Gott selbst. Aus einem Brief an Ilse Gräfin von Kanitz
Von Hans Joachim Iwand
Gott aber lässt sich eben keinem, auch nicht dem besten Zwecke unterordnen, er will selbst das Ziel aller Wege und der Zweck aller Zwecke sein. Und dies eben, die Leidenschaft, Gott Gott sein zu lassen, auch da, wo er uns zerbricht und andere Wege geht als unsere Wege sind (Jes 55,8), die fehlt bei uns hier im Westen. O, wir haben einen westlichen, einen abendländischen Kulturgott aus ihm gemacht – und das ist es, was ich nicht mehr ertragen kann. Das kennt man im Mittelalter noch nicht. Thomas, Bonaventura, Anselm, sie alle meinen wirklich Gott. Ihn selbst. Ihnen allen geht es noch um die Wahrheit. Coûte que coûte. Ohne diesen Einsatz kann man aber die Wahrheit auch nicht erkennen. Man muß schon mit einem mächtigen Flügelschlage über alles, was ist, sich hinausheben lassen, um ihr zu begegnen und sich von ihr frei machen zu lassen (Joh 8,32). Wer anderes mehr lieb hat als mich, der ist mein nicht wert (Mt 10,37)! Das sagt die Wahrheit. Und nun stoße ich überall, wohin ich nur gucke, was ich lese, höre, empfinde rings um mich her, auf lauter Kleben am Bestehenden, an dem, was ist, als ob dies bleibend, beständig, als ob dies der Halt unseres Geistes sein könnte. Meiner kann er nicht sein! Nur im Aufnehmen und Verwandeln können wir uns mit dem Bestehenden befassen, es immer neu bildend, umbildend und uns angleichend, aber nie auf ihm ruhend. So ruhen tote und stinkende Fische am Strande, aber ihr Element ist das nicht und nur das Tote strömt diesen Geruch aus. Aber wer spürt das denn? Sie sind ja alle so zufrieden. Sie rochen ja auch im Dritten Reich nichts von dem Pestgeruch, der über die Gefilde ging. Und dieser Instinkt des Lebendigen, des Gesunden, des Freien und wirklich Guten – der scheint uns ganz abhanden gekommen. (An Gräfin Kanitz, 22.9.1956)
Quelle: Jürgen Seim, Hans Joachim Iwand. Eine Biographie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 21999, S. 512.