Über die Sitz(un)ordnung in der Kirche
Eine versessene Gesellschaft sind wir – im wahrsten Sinne des Wortes, und das auch in der Kirche, obwohl in den Evangelien für die Zuhörer Jesu kein Sitzen vorgesehen ist. Nun haben wir das letzte Abendmahl – so wie es uns ja Leonardo da Vinci vorgemalt hat – vor Augen, wo die zwölf Jünger gemeinsam mit Jesus am Tisch sitzen. Und dann lesen wir passend in den synoptischen Evangelien, dass sich Jesus mit seinen Jüngern zu Tische gesetzt habe (Matth. 26,20; vgl. Mk 14,18 bzw. Lk 22,14 sowie Lk 24,30 in Emmaus). Doch damit gehen wir Martin Luthers akkommodierender Übersetzung auf den Leim, der entgegen dem griechischen Text bzw. der lateinischen Vulgata aus einem Zum-Essen-Liegen ein Zu-Tisch-Sitzen gemacht hat. Der Raum, in dem Jesus das Passamahl einnimmt, ist mit Polstern zum Liegen ausgestattet (Mk 14,15 par Lk 22,12; vgl. Bauer-Aland, Wörterbuch zum NT, Sp. 1539). Dementsprechend heißt es im Evangelium nach Johannes vom namenlosen Lieblingsjünger, dass er beim Essen an der Brust bzw. Seite Jesu lag bzw. lehnte (Joh 13,23.25). Interessanterweise sind sich sowohl die revidierte Luther-Bibel von 2017 wie auch die revidierte Zürcher Bibel von 2007 im „Zu-Tisch-Sitzen“ einig, während die katholische Einheitsübersetzung zurecht von einem Gelage spricht.
So wie Jesus die 5000 zur Speisung hat niederlegen lassen (Mk 6,39; Mt 14,19; Lk 9,14), werden sich auch die Fremdstämmigen im Reich Gottes zum messianischen Mahl niederlegen (Lk 13,29; Mt 8,11). Von Essstühlen ist im Neuen Testament keine Rede, nur von Lehr- bzw. Verkaufssitzen (kathédra) sowie von Thronen (thrónos). Ebenso bleiben im griechischen Urtext bezüglich des Essens Tische (trápeza), die bei einem Essensgelage einzeln zu jedem Liegepolster (klínē) beigestellt werden, in der Regel unerwähnt (Ausnahmen: Mk 7,28 par Mt 15,27; Lk 16,21; 22,30; 1Kor 10,21; Apg 6,2; 16,34).

Eine bestuhlte Sitzordnung an einem häuslichen (Ess-)Tisch ist erst seit Mitte des 15. Jahrhunderts in Europa gängig. Und erst ab dem 16. Jahrhundert wurden vorzugsweise in protestantischen Kirchengebäude die Sitzbänke im Kirchenschiff errichtet. Dafür waren nicht nur lange Lehrpredigten, die sich nicht durchstehen ließen, ausschlaggebend, sondern auch finanzielle Gründe, konnte man doch das Kirchengestühl jeweils einzeln an Gemeindeglieder bzw. Familien jahresweise vermieten. Und schließlich wollte man ja auch eine Gleichstellung, genauer gesagt eine „Gleichsitzung“ von Gemeinde und Pfarrern bzw. Predigern im Sinne eines Priestertums aller Gläubigen vornehmen, hatte doch seit dem Mittelalter der amtierende Klerus im Chorraum eigene Sedilien, also Sitzmöglichkeiten.
In der orthodoxen Liturgie wird in der Regel immer noch gestanden. Und auch die katholische Messe lässt von der Eröffnung her erkennen, dass der Gottesdienst im Stehen vollzogen wird und das Sitzen anlassbezogen zwischendurch geschieht. Im evangelischen Gottesdienst hingegen nimmt man als „Homo sedens“ (Hajo Eickhoff) seinen Sitzplatz ein und wird gebetsweise zum Aufstehen aufgefordert. Je mehr ein Sitzen vorherrschend ist, desto mühsamer und unverständlicher wird ein Aufstehen.
Dazu passt Friedrich Nietzsches Ermahnung aus Ecce Homo: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung – in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorteile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – ich sagte es schon einmal – die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.“ (Werke in drei Bänden, München 1954, Band 2, S. 1083f.)
Aufschlussreich ist, was Hajo Eickhoff über die Kulturgeschichte des Sitzens zu schreiben weiß.
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