenen Selbstverwaltung nur unter der Aufsicht und Leitung der SS. stand. Das „Kirchenregiment“ der Tschechoslowakei, geschweige denn das des Reiches hatte dort nichts zu suchen, wie denn auch das — katholische — Kirchengebäude geschlossen war und Angehörige des Klerus, weder persönlich noch schriftlich, in Theresienstadt Zugang hatten.
Auch ein ordinierter Geistlicher war, wenigstens bis zum Spätsommer 1943, nicht vorhanden. Es kam daher Artikel 67 der Schmalkaldischen Artikel zum Zuge. „Denn wo die Kirche ist, da ist immer der Befehl, das Evangelium zu predigen. Darum müssen die Kirchen Gewalt haben, daß sie Kirchendiener selbst berufen, wählen und ordinieren … Wo aber die wahre Kirche ist, da muß sie auch das Recht haben, ihre Diener zu wählen und zu ordinieren. Wie denn in der Not auch ein schlichter Laie einen anderen absolvieren und sein Pfarrer werden kann.“[1]
Hier nun war die Entwicklung die gewesen, daß die Gläubigen aus kleinstem Kreise heraus in immer zunehmendem Maße sich um eine Person geschart, sich ihr als ihrem geistlichen Leiter angeschlossen hatten. Die Gemeinde war um einen Prediger gewachsen. Für eine Wahl bestand daher keine Notwendigkeit, und diesem Leiter stand, wie einem in der Not gewählten „Ältesten“, das Recht, und zwar das ausschließliche Recht der Verkündigung und der Verwaltung der Sakramente zu.
Demgemäß ist auch das Abendmahl von ihm ausgeteilt worden. Taufen wurden dagegen nicht vorgenommen. Kinder kamen dafür nicht in Frage, Erwachsene erwogen zwar in ganz einzelnen Fällen die Taufe, aber diese erübrigte sich, teils weil die Betreffenden starben, teils weil man sie, in gemeinsamer Erwägung, für die erhoffte Rückkehr in die Heimat vorbehielt.
Was die Eheschließung betrifft, so waren von der Verwaltung am 30. Januar und 21. März 1944 eingehende und ziemlich verwickelte Vorschriften erlassen. Danach durften zwar Angehörige der mosaischen Konfession religiöse „Ehen“ schließen und auch lösen, was in einem besonderen Zivilregister eingetragen wurde, unter Hinweis, daß es sich nicht um rechtsgültige Ehen handle.
In bezug auf die anderen Konfessionen war — ohne Benehmen mit den Leitern der christlichen Gemeinden und offensichtlich ohne Berücksichtigung der kirchenrechtlichen Normen — folgende Bestimmung getroffen worden: „Der Abschluß von religiösen Ehen zwischen Angehörigen nicht mosaischer Glaubensbekenntnisse ist nicht möglich, da sich ordinierte Geistliche nicht mosaischer Glaubensbekenntnisse nicht im Bereiche der jüdischen Selbstverwaltung finden. Den Angehörigen der nicht mosaischen Glaubensbekenntnisse bleibt es jedoch unbenommen, nach Abgabe der Eheerklärung gemäß § 2 der eherechtlichen Vorschriften vom 30. Januar 1944 und dem Abschnitt II dieser Durchführungsvorschriften ihren Lebensbund durch die Vertreter ihrer Glaubensbekenntnisse in der hier möglichen Form einsegnen zu lassen.“
Tatsächlich wurde nur in ganz wenigen Fällen der Wunsch nach kirchlicher Trauung, einmal sogar mit dem Wunsche nach Taufe verbunden, geäußert. Der Wunsch wurde abgelehnt. Denn der Wunsch entsprach nicht einem religiösen Bedürfnis, sondern war rein opportunistisch: Es handelte sich um den übrigens nicht notwendig gewordenen Versuch, durch den Abschluß eines solchen Lebensbundes die Gefahr der Trennung durch Abtransport zu vermindern. Dazu kam das Bedenken, daß nach deutschem Strafrecht die Vornahme einer kirchlichen Trauung durch einen Kirchendiener vor Abschluß einer standesamtlichen Ehe — auch eine solche war ja jener „Lebensbund“ trotz seiner Eintragung in ein Register nicht — verboten war.
Die Leitung der katholischen Gemeinde hatte allerdings keine Bedenken, in einer ganzen Reihe von anders gelagerten Fällen eine kirchliche Trauung vorzunehmen, weil nach katholischem Kirchenrecht das Sakrament der Ehe sich durch die übereinstimmende Erklärung der Brautleute vollzieht und die Rolle des mitwirkenden Priesters — oder in Ermangelung eines solchen des mitwirkenden Laien — und der beiden Zeugen eine zwar notwendige, aber nur passive Assistenz ist. —
Natürlich brachte das ständige Anwachsen der Gemeinde eine immer größere Menge von verwaltungsmäßigen Aufgaben mit sich, wie die Ausstattung des Raumes, die Beschaffung von Altargeräten und Gesangbüchern.
Im Anfang war es bereits ein Ereignis, als sich für den Gottesdienst ein Tisch und eine Decke fand und darauf ein Kruzifix gestellt werden konnte.
Nach einiger Zeit wurde, auf einem Boden versteckt, ein schönes Kruzifix gefunden, etwa zweieinhalb Meter hoch und wohl aus dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts stammend. Es wurde jeweils zum Gottesdienst hinter dem Altartisch aufgestellt und nachher wieder fortgenommen. Dazu kam bald ein etwa einundeinhalb Meter großes Marienbild vom Rosenkranz. Es war für den ersten Heiligen Abend, nach einem kleinen Druck, gemalt worden, und es schmückte fortan den gottesdienstlichen Raum.
Es wurde, nach der Befreiung, dem Bischof von Leitmeritz übergeben, um es als Andenken an die beiden Gemeinden in der Kirche aufzuhängen.
Bereits im November 1942 wurde der Ältestenrat ersucht, über die SS. — ein direkter Verkehr mit der SS. war verboten — ein Schreiben zu befördern, in dem eine evangelische Gemeinde in Prag um Beschaffung von Abendmahlsgerät, Oblaten und Wein gebeten wurde; gleichzeitig wurde um Lieferung eines Altars, von Leuchtern, Altardecke und verschiedenem anderen gebeten. Man hörte lange — trotz steter Erkundigungen — nichts, bis endlich im März 1943 mitgeteilt wurde, daß die Kommandantur, und zwar bereits Anfang Dezember, angeordnet hatte, daß alle gewünschten Gegenstände von der Verwaltung zu liefern oder herzustellen seien — nur Wein sei überflüssig. Das geschah alles in befriedigender Weise; für die Abendmahlsfeiern wurden jedesmal in durchaus hinreichendem Maße süße Brote — die in Würfel geschnitten wurden — und zum Ersatz für Wein Tee und Zucker geliefert.
So war es möglich, den Altar zum Gottesdienst immer würdig herzurichten und das Abendmahl auszuteilen; die Katholiken schmückten dabei den Altar nach ihrem Brauch mit Spitzen und Blumen. Auch an einigen Lichtern fehlte es im allgemeinen nicht.
Dagegen war es nicht möglich, Testamente und Gesangbücher von auswärts zu bekommen. Dem großen und dauernden Bedürfnis konnte in geringem Umfange nur dadurch Rechnung getragen werden, daß solche Bücher aus dem Nachlaß Verstorbener der Gemeinde überwiesen wurden.
Eine besondere Schwierigkeit bereitete die Bestattungsfrage. Die Sterblichkeit war, wie bereits erwähnt, besonders im ersten Jahre außerordentlich groß. Die Leichen wurden zunächst auf Handkarren, oft zu mehreren, notdürftig mit Tüchern bedeckt, so daß die nachten Füße herausragten, später auf Pferdewagen, hoch mit Brettersärgen beladen, durch die Stadt hinaus in die Leichenhalle — eine finstere Kasematte — gefahren. Zur Feier — erst im Freien, später in einer Kasemattenhalle — wurden die Särge zu vierzig bis fünfzig, oft viel mehr, in Reihen übereinander gesetzt, mit Namensschildern versehen. Die Trauernden suchten, auf Grund dieser Schilder, wenigstens herauszufinden, in welchem der vielen Särge der lag, dem sie die letzte Ehre erweisen wollten. Ein Rabbiner sprach das uralte Totengebet und der Vorsänger — vielfach mit wunderschöner Stimme und Technik — die hergebrachten Totenhymnen. Dann wurden die Särge auf Wagen geladen, um sie zu dem außerhalb der Festungsgrenze gelegenen Krematorium zu bringen. Die Leidtragenden durften die wenigen Schritte bis zur Grenze mitgehen.
Die Christen hatten gegen diese Bestattung nach jüdischem Ritus Bedenken. Sie versuchten deshalb, eine Absonderung von den jüdischen Leichenbegängnissen zu erreichen.
Nachdem zunächst immer wieder technische Schwierigkeiten eingewandt wurden, wurden vom Mai 1943 ab die verstorbenen Christen eine halbe Stunde vor der jüdischen Feier aufgebahrt; später wurde dafür eine besondere Halle eingeräumt. Die Versuche, diese Halle einigermaßen würdig herzurichten, waren lange vergeblich. Der Antrag, ein großes Kruzifix und die Inschrift: „Ego sum resurrectio“ — „Ich bin die Auferstehung“ anzubringen, wurde schließlich weitergegeben, aber von der Kommandantur abgelehnt, da das öffentliche Zeigen von christlichen Symbolen nicht gestattet werden könne.
Erst ganz gegen Ende wurde die Halle in einen würdigen Zustand gebracht und mit einem großen, von einem Bildhauer angefertigten Kruzifix, auch mit jener Inschrift, versehen. Auch gelang es, daß die Leichenkarren und die Särge bei der Aufbahrung, statt mit einem Tuche mit dem Davidsstern, mit einem einfachen schwarzen Tuche bedeckt wurden.
Natürlich tauchten bei der Ausgestaltung des Gemeindelebens immer wieder große und kleine Schwierigkeiten der mannigfachsten Art auf.
So erschien es zunächst unmöglich, zu Weihnachten einen Tannenbaum zu beschaffen und so die große Sehnsucht, das Christfest nach heimatlicher Weise zu feiern, zu befriedigen. Schließlich gestattete die SS. aber doch einen kleinen Baum, der dann von den Frauen liebevoll geschmückt wurde; auch von allen Seiten gespendete Kerzen — eine viel begehrte Seltenheit — fehlten nicht. Im letzten Jahre wurde der Weihnachtsbaum von dem SS.-Mann, der darüber zu befinden hatte, in zynischer Weise verweigert. Darauf ließ die jüdische Verwaltung erfreulicherweise einen künstlichen Baum mit eingefügten Zweigen und mit bunten elektrischen Lampen für den Gottesdienst herstellen!
Ja noch mehr, die Verwaltung, oder richtiger der Judenälteste, Dr. Murmelstein, veranstaltete für die christlichen Kinder sogar eine Festvorstellung, bei der ein Kinderchor Weihnachtslieder sang, Kinder ein kleines Märchenspiel aufführten und ein Zauberer — ein seinem Beruf entrissener Insasse — seine Künste zeigte.
Großes Entgegenkommen bewies auch die Gesundheits-Verwaltung. Die Seelsorge in den Krankenhäusern war sehr eingeengt, da Besuch nur an wenigen Tagen und für wenige Stunden gestattet und die Seelsorge in dieser kurzen, von vielen Besuchern ausgenutzten Zeit wenig angebracht war. Der Leiter der Gemeinde erhielt daher einen dauernden Passierschein, und die Chefärzte und Unterabteilungen wurden außerdem ersucht, Patienten, welche den Wunsch nach geistlichem Zuspruch äußerten, namhaft zu machen. So wurde es möglich, gelegentlich sogar den Wunsch Sterbender nach Erteilung des Abendmahls noch spät abends zu erfüllen.
Hindernisse für den Besuch des Gottesdienstes wurden nach Möglichkeit beseitigt. Sabbatruhe, geschweige denn Sonntagsruhe gab es nicht; nur ganz selten, bei den großen Feiertagen, ruhte die Arbeit, aber auch dann nicht bei gewissen Betrieben, die für die Wehrmacht arbeiteten, so zum Beispiel bei der Glimmer-Abteilung, in welcher viele Frauen, in langer Arbeit bei weitem Hin- und Rückweg, Glimmerplatten herstellen mußten. Viele konnten daher, da der Arbeitsdienst sehr streng war, den Gottesdienst nicht besuchen. Es wurden daher im Einverständnis mit dem Arbeitsamt den Betroffenen Bescheinigungen ausgestellt, daß sie Mitglied der Gemeinde seien und daß gebeten würde, ihnen wenigstens einmal im Monat Urlaub für den Gottesdienst zu erteilen. Diese Maßnahme bewährte sich in vielen Fällen. Aber letzten Endes hing die Bewilligung des Urlaubes doch von der Einstellung des Abteilungsleiters und davon ab, ob er glaubte, der SS. gegenüber irgendeine Einschränkung der Arbeit verantworten zu können.
So konnte sich das äußere Leben der Gemeinde im allgemeinen planmäßig gestalten.
Rückwärts betrachtet, muß anerkannt werden, daß die Verwaltung einer gesollt und gewollt rein jüdisch aufgebauten Gemeinschaft, die naturgemäß eine christliche Gemeinde als einen Fremdkörper empfinden mußte, im ganzen doch großes Entgegenkommen bewiesen hat.
Auf dieses Entgegenkommen ist es vielleicht nicht ohne Einfluß gewesen, daß die Ansprüche darauf gelegentlich mit erheblicher Schärfe vertreten wurden. Als charakteristisch dafür mögen folgende zwei Schreiben an den Ältestenrat angeführt werden:
Dr. A. Goldschmidt Theresienstadt, den 4. August 1943.
Q 307
An den Ältestenrat
z. Hden. von Herrn Dr. Eppstein.
Die christlichen Gemeinden sind dadurch schwer betroffen, daß der ihnen neuerdings als Kirchenraum zugewiesene und für die Anzahl der Teilnehmer am Gottesdienst besser ausreichende Bodenraum Q 319 durch anderweitige Belegung wieder fortgefallen ist, so daß bereits am Sonn- tag, den 1. 8. 1943, die Gottesdienste ausfallen mußten.
Wenn auch nicht alle, so ist doch ein großer Teil der christlichen Ghetto-Insassen, vielleicht eine größere Anzahl als früher, infolge der Ereignisse von einer tiefen Religiosität erfüllt, finden in dem Glauben und im Gottesdienst ihren ganzen Halt und sehen die ganze Woche mit Sehnsucht dem Sonntag entgegen.
Die- Möglichkeit, die Gottesdienste weiter abzuhalten, ist daher nicht so sehr für das vielleicht weniger bedeutungsvolle Fortbestehen der christlichen Gemeinde, als vielmehr für den Mut und das Durchhalten einer großen Zahl von einzelnen Menschen von vitaler Bedeutung.
Der evangelische Gottesdienst findet Sonntags von neun bis zehn Uhr, der katholische Gottesdienst von elf bis zwölf Uhr statt. Außerdem findet je am letzten Sonnabend eines jeden Monats von zwei bis drei Uhr ein katholischer Gottesdienst statt.
Wie wir hören, ist der offenbar für unsere Zwecke an sich sehr geeignete Saal des Rathauses am Sonntagvormittag, wie auch zu der angegebenen Zeit Sonnabends frei.
Wir richten daher an den Ältestenrat die ergebene Bitte, uns den Rathaussaal für die Sonntage von neun bis zwölf Uhr und für jeden letzten Sonnabend im Monat von zwei bis drei Uhr zur Abhaltung von Gottesdiensten zur Verfügung zu stellen.
gez.: Dr. Goldschmidt
als Seelsorger der evangelischen Gemeinde; zugleich im Sinne und in Vollmacht der katholischen Christen zu Theresienstadt.
Die röm.-kath. Christen
durch Dipl.-Ing. Ernst Gerson
Hauptstr. 1/42 Theresienstadt, am 11. 10. 1943.
Die evang. Christen
durch Dr. Arthur Goldschmidt
Badhausgasse 7.
An den Ältestenrat.
Als Herr Dr. Paul Eppstein uns anläßlich einer Aussprache Ende April 1943 mitteilte, daß er grundsätzlich der Überlassung eines kleinen Bodenabteiles an die beiden christlichen Gemeinden zwecks Abhaltung von religiösen Übungen außerhalb des eigentlichen Gottesdienstes zustimme, durften wir uns der Hoffnung hingeben, daß diese Zusage eingehalten werden würde. Die seither eingetretene verschärfte Raumnot hat die Erfüllung dieses Versprechens bisher verhindert. Ob der von uns in Aussicht genommene Raum / Boden D m in Hauptstr. Nr. 1 / in absehbarer Zeit freiwerden wird, ist mehr als fraglich. Daher hofften wir, daß die Ghettoverwaltung in sinngemäßer Auslegung der Zusage ihres Ältesten uns in anderer Weise entschädigen werde.
Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch, da unser Begehren auf Einräumung des Bodenraumes Badhausgasse 7 für sieben bis acht Wochenstunden von der Freizeitgestaltung mit der Begründung abgewiesen wurde, daß sie diesen Boden aus Raumnot und weil sie ihn für Proben benötige, nicht einmal für diese geringe Zeit entbehren könne. Diese Gründe sind nun nicht stichhaltig. Wenn man ein Wochenprogramm der Freizeitgestaltung, insbesondere die Fülle seichter Unterhaltung und flacher Vorträge überblickt, die da geboten wird, dann darf man den Schluß ziehen, daß sechs Stunden wöchentlich keine Rolle spielen können, wenn man nur will. Überdies haben wir festgestellt, daß der besagte Raum für viele Wochenstunden keineswegs für Proben, sondern privatem Gesangsunterricht eingeräumt wurde. Dieser Umstand nötigt uns zu folgenden Feststellungen:
1. Die Juden haben in Mittel- und Westeuropa eine Minderheit von 1-2 % dargestellt, die seinerzeit eine vollkommene Kulturautonomie besaßen und — mit Recht — Toleranz begehrten und erhielten.
2. Nach einer Mitteilung des Herrn Rabb. Schoen befinden sich unter etwa 40 000 Ghettoinsassen etwa 34 000, also 85 °/o Glaubensjuden. Nach dem Religionsschlüssel kann man daher mit 9 °/o Christen und 6 °/o Konfessionslosen rechnen.
3. Es ist selbstverständlich, daß den schwer arbeitenden Ghettoinsassen Gelegenheit geboten werden muß, sich nach der Tagesmühe bei leichter Kunst und populären Vorträgen zu entspannen. Während aber jenen Glaubensjuden, die nach schwererer Kost verlangen, eine Fülle von hochwertigen jüdischen Kulturvorträgen geboten wird, wird der christlichen Minderheit die Abhaltung kultureigener religiöser Vorträge nahezu unmöglich gemacht.
Daher beantragen wir ein letztes Mal, uns
entweder den Bodenraum Badhausgasse 7 für eine entsprechende Wochenstundenzahl einzuräumen,
oder einen entsprechenden Bodenabteil, d. i. den Boden D m in Hauptstraße 1 oder einen gleichwertigen Raum zuzuweisen.
Wir geben zu bedenken, was das Weltgericht der Geschichte einmal über die Anklage befinden würde, daß eine soziale Gemeinschaft, die als Minderheit Kulturautonomie begehrt und gefunden hat, als Mehrheit eine solche nicht einräumen will.
Dr. Ge. Dr. Go.
Aber auch innerhalb der Gemeinde hat es nicht ganz an Schwierigkeiten und Spannungen gefehlt.
Im Laufe des Sommers 1943 kam mit einem Berliner Transport der Rechtsanwalt Dr. Hamburger an. Er hatte seit 1933 im Glauben einen immer stärkeren Halt gefunden und sich der Bekenntniskirche angeschlossen. Er war als Notgeistlicher ordiniert und kam nach Theresienstadt in der Zuversicht, dort eine Gemeinde gründen und in ihr als Geistlicher wirken und vor allem predigen zu können.
Zu seiner Überraschung fand er eine bereits ausgebaute Gemeinde vor, und er sah ein, daß er — bei der ganzen Sachlage — nicht an die Stelle des bisherigen Leiters treten könne, es sei denn, daß er von der Gemeinde an seiner Statt gewählt würde.
Diesem Gedanken trat er, als aussichtslos, gar nicht näher, aber er äußerte den entschiedenen Wunsch, auch zu predigen.
Da er ordiniert war, lag an sich auch kein Hindernis dafür vor, aber Bedenken sachlicher Art waren auch nicht von der Hand zu weisen: Die Predigt verfolgte — worüber weiter unten noch gesprochen werden wird — eine bestimmte Linie, die sich allmählich aus den Erfahrungen ergeben hatte und, soweit zu erkennen war, erfüllte sie damit das, was erforderlich erschien, um der Gemeinde einen gewissen Halt gegen das äußere Leiden zu geben. Dr. Hamburger fehlte darüber noch jede Erfahrung und bei häufigen, freundschaftlichen Gesprächen stellte sich heraus, daß er auf dogmatische Punkte, in einem gewissen missionarischen Eifer, solches Gewicht legte, daß man damit rechnen mußte, daß Glaubensdifferenzen in der so verschieden zusammengesetzten Gemeinde sich auswirkten.
Das mußte auf Grund der ganzen Umstände tunlichst vermieden werden, wenn anders die Kraft der Verkündigung des reinen Wortes Gottes für die gesamte Gemeinde nicht beeinträchtigt werden sollte. Dazu kam leider, daß Dr. Hamburger nicht das Glück hatte, daß ihm die Herzen sich zuwandten. Auch dem wurde oft Ausdruck gegeben.
Nun aber griff ein mit Dr. Hamburger von Berlin gekommener Herr ein und nahm gewissermaßen seine Partei und vertrat mit Nachdruck die Auffassung, es müßten auch andere predigen, es müsse eine Abwechslung geboten werden, wie man ja auch in Berlin zu verschiedenen Predigern von allen Richtungen habe gehen können. Dieser Auffassung gab er auch an einem Gemeindeabend überraschend Ausdruck. Damit war die Gefahr gegeben, daß eine Spaltung der Gemeinde eintrete und daß sie in Brüdergemeinden und Sekten zerfiele, womit die mühsam erworbene Stellung gegenüber der Verwaltung untergraben wäre.
Daraufhin wurde die Sachlage zum Gegenstande der Besprechung auf einer auf den 11. Oktober 1943 zusammengerufenen Sitzung der Helfer gemacht. Alle Teilnehmer dieser Sitzung — bis auf Dr. Stargardt und den Verfasser — sind in Transport gekommen und vermutlich in Auschwitz ermordet worden, außer Fräulein Frankau, der gütigen, unermüdlichen Fürsorgerin, die jäh an einer Gehirnhautentzündung aus dem Leben geschieden ist.
Dr. Stargardt verfaßte das nachfolgende Protokoll, das die Sachlage klar zusammenfaßt:
Protokoll vom 3. Oktober 1943.
An der heutigen, im Zimmer des Dr. Stargardt, Seestraße 26, stattgehabten Besprechung von Vertretern der Evangelischen Gemeinde in Theresienstadt nahmen teil:
Dr. Goldschmidt, Dr. Stargardt, Fräulein Frankau, Fräulein Dinter, Dr. Kobrak, RA. Wollstein und die Herren Proskauer und Wachs.
Dr. Goldschmidt eröffnete die Sitzung mit Rechtsausführungen über die hiesige evangelische Gemeinde. Er führte aus, daß wir weder ein Verein im Rechtssinne, noch eine Korporation oder sonst irgendwie rechtlich anerkannte Gemeinschaft seien, sondern daß wir lediglich rein tatsächlich sowohl von der bisherigen „Lagerkommandantur“ wie von der Jüdischen Leitung hierselbst geduldet würden. Er, Dr. Goldschmidt, der die ganze Sache aus kleinsten Anfängen gebildet und durchgeführt habe, sei für alle Angelegenheiten unserer Gemeinde ausschließlich verantwortlich. Es müsse alles vermieden werden, was nach irgendeiner Seite Anstoß erregen könne.
Er bat dann Dr. Stargardt, die weitere Leitung der Besprechung zu übernehmen. Dr. Stargardt tat das, indem er zunächst Dr. Goldschmidt für seine klaren und wichtigen Ausführungen dankte; niemand sei mehr als er, der ehemalige Oberlandesgerichtsrat in Hamburg und nun seit über Jahr und Tag der Seelsorger unserer Gemeinde, berufen, die Rechtslage unserer Gemeinde zu erläutern. Dann wies Dr. Stargardt darauf hin, daß die Absicht, hier einmal eine Besprechung der Vertreter unserer Gemeinde herbeizuführen, schon vor dem vergangenen Mittwoch bestanden habe, daß aber nun Veranlassung sei, auch den Vorfall am vorigen Gemeindeabend in unsere Besprechung einzubeziehen. Bisher sei unsere Gemeinde in schönster Harmonie gewesen; jetzt sei zum ersten Male ein Mißklang hineingekommen oder gar, wie andere es genannt hätten, ein „Zwiespalt“, und wir müßten daher sogleich alles tun, um diesen Mißklang zu beseitigen. Dr. Kobrak habe im Anschluß an den neulichen Vortrag des Dr. Hamburger gewünscht, daß auch einmal jemand anders am Sonntag predige als Dr. Goldschmidt; andere hätten auch den Wunsch. Dr. Kobrak verlange, daß auch einmal ein Vertreter der „B.K.“ predigen müsse. Dr. St. führte aus, daß niemand mehr als er selber ein treues Mitglied der „B.K.“ von der Geburt der „B.K.“ an sei; als Mitglied des Dahlemer Helferkreises, als Freund der Familie Niemöller und als Bekannter und Verehrer vieler anderer führender Männer der B.K. brauchte er das nicht weiter zu betonen. Aber es sei ganz unwichtig, daß hier gewünscht werde, es solle auch einmal ein Vertreter der „B.K.“ als solcher predigen. Die „B.K.“ sei ja keine Sekte, sondern im Gegenteil der Zusammenschluß aller auf dem Boden des reformatorischen Bekenntnisses stehenden Evangelischen Christen Deutschlands und seiner Nachbarländer, und es würde die führenden Männer der „B.K.“ höchlich wundern, wenn sie hörten, daß hier in Theresienstadt in unserem evangelischen Gottesdienst statt des treuen, bewährten, völlig auf dem Boden des reformatorischen Bekenntnisses stehenden Seelsorgers Dr. Goldschmidt ein Vertreter einer anderen „Richtung“ predigen solle. Wolle man wirklich andere „Richtungen“ predigen lassen, dann könne morgen ein Calvinist und übermorgen ein Hussit, ein Zinzendorfer, ein Vertreter der Anglikanischen Hochkirche das Verlangen stellen, als solcher, bei uns zu predigen. Das aber würde gerade die bisherige wundervolle Einheit unserer Gemeinde, die sogar mit der hiesigen katholischen Gemeinde in vorbildlicher Harmonie lebe, gefährden. Dr. Stargardt bat nun Dr. Kobrak, seinen Antrag zu begründen.
Dieser führte aus, daß er im Gegensatz zu Dr. Stargardt kein von diesem gemaltes Schreckgespenst befürchte, wenn auch andere einmal predigen, er erwarte gerade eine Bereicherung unseres gottesdienstlichen Lebens, wenn auch andere zu Worte kämen. In anderen Städten könne man sich ja auch andere Prediger und andere Kirchen aussuchen, um einmal einen anderen Prediger anzuhören. Dr. Goldschmidt, der noch so viele andere Aufgaben habe, könne gar nicht 52 Sonntage hindurch predigen und es sei auch nicht möglich, daß er immer wieder Neues bringe. Er, Dr. Kobrak, sei auch nicht immer mit allem einverstanden, was Dr. G. sage — dies solle ebenso wenig ein Vorwurf gegen Dr. G. sein wie gegen ihn (Kobrak) selber — und auch andere hätten schon deswegen sich vom Gottesdienst ferngehalten, weil sie nicht alles, was Dr. G. predige, billigen. Dr. Kobrak erzählte, daß seine jetzt in England lebende Tochter ihm mitgeteilt habe, daß sie der Anglikanischen Hochkirche beitreten würde, er würde es also sehr begrüßen — aber gar nicht aus persönlichen Gründen —, wenn einmal ein hier etwa vorhandenes Mitglied der Anglikanischen Hochkirche den Gottesdienst abhalte. Er trete gar nicht speziell für Dr. Hamburger ein, halte es aber doch für richtig, diesen einmal predigen zu lassen, da er von der Dahlemer Gemeinde dazu ermächtigt worden sei. Er beantrage, daß jeden Monat einmal ein anderer als Dr. Goldschmidt predige.
Dr. Stargardt bat nunmehr die anderen, sich zu diesem Anträge zu äußern. Zuerst ergriff Fräulein Frankau das Wort, widersprach dem Anträge mit dem Hinweis, daß wir die ganze Einrichtung und Durchführung unserer Gottesdienste Dr. Goldschmidt zu verdanken hätten und schon aus diesem Grunde keinen Anlaß hätten, andere als ihn predigen zu lassen. Die meisten seien auch ganz mit seinen Ausführungen einverstanden; wer es nicht sei, möge eben fernbleiben. Sie sei von Geburt treue Protestantin; hier aber komme ihr wieder einmal der Vorzug der Katholischen Kirche zum Bewußtsein, die einen Papst habe, der eben alles zu bestimmen habe. Da könne nicht jeder kommen und etwas besonderes beanspruchen. Für uns sei Dr. Goldschmidt hier unser Haupt; wir wollen ihn auch weiter in unseren Gottesdiensten predigen lassen in der bisherigen Weise.
Auch Herr Proskauer trat dem Anträge Dr. Kobrak entgegen und wies darauf hin, daß wir nicht bloß um der Dankbarkeit willen, zu der wir Herrn Dr. Goldschmidt verpflichtet seien, weiter treu zu ihm halten sollten, sondern auch um deswillen, weil die überwiegende Mehrheit der Gemeindemitglieder durchaus mit seinen Predigten einverstanden sei, was ihr ständig zunehmender Besuch unserer Gottesdienste, in denen die Sitzplätze nicht mehr ausreichen, beweise. Er kam dann auf den Wunsch des Dr. Hamburger, hier zu predigen, zu sprechen, der diesen Wunsch bereits am Tage nach seiner Ankunft zum Ausdruck gebracht habe und geäußert habe, daß er den Auftrag habe, hier eine Gemeinde und Gottesdienste einzurichten. Im Zusammenhang hiermit verlas er einen Brief des Dr. Hamburger an ihn, worin dieser den Vorfall am vergangenen Mittwoch bedauert und bat, seinerseits in der Angelegenheit sprechen zu dürfen.
Danach trat auch Fräulein Dinter dem Antrag des Dr. Kobrak entgegen und bat, alles beim alten zu belassen.
Schließlich ergreift Dr. Wollstein das Wort und sagt, daß es nicht richtig sei, in einer Zeit, wo den Juden die Synagogen ausgeplündert worden seien und den Christen der Mund verboten sei, hier in unserer Gemeinde in Theresienstadt Uneinigkeit zu schaffen. Wir wollten doch froh und dankbar sein, daß wir hier in diesem jüdischen Lager unangefochten Sonntag für Sonntag unsere Gottesdienste unter der bewährten Leitung des Dr. G. abhalten könnten. Es zeige sich ja auch in diesem Gremium, daß wir alle hinter Dr. G. ständen.
Nach einer kurzen Gegenerklärung des Dr. Kobrak, in der er darauf hinwies, daß er auch ein Gremium in seinem Sinne zusammen berufen könne (!), und der Erwiderung des Dr. Goldschmidt, daß das Gremium ja schon vor dem Zwischenfall vom Mittwoch zusammenberufen worden sei, und daß er, Goldschmidt, seine „Diakonen“ zu der Besprechung eingeladen habe, schloß Dr. Stargardt die Diskussion mit den Ausführungen: Der Antrag Dr. Kobrak sei hier abgelehnt, wir wollten es dabei bewenden lassen, daß Dr. Goldschmidt allsonntäglich predige. Unser Herrgott habe ihm die Gnade gegeben, trotz seines Alters — wir hätten ja schon vor längerer Zeit hierselbst seinen 70. Geburtstag gefeiert — körperlich und geistig auf der Höhe zu bleiben. Wenn er einmal, was Gott verhüten möge, durch Krankheit oder sonstwie verhindert sei, am Sonntag zu predigen, sei ja Zeit und Anlaß, einen anderen mit der Leitung unseres Gottesdienstes zu betrauen. Solange er aber gesund sei, solle er wie bisher zu unserer Freude und Erbauung weiter die Gottesdienste leiten und uns das Wort Gottes verkünden. Er schloß mit 1. Korinther 1. 10-13.
Danach wandte sich die Besprechung den anderen Punkten der Tagesordnung zu (Gemeindeabend, Religionsunterricht, Karthotek, Vormundschaft über evangelische Vollwaisen). Um ¾ 8 Uhr wurde die Besprechung beendet. .
gez.: Dr. Stargardt.
An Dr. Hamburger sandte Stargardt das folgende Schreiben:
Theresienstadt, 3. November 1943.
Herrn Dr. Georg Hamburger
Theresienstadt Bahnhofstraße 11.
Sehr geehrter Herr Hamburger!
Ihr wiederholtes Anerbieten, gelegentlich eine Predigt zu übernehmen und regelmäßig Bibelstunden abzuhalten, ist von den Vertretern unserer hiesigen Gemeinde gestern geprüft worden. Als Ergebnis dieser Prüfung teile ich Ihnen im Auftrag von Herrn Dr. Goldschmidt folgendes mit:
1. Es dient sicherlich zur Vertiefung der Kenntnisse der Heiligen Schrift, wenn hier Bibelstunden abgehalten werden. Wir hätten auch längst Ihrer dahingehenden Bitte entsprochen, wenn die Raumfrage dies gestattet hätte. Diese Frage ist auch jetzt noch nicht gelöst. Um aber wenigstens einen Anfang zu machen, so haben wir beschlossen, Ihnen an jedem 2. Gemeindeabend, erstmalig also am Mittwoch, 10. November 1943, in der zweiten Hälfte des Abends, also von 7 Uhr bis 3A8 Uhr, unseren Raum zur Bibelstunde zur Verfügung zu stellen. Wir würden unseren Gemeindeabend dann pünktlich um 7 abends schließen, so daß Sie im Anschluß daran die Bibelstunde gleich beginnen könnten. Wir glauben, daß diese ¾ Stunden an jedem 2. Mittwoch wohl ausreichend sind, und wir würden dann unsererseits nicht ganz auf den wöchentlichen Gemeindeabend zu verzichten brauchen. Es handelt sich, wie nicht besonders betont zu werden braucht, zunächst um einen Versuch, und wir hoffen, daß er zur allseitigen Zufriedenheit sich auswirkt.
2. Was Ihren Wunsch, gelegentlich das Wort als Prediger zu ergreifen, anlangt, so haben wir uns dahin verständigt, von Ihrem freundlichen Anerbieten keinen Gebrauch zu machen.
Wir glauben, daß in der eigenartigen Lage, in der wir uns hier in Theresienstadt befinden, die Einheitlichkeit der Schriftdeutung unter allen Umständen gewahrt werden muß. Ihr Wunsch, gelegentlich einmal hier zu predigen, muß gegenüber diesem Bestreben zurückstehen.
Es würde uns sehr freuen, wenn Sie sich dazu entschließen würden, sich diese unsere Auffassung zu eigen zu machen.
Mit freundlichen Grüßen Ihr
Dr. St.
Damit war die Spannung beseitigt und Hamburger begann mit seinen Bibelstunden. Er las und erklärte noch, vor einem kleinen Kreise, eingehend den Anfang des Markusevangeliums, mußte aber sehr bald wegen Krankheit aufhören. Auch er, ein großer und starker Mensch, ist rasch ein Opfer der Unterernährung geworden, unter der er schwer litt. Seine Schwäche nahm ständig zu, und nach langem Krankenlager starb er an Tuberkulose.
Ich habe ihn oft im Krankenhause aufgesucht. Stets war er mit theologischer Literatur beschäftigt, auch las er das Alte und das Neue Testament in der Ursprache. Die Hoffnung hat ihn nie verlassen, und über seinen Zustand war er sich kaum klar. Ganz kurz vor seinem Ende gab ich ihm das Abendmahl — ich glaube nicht, daß er es als Sterbesakrament ansah —, und die Hingabe dieses schon fast vollendeten Menschen war erschütternd, und ohne Klage, wie ein Gebet, äußerte er, Gott habe ihn verschmäht.
Nach seinem Tode ist, einem Wunsch von ihm entsprechend, die Liturgie so geändert worden, daß das Bekenntnis, statt vor der Predigt, vor dem Schlußgebet gesprochen wurde.
Später wurde der Wunsch, daß auch ein anderer gelegentlich spreche, aus anderen Gründen wieder wach. Es war eine Reihe von protestantischen Holländern, unter ihnen der Pastor Domine Enker, gekommen. Er war 1933 aus Köln nach Holland ausgewandert, hatte Theologie studiert und hatte bereits als ordinierter Geistlicher, zuletzt in dem jüdischen Konzentrationslager, gewirkt. Es war natürlich, daß ihm — schon mit Hinsicht auf seine Landsleute — Gelegenheit zum Predigen gegeben wurde, was er allerdings nur in deutscher Sprache tun durfte.
Zugleich erschien es wünschenswert, daß auch mein Freund Stargardt, der so wesentlich und unermüdlich die Leitung der Gemeinde unterstützte, an der Verkündigung sich beteiligte. Es wurde in der letzten Zeit ein regelmäßiger Turnus für die Predigten eingerichtet. Immerhin hielt ich darauf, daß die Leitung fest in meiner Hand bliebe und die Helfer mir nur mit ihrem Rat zur Seite standen.
Das erschien notwendig, denn gelegentlich regte sich immer wieder das Bestreben, grundsätzliche organisatorische Maßnahmen durchzusetzen, die schließlich zu einer korporativ geleiteten Gemeinschaft geführt hätten, in der persönliches Geltungsbedürfnis und letztenendes auch sektenmäßige Bestrebungen Raum gewonnen hätten. Das mußte im Interesse der allem voranstehenden inneren und äußeren Geschlossenheit der Gemeinde vermieden werden.
So sonderbar es erscheint, in dieser rein kommunistisch aufgezogenen Stadt war — abgesehen natürlich von den Weisungen der SS. — in Wirklichkeit, wenn es darauf ankam, allein der Wille des, Judenältesten“ maßgebend. Das zeigte sich besonders deutlich bei dem letzten Judenältesten, Dr. Murmelstein. Er war, früher ein gelehrter Rabbiner, ein ungewöhnlich kluger, organisatorisch begabter und energischer Mann ohne jede Sentimentalität, eine wirkliche Führernatur, der auch bedenkenlos sich als „Führer“ gerierte. Natürlich war er vielfach angefeindet und nur seine unerfreulichen Seiten wurden in den Vordergrund gestellt.
Eine solche Führung war aber wohl durch die Verhältnisse geboten; denn die Menge, um deren Leitung es sich handelte, war völlig ungleichartig, gewaltsam zusammengetrieben, nur zur allmählichen oder vielleicht ganz plötzlichen Vernichtung bestimmt.
Das Zusammenleben hatte daher nur noch den Sinn, das Leben selbst bis zum Ende in äußerer Ordnung zu führen. Die auseinanderstrebenden Kräfte aber wären, weil die zentrale Kraft eines idealen Sinnes der Gemeinschaft fehlte, übermächtig geworden, wenn nicht eine kräftige Hand das Ganze zusammenhielt.
Nicht unähnliche Gedanken trafen auch bei der Glaubensgemeinschaft zu, und es galt, alle Kräfte auf das Glaubensleben zu sammeln und den zerstreuenden Kräften zu widerstehen.
B) Der Aufbau innerhalb der Katholiken
Im vorher Gesagten ist schon wiederholt auch der katholischen Gemeinde gedacht worden.
Da von den Männern, die sie aufgebaut und geleitet haben, wohl keiner zurückgekehrt ist, wird kaum eine geschlossene Darstellung der Geschichte dieser Gemeinde zu erwarten sein.
Es soll daher versucht werden, sie kurz darzustellen, so gut es einem Außenstehenden möglich ist, der zwar bei dem äußeren Aufbau mit diesen Männern bei gemeinsamen Aufgaben zusammengearbeitet, aber am inneren Leben ihrer Gemeinde nicht teilgenommen hat.
Der Aufbau der katholischen Gemeinde ist in erster Linie dem Ingenieur Gerson und dem Staatsanwalt Dr. Donath zu verdanken. Gerson, aus Deutschland, war in Wien als technischer Lehrer, Donath, Wiener, Sohn eines Obersten, war im Justizministerium beschäftigt gewesen. Beide waren in katholischen Instituten erzogen und hatten weitgehende dogmatische und kirchenrechtliche Kenntnisse. Die Sachlage war für die — zahlenmäßig größere — katholische Gemeinde natürlich eine ganz andere als für die evangelische Gemeinde. Weil ein geweihter Priester fehlte, gab es keine nur einem solchen zukommende Tätigkeit, auch keine Sakramentenspendung, insbesondere konnte weder die Messe gelesen noch Absolution erteilt werden. Die eigentliche Liturgie konnte daher nicht abgehalten werden, man mußte sich auf gemeinschaftliche „Andachten“ beschränken; sie wurden aber so weit ausgestaltet, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war. Besonderer Wert wurde dabei auf den Chorgesang gelegt, für den planmäßig Übungen stattfanden. Die Predigten wurden von Gerson, Donath, dem Prager Ingenieur Chietz und anderen abgehalten.
Neben den Andachten fand einmal wöchentlich eine Christenlehre statt.
Die Seelsorge war in den Händen von Gerson und Donath. Außerdem war man in der Caritas tätig, für die — im Gegensatz zu der evangelischen Gemeinde — bessere Möglichkeiten vorhanden waren, schon weil gelegentlich vom Erzbistum Wien zur Verteilung verwendbare Nahrungsmittelpakete kamen.
Endlich wurden Gemeindeabende veranstaltet und eine Zweiggesellschaft der „Leo-Gesellschaft“ gegründet. Dort wurde eine Reihe von Vorträgen über „Christliche Personen“ und auch allgemein-kultureller Art gehalten. Von evangelischer Seite beteiligte man sich mit einem Vortrag über Luther sowie einem über „Kunst und Religion“.
Besondere Verdienste um die katholische Gemeinde hat sich auch Herr Ruschkewitz, ein junger Kaufmann aus Westfalen, erworben. Er war mit nimmermüder Hingabe und steter Bereitwilligkeit in allen Dingen behilflich und scheute sich — trotz abnehmender Gesundheit — vor keiner Mühe und Anstrengung, übernahm auch — als Gerson und Dr. Donath weggekommen waren — die Leitung der Gemeinde.
Er starb — nach langem Krankenlager — im März 1945 an Tuberkulose; niemals hat ihn die Hoffnung verlassen, und sein starker Glaube hielt ihn bis zum letzten aufrecht.
Zum Schluß lag die Leitung in den Händen von Tierarzt Dr. Drucker, der erst Anfang 1945 aus der Tschechoslowakei gekommen war und daher zu den wenigen gehörte, die gerettet worden sind.
III. DAS GEMEINDELEBEN
1. Der Gottesdienst
Gottesdienst fand regelmäßig am Sonntag und an den Feiertagen um neun Uhr vormittags statt. An den großen Feiertagen wurde zuweilen zweimal — am Vormittag und am Nachmittag — Gottesdienst abgehalten.
Vorher wurde — meistens mit Hilfe einiger Herren der katholischen Gemeinde, deren Andacht sich um elf Uhr anschloß — der Altar hergerichtet, das Kruzifix aufgestellt, das Marienbild in seinem schweren Gestell zurechtgerückt, das Ganze mit Kerzen versehen und mit Blumen, so weit möglich, geschmückt. Nach dem Gottesdienst mußte alles — wegen anderweitiger Benutzung des Raumes — wieder weggeräumt werden.
Die liturgische Gestaltung konnte nur sehr einfach gehalten werden, da bei der geringen Zahl geeigneter Stimmen, die sich für Übungen freihalten konnten, es trotz aller Bemühungen nicht gelang, einen befriedigenden Chor zu bilden. Anfangs fehlte es auch an einem Instrument, bis zunächst eine nicht zur Gemeinde gehörige Berliner Geigerin, Fräulein Fürth — die auch umgekommen ist — freundlicherweise half, nachdem es unter großen Schwierigkeiten gelungen war, für die kurze Zeit des Gottesdienstes eine Geige von der Verwaltung geliehen zu erhalten. Später stand ein Harmonium und zuletzt ein Flügel zur Verfügung. Gelegentlich wurden in die Liturgie musikalische Darbietungen von bedeutenden Künstlern — Gesangs-, Violin- und Klaviersoli — eingefügt.
Die Gottesdienstordnung war folgende:
Nach der Präambel wurde der Eingangschoral gesungen, dann im Chore „Ehre sei Gott in der Höhe“.
Darauf wurde die Epistel verlesen und im Anschluß gemeinsam das Glaubensbekenntnis gesprochen. Sodann wurde das Evangelium gelesen und — nach Singen des Chorals — die Predigt gehalten.
Ihr folgte das Gebet — entweder ein freies oder ein stilles oder eines der Gebete aus der Agende, mit aus der Sachlage sich ergebenden Abänderungen; dabei wurde auch immer Deutschlands und derjenigen Führung gedacht, die zu seiner Rettung berufen sein möge, zwar in völlig verständlicher Form, aber doch mit der gebotenen Vorsicht. Leider erregte das bei den Tschechen Anstoß und veranlaßte einige von ihnen, fernzubleiben.
An dieses Gebet fügte sich das gemeinsam und langsam gesprochene Vaterunser, worauf der Segen erteilt wurde und die Abkündigung erfolgte. Bei ihr wurde der in der Woche verstorbenen Gemeindemitglieder, zuweilen in der Form eines kurzen Nachrufes, gedacht. Es folgte der Schlußchoral.
Vor jeder Feier des Heiligen Abendmahls wurde denjenigen Gemeindegliedern, die nicht daran teilnehmen wollten, Zeit gelassen, sich zu entfernen.
Die Abendmahlsfeier begann mit dem Choral „O Lamm Gottes“. Die Beteiligung am Abendmahl war so stark, daß es nicht möglich war, daß der Leiter der Gemeinde es allein austeilte. Er tat es daher gemeinsam mit Dr. Stargardt. Vor der Austeilung wurde in einer kurzen Ansprache auf die Bedeutung hingewiesen; die Austeilung erfolgte vor dem Altar, am Fuße des Podiums, wo ein kleiner Tisch mit Kruzifix, Bibel, Leuchter und den Geräten aufgestellt war. Bei der Austeilung assistierten zwei Herren, die die Patenen und Kelche nachfüllten. Die Austeilung erfolgte unter dem Gemeindegesang von „O Lamm Gottes“ in der in der Ältesten-Agende vorgeschlagenen Form je an vier zugleich. Jedem Teilnehmer wurde ein Wort aus der Schrift gesagt, das nach Möglichkeit den persönlichen Umständen entsprach, und die Hand gereicht.
Zum Schluß gab der Leiter an Dr. Stargardt und dann dieser dem Leiter das Abendmahl.
Die Feier endete mit Choral.
In den Krankenhäusern und Siechenheimen teilte der Leiter das Abendmahl aus. Es geschah am Krankenbette — zuweilen im Zimmer der Schwestern —. Kruzifix und Lichter wurden auf einem mit weißem Tuch bedeckten Tischchen am Bett aufgestellt; mit dem Kranken wurde vorher kurz über die Bedeutung des Abendmahles gesprochen und das Lied „O Lamm Gottes“ gelesen. Zum Schluß wurde gemeinsam das Vaterunser gebetet.
Die anderen Zimmerinsassen jüdischer Konfession verhielten sich — abgesehen von seltenen Ungehörigkeiten, die schnell durch ein mahnendes Wort abgebogen werden konnten — in andachtsvoller Stille.
Bei Einsegnungen von Toten in der Begräbnishalle wurde Psalm 90; Joh. 11, 25; 1. Kor. 15, 42. 43. verlesen und eine Grabrede gehalten; nach dem Verbot, solche zu halten, wurden wenigstens einige Worte als Nachruf gesprochen. Darauf wurden die Seelen, unter Namensnennung, der Gnade Gottes empfohlen und gemeinsam das Vaterunser gebetet.
Waren gleichzeitig verstorbene Katholiken aufgebahrt, wurde die evangelische Liturgie von dem Tumbagebet umrahmt, das von einem katholischen Herrn gesprochen wurde.
Hatte der Leiter, worum er eine Zeitlang gebeten war, die Feier nur für verstorbene Angehörige der Katholischen Kirche abzuhalten, verlas er die evangelische Liturgie und forderte die anwesenden Katholiken auf, ein Ave Maria zu sprechen.
2. Bibelstunde
Zunächst hat — wie schon erwähnt — Dr. Hamburger in einem kleinen Kreise das Markusevangelium erläutert, was — infolge seiner Erkrankung — auf wenige Abende beschränkt blieb.
Nun mußte der Leiter die Bibelstunde weiterführen. Die Schwierigkeit, als Nichttheologe diese Aufgabe zu lösen, war offenbar. In gewissem Grade wurde sie, wie auch die Predigt, dadurch erleichtert, daß — außer den verschiedenen Übersetzungen und dem griechischen Original des Neuen Testaments — in der umfangreichen jüdischen Bibliothek, die nach Theresienstadt gekommen war, allerlei theologische Literatur war, die — sonst nicht gebraucht — zur dauernden Verfügung stand. So Wernles Einführung in das theologische Studium, Biedermanns Dogmatik, Troeltschs Glaubenslehre, Lehrbücher der praktischen Theologie (besonders Achelis), Harnacks-Mission, Schlatters Geschichte Israels und anderes mehr. Die größere Schwierigkeit lag aber in der Zusammensetzung der Gemeinde, nicht nur — worauf schon hingewiesen ist — daß die verschiedensten, eigentlich alle evangelischen Konfessionen in ihr vertreten waren, sondern daß viele erst als Erwachsene übergetreten waren und daher nur eine sehr unzureichende Kenntnis der Glaubenslehre vorhanden war. Dazu kam die Verschiedenheit der dogmatischen Einstellung; von der Orthodoxie über alle Schattierungen des Liberalismus hinweg bis zu einem rationalistischen, mehr oder minder verschwommenen, Deismus.
Daher erschien die Apostelgeschichte als das für den Anfang geeignetste Thema.
Sie reizte — abgesehen von der fesselnden Darstellung und der oft hinreißenden Gewalt der Menschen- und Ereignisschilderung und der Kunst der Komposition — schon durch ihren kulturhistorischen Inhalt. Es ließ sich auf dieser Grundlage unschwer der wunderbare Weg der Mission von Osten nach Europa als Wirkung der lebendigen Macht der Verkündigung des Pfingstwunders und der Auferstehung nahebringen.
Die Beteiligung war lebhaft — eine sehr große Anzahl der Teilnehmer waren Akademiker, meistens Ärzte. Zum Eingang las einer der Teilnehmer ein Kapitel vor, dazu gab der Leiter eine Erläuterung und versuchte, es in den Zusammenhang des Ganzen zu stellen, woran sich dann eine sehr lebhafte Diskussion schloß.
Leider hat der Kurs nicht zu Ende geführt werden können, da eine erhebliche Zahl der Teilnehmer, vor allem die Akademiker, in Transport kamen, vermutlich zur Vernichtung, und da eine Zeitlang alle religiösen Veranstaltungen, abgesehen vom Gottesdienst selbst, von der SS. verboten waren.
Immerhin war, bei Wiederaufnahme der Bibelstunde, unzweifelhaft, daß bei dem geringen Umfang der vorhandenen Glaubenssubstanz, das Schwergewicht auf die einfachsten Glaubenslehren zu legen sei.
Es sind daher nacheinander, an der Hand des Katechismus, die Zehn Gebote und das Vaterunser eingehend besprochen worden.
Auch hier war die Beteiligung, wenn auch weniger zahlreich, sehr lebhaft, und es entspannen sich manchmal weit ausholende Gespräche, zum Beispiel über die Bedeutung der Zehn Gebote als der Verkündung des Wortes Gottes in bezug auf uralte Kulturnormen, als Grundlage der christlichen Lebensordnung, und über die Bedeutung des Fünften Gebotes in bezug auf die Auffassung der Relativität des Lebenswertes.
Die nach den Umständen schwierigste Aufgabe, die Besprechung des Glaubensbekenntnisses, blieb vorbehalten; zu ihr kam es nicht mehr infolge der Befreiung.
3. Gemeindeabende
Von vornherein machte sich der Wunsch nach einem engeren, verkehrsmäßigen Zusammenschluß der Gemeindeglieder geltend, der so weit ging, daß man sogar eine Zusammenlegung der Christen in gemeinsamen Wohnräumen erhoffte. Auch die Gerüchte, daß die SS. das anordnen wolle, verstummten nicht.
Natürlich konnte dieser Frage gar nicht nähergetreten werden und konnten keine Schritte zur Verwirklichung dieses Wunsches unternommen werden. Es wäre eine unmögliche Zumutung für die Verwaltung gewesen. Denn von der Hitlerschen Ideologie aus waren die Theresienstädter in der politischen Scheinexistenz, die sie, angesichts des planmäßigen Wechsels durch ständigen Abtransport zur Vernichtung in der „geschenkten“ Stadt führten, eine rassenmäßige Einheit, auf der eben die Gewährung dieser Scheinexistenz beruhte. Eine verwaltungsmäßige Sonderbehandlung der Christen wäre daher — abgesehen von der zunehmenden Feindschaft und Bekämpfung des Christentums durch den Nationalsozialismus — gegenüber diesem Grundgedanken geradezu paradox gewesen.
Man mußte dankbar und zufrieden sein, nicht nur daß die jüdische Verwaltung, sondern auch — mehr oder minder stillschweigend — die SS. die Ausübung des christlichen Gottesdienstes duldete; darüber hinaus durfte kein Schritt getan werden, der nicht nur die Verwaltung in Verlegenheit gebracht hätte, sondern bei jener Grundeinstellung die Gefahr in sich barg, daß die SS. womöglich konsequenter Weise zu Eingriffen schritt.
Eine ganz andere Frage war es, wenn es einzelnen Gemeindegliedern gelang, zusammen zu wohnen und sich zu isolieren, wenn etwa eine verhältnismäßig große Anzahl von Christen, insbesondere Gatten von Mischehen, zum selben Transport gehörten und infolgedessen zusammen wohnen durften.
In der Form der Gemeindeabende war immerhin die Möglichkeit eines Zusammenseins gegeben. Allerdings waren die uns zur Verfügung gestellten Räume für die Versammlung unserer Gemeinde ungeeignet. Es war zuerst ein mit Inventar vollgestellter großer Büroraum in einer Kaserne, später ein Kirchenraum, also ein Dachboden mit Bretterbänken.
Die Leitung dieser Abende übernahm bald Dr. Stargardt, und er widmete sich dieser Aufgabe zur Freude aller mit der Schlichtheit und Liebenswürdigkeit, die sein ganzes Wesen durchstrahlte.
Der Abend wurde eingeleitet mit einer Andacht, die oft an einen Spruch der Losungen anknüpfte, und dann folgte ein Vortrag eines Gemeindemitgliedes, zuweilen eines solchen der katholischen Gemeinde. Anfangs beschränkte man sich — um sich etwas näherzukommen — auf Mitteilungen über das eigene Leben, insbesondere über die eigene religiöse Haltung, wenn auch gewiß nicht in Bekennerart.
Von den späteren Vorträgen sei zunächst genannt der über „Die literatur- und geistesgeschichtliche Entwicklung des protestantischen Chorals“. Über „Palästina“ sprach eine Dame, die jahrelang dort als Lehrerin in einer evangelischen Schule gewirkt hatte. Dr. Stargardt trug „Lebenserinnerungen und Begegnungen mit der katholischen Welt“ vor; Fliegererinnerungen aus dem vorigen Kriege erzählte Dr. Engelmann aus Berlin, ein besonders treues, früh bei uns verstorbenes Mitglied der Gemeinde. Professor Hochstetter, ein bekannter Schriftsteller, der, dreiundsiebzig Jahre alt, nach langem Krankenlager gestorben ist und bis zu den letzten Tagen, schon ganz ermattet, noch launige Gedichte schrieb, las Gedichte und Bruchstücke eines in Theresienstadt geschriebenen Romans vor.
Die erblindete, achtzigjährige Geheimrätin Bernstein aus München — unter dem Namen „Ernst Rosner“ die Verfasserin der von Humperdinck vertonten „Königskinder“ und Gegenschwägerin von Gerhart Hauptmann — sprach über ihre Erinnerungen an Liszt und Bülow, denen ihre Eltern und sie sehr nahegestanden hatten.
Der frühere Richter am Reichsfinanzhof, jetziger Oberfinanzpräsident in Nürnberg, Dr. Grabowor, hat einen Vortrag über die Bibel als literarisches Werk gehalten.
Von den katholischen Vorträgen diente der erste, über die „Una Sancta“, dazu, durch die Kenntnis dieser Bestrebungen dem harmonischen Zusammenarbeiten der beiden Gemeinden von vornherein die feste Grundlage zu geben. Einem über die Messe folgte von evangelischer Seite ein solcher über das Abendmahl und über die Lehre von der Rechtfertigung.
Einen unvergeßlichen Eindruck hat ein Vortrag des Feldmarschallleutnants Friedländer hinterlassen. Friedländer, eine Erscheinung, die in ihrer sprühenden Frische und Wiener Liebenswürdigkeit immer noch etwas von dem jungen Kavallerieoffizier an sich hatte, war ein Mann von tiefer Frömmigkeit, außerordentlichier Bildung und überlegener Menschlichkeit, aus dessen Mund nie ein Wort der Bitterkeit oder Verzweiflung kam. Er hatte schon einmal von seinem Offiziersleben und seinen Wiener Erinnerungen gesprochen und nun einen Vortrag über seine Erfahrungen im Feldzug angekündigt. Gerade da kam er — mit einigen anderen höheren Offizieren — „in Transport“, und am Abend des für den Vortrag angesetzten Tages sollte er bis elfeinhalb Uhr mit seinem Gepäckbündel in der Kaserne zur „Durchschleusung“ antreten. Er ließ sich trotzdem den Vortrag nicht nehmen, und die Stimmung in dem öden kalten Kasemattenkeller war angesichts seines und so vieler anderer Schicksale sehr gedrückt, als er kam. Er aber erzählte mit einer Frische, mit einer Lebendigkeit und Anschaulichkeit ohnegleichen von dem, was er in schwersten Kämpfen gesehen und an religiösen Einstellungen erlebt hatte. Er schloß mit einem von ihm verfaßten Mariengebet von größter Innigkeit und Schönheit.
Friedländer hat niemand wiedergesehen.
Gleich darauf wurden die Gemeindeabende von der SS. für längere Zeit verboten; dieser letzte Abend wirkte, auch durch das Gebet, das in vielen Abschriften verbreitet wurde, noch lange nach.
Als die Veranstaltungen wieder erlaubt waren, fanden sie in dem schließlich zur Verfügung gestellten Kinosaal statt.
Diese Abende waren, wenn sie auch die Möglichkeit eines engeren persönlichen Verkehrs nicht boten, doch ein Lichtblick in dem traurigen Einerlei des Tages, und die Dankbarkeit für die Gemütswärme, mit der Dr. Stargardt sie veranstaltete, war eine allgemeine.
Die Predigt
Der letzte Sinn unserer ganzen Gemeindearbeit war die Verkündigung des Wortes Gottes. Mit ihr hatte sie angefangen und in ihr gipfelte sie. Daher darf es wohl unternommen werden, den Versuch der Verkündigung zu schildern; einen Versuch, der von unsicherem Tasten ausgehend, doch allmählich zu einer gewissen Klarheit über den Auftrag führte, unter dem man stand.
Wie war die Lage, in der wir uns fanden?
Wir waren Menschen, die aus ihrem Leben gerissen waren, von allem, was wir liebten, getrennt, von dem Tun, das der Inhalt unseres Lebens war, abgeschnitten, all dessen, was das Leben erleichterte und verschönte, beraubt, in Hunger und Elend gestoßen. Wir waren Deutsche, wir hatten ein Vaterland gehabt. Aber unser Vaterland hatte uns ausgestoßen, uns fried- und rechtlos, „vogelfrei“ gemacht. Das Vaterland war zum Feinde, zur „Ferne“ geworden. Wir lebten als Gefangene, zu Tausenden und Abertausenden zusammengepfercht, und dieses Zusammenleben konnte nur aufrecht erhalten werden dadurch, daß es planmäßig organisiert wurde, daß jeder innerhalb dieser Organisation seinen Platz und seine Arbeit erhielt. Aber die Art dieses Lebens, die ja nur der Aufrechterhaltung dieses Lebens selbst diente, entbehrte jeden höheren Sinnes. Denn unaufhörlich starrte uns das Ende an — sei es, daß man heute oder morgen in Not und Krankheit hinstarb, sei es, daß, heute oder morgen, das uns zum Feind gewordene Vaterland uns tötete.
Der Gedanke an Rettung und Befreiung, der noch dazu, herzbedrückend, den Gedanken an die Niederlage und den Untergang Deutschlands in sich schloß, war wie eine Fata Morgana, wie eine Lichtspiegelung in unerreichbarer Ferne, die nur wenige sahen.
Wer von uns konnte schon mit dem Herrn sagen: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“? Nein, Trauer und Sehnsucht, Resignation oder Verzweiflung mußten das tägliche Brot dieses Lebens sein und bleiben, wenn nicht die Gnade des Herrn leuchtete.
Von der Gnade des Herrn zu sprechen, zu zeigen, daß sie auch uns leuchtete, uns in diesem anscheinend hoffnungslosen Leben, das mußte der Inhalt der Predigt sein. „Der Herr ist treu, er wird euch stärken und bewahren“ (2. Thess. 3, 3) — „Setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade“ (1. Petr. 1, 13) mußten also der Orgelton sein, auf dem die Melodien der Verkündigung des Wortes Gottes erklangen. –
Als Texte für den Gottesdienst wurden grundsätzlich die Perikopen benutzt. Es ergab sich im Laufe der Jahre auf das deutlichste, daß das keineswegs eine zur Wiederholung führende Fessel war, sondern daß der Inhalt immer wieder gegenüber der gegebenen Situation ein völlig neuer war, so als ob man das Wort nie so gehört hätte. Auf diesen Texten, und zwar regelmäßig auf beiden, auf der Epistel und dem Evangelium, baute die Predigt auf, und es war fast rätselhaft, daß eine Verbindung, ein Zusammenhang zwischen ihnen nie gesucht, nie konstruiert zu werden brauchte, sondern sich immer von selbst ergab.
Die Anlage der Predigt war synthetisch, und aus der möglichst zurückhaltenden Exegese ergab sich die thematische Behandlung, sei es aus dem Texte der Epistel, sei es aus dem des Evangeliums derart, daß alle die uns in unserer Bedrücktheit sich aufwerfenden Fragen immer auf Grundlage des Themas erörtert werden konnten.
Eine schriftliche Vorbereitung der Predigt war infolge der äußeren Umstände — keine Schreibgelegenheit, keine Ruhe in dem immer überfüllten Zimmer — ausgeschlossen; die schlaflosen Nächte mußten zum Durchdenken benutzt werden, und wenige Notizen über die auftauchenden Gedanken mußten genügen, um alles übrige der Gnade Gottes zu überlassen.
Die Aufgabe war klar: Es konnte sich nicht um Erbauung und Belehrung handeln, sondern um die Erweckung von Mut aus der Heilsgewißheit im Hinblick auf das Letzte, nicht nur als Selbstverständnis des einzelnen, sondern auch als Grundlage einer christlichen Führung des Lebens untereinander.
Ein solcher Mut war es allein, der angesichts dessen, was hinter uns lag, was der Tag mit sich brachte und was die Zukunft drohte, es möglich machte, das Leben in dieser Welt zu ertragen, in einer Welt, die für uns doch noch nicht zu Ende war. Denn wir standen ja noch in ihr, wir sehnten uns noch nach den Lieben und nach der Heimat, wir wollten nicht hungern und frieren, wir wollten wieder frei werden, und in jeder Seele glühte noch — mehr oder minder stark — die Hoffnung: Trotz allem, es konnte vielleicht doch einmal wieder anders werden, wenn man nur durchhielt!
Es wäre daher sinnlos gewesen, die Predigt rein chiliastisch zu gestalten, diesem menschlichen Hoffen nicht immer und immer wieder neuen Auftrieb zu geben, von dem eigenen Optimismus etwas auf die anderen überstrahlen zu lassen.
Immer wieder kam daher in der Predigt Römer 5, 5: „Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden“ ungesucht zum Klingen und Mitklingen — man konnte, wenn auch in der Form vorsichtig — auf Grund der hereindringenden Gerüchte darauf hinweisen, daß der Krieg verloren sei und die Befreiung noch rechtzeitig vor dem Ende kommen könne, daß die Hoffnung auch auf das Hier nicht lasse zu Schanden werden — kurz, man konnte das Wort diesseits wendend, die verweinten Augen zum Leuchten bringen, und doch dem Worte seinen eigentlichen Sinn lassen: „Wir rühmen uns der Trübsal“. Wir wissen, daß auch das Leiden eine Gnade Gottes ist, daß unter der Gnade auch unser Auftrag steht, wenn wir wieder Deutsche unter Deutschen werden sollten: Unsere Aufgabe ist dann nicht Vergeltung, sondern mit aufzubauen an dem inneren Deutschland, sich auswirken zu lassen, was das Leid uns an geistiger Erhöhung geschenkt hat.
Andererseits kamen, aus den Erlebnissen des Tages heraus, immer wieder — letztlich ganz umfaßt von Matthäus 22, 37-40 — die in so mannigfachen Worten der Schrift enthaltenen Lebensgebote zur Geltung. Es liegt auf der Hand, wie viele Spannungen, Zusammenstöße und äußerst selbstische Regungen dieses unselige, gedrückte und zermürbende Zusammenleben mit sich brachte. Schelten und Schimpfen, Rücksichtslosigkeit, Übervorteilungen waren an der Tagesordnung, und jede Ansammlung von Menschen, wie sie schon beim Essenholen täglich sich ergab, war darum doppelt unerfreulich.
Darum mußte auch die moralische Haltung des Christen ihren Platz in der Predigt haben.
Aber noch ein anderer Gegenstand — ein solcher, der nicht auf das äußere Verhalten, sondern nur auf die innere Einstellung sich bezog — kam für die Predigt in Betracht.
Das Bewußtsein, Christ zu sein, die Vorstellung, zum „Volke Israel“ im christlichen Sinne zu gehören, legte gar zu leicht eine pharisäerhafte Einstellung gegenüber dem Judentum, eine — gerade in diesem Ghettomilieu besonders unangebrachte — Überheblichkeit nahe, die oft nicht einmal verhehlt wurde.
Zur erzieherischen Aufgabe der Predigt gehörte es daher auch, über die religiöse Bedeutung des Judentums aufzuklären, und zwar in der Weise, daß nicht auf Grund liberaler Toleranz, sondern im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Werdegang die immer verspöttelte jüdische Gesetzestreue, die Einstellung Christi zum Gesetz und zu den Pharisäern verständlich gemacht und so versucht wurde, einen tiefen Respekt vor der Aufrechterhaltung der Tradition und vor dem Volke zu erwecken, von dem man gelöst war oder sich zu lösen suchte.
Dieser säkulare und erzieherische Anteil der Predigt trat natürlich ganz zurück hinter dem „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“, kurz, hinter der Verkündigung von der Gnade Gottes und der Heilswahrheit.
Neben den für einen Laien vorhandenen theologischen Schwierigkeiten, die auf der Hand liegen, bot die größte Schwierigkeit, wenn die Predigt sich nicht auf ein bloßes Paraphrasieren des Wortes beschränken sollte, die Zusammensetzung der Gemeinde, auf die bereits hingewiesen ist: Es waren ja nicht nur alle evangelischen Konfessionen, sondern auch alle Stufen der persönlichen Gläubigkeit vertreten. Die Predigt mußte sich einerseits wenden an Menschen, die in rein chiliastischer Einstellung alles Gewicht auf die auf die Gegenwart bezogene Apokalypse legten, an Menschen, die an wörtlichstem Verständnis der Schrift festhielten, an Menschen schlichter Gläubigkeit, andererseits an Menschen, die völlig rationalistisch dachten und bei denen nicht mehr viel übrig blieb als ein bloßer Deismus.
Es galt also den Versuch, gegenüber allen diesen auseinandergehenden und doch durch das gemeinsame Schicksal verbundenen Auffassungen das eine zu bekennen: die Wirklichkeit der Verkündigung. Dazu erschien es in erster Linie notwendig, die eigene dogmatische Einstellung nach Möglichkeit zurücktreten zu lassen, sich selbst „einzuklammern“, wenn vermieden werden sollte, Widersprüche zu erregen und vom Wort Gottes selbst abzulenken.
Es blieb daher nur möglich, von der Transparenz des Dogmas auszugehen und darauf sich zu stützen, daß das Wort Gottes so wirklich, so gewaltig sei, daß der Verstand aller Zeiten und jedes einzelnen sich daran abmühen möge und es bliebe doch als Wirklichkeit die Verkündigung: „Das Wort sie sollen lassen stehn.“
Mit anderen Worten, die Predigt mußte sich allein auf das Evangelium stellen.
Wie im einzelnen versucht wurde, das zu gestalten, läßt sich nicht mehr darstellen.
Ob und wie weit dieser Versuch gelungen ist? Ein Zeichen dafür, daß es in gewissem Grade vielleicht der Fall war, mag der große Besuch der Predigt sein und die geschlossene Haltung der Gemeinde all die Zeit des bitteren Leides und des Endes so vieler, bis zur Stunde, da die Gemeinde — im Juni 1945 — nach einem letzten Dankgottesdienst sich auflöste und die wenigen am Leben Gebliebenen befreit allmählich wieder in die Welt zurückkehren konnten.
Quelle: Arthur Goldschmidt, Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942-1945 (= Das christliche Deutschland 1933 bis 1945. H. 7), Tübingen: Furche-Verlag, 1948.
[1] Der zitierte Artikel 67 findet sich nicht in Luthers Schmalkaldischen Artikeln, sondern in Melanchthons Traktat über die Gewalt und den Primat des Papstes (De potestate et primatu papae tractatus)“, den dieser 1537 für den Bundestag des Schmalkaldischen Bundes verfasst hatte. Durch seine Aufnahme in das Konkordienbuch 1580 gilt er als offizielle lutherische Bekenntnisschrift. [Jochen Teuffel]
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