Dietrich Ritschl, Gott wohnt in der Zeit. Auf der Suche nach dem verlorenen Gott (1986): „Es bleibt uns noch das Hineinschlüpfen in die enge Geschichte von Abraham bis heute, die zugleich die Weite und Freiheit der Trinität ist: Drin-Stehen und Teilnehmen an der Geschichte und am Tun des jüdischen Gottes und seines Gleichnisses von Nazareth, bewegt in unserem Geist von seinem Geist.“

Gott wohnt in der Zeit. Auf der Suche nach dem verlorenen Gott

Von Dietrich Ritschl

Die »Suche nach dem verlorenen Gott« bestimmte den Themenbereich 1 beim Düsseldorfer Kirchentag 1985. Mein Vortrag zu diesem Thema ist hier um rhetorische Fragen und einige situationsbestimmte Bemerkungen gekürzt und mit Anmerkungen versehen. Ich habe allen Anlaß, in dieser Festschrift etwas zur Gottes- und Trinitätslehre zu sagen, weil Jürgen Molt­mann über meinen Aufsatz zu seinem Buch »Trinität und Reich Gottes« (in EvTh 5/1981, 463-471) wenig glücklich gewesen war. Er hat daraus meine »Sympathie nicht nur mit der Grundtendenz, sondern auch mit der Hauptthese« – wie ich damals sagte – nicht so stark herausgelesen wie die Kritiken an seinen Argumentationsgängen. So will ich hier nicht eine akademische Diskussion entfachen oder weiterführen, sondern einen auf eine sehr breite Hörerschaft gemünzten Text zur Gottes- und Trinitätsfrage vorlegen, bei dessen Abfassung ich in jeder wichtigen Entscheidung dankbar an das dachte, was ich über viele Jahre von Jür­gen Moltmann gelernt habe.

Dem Vortrag beim Kirchentag folgte eine Diskussion, die sich bis heute in Briefen aller Art fortsetzt. Leider kann ich die Inhalte dieser Diskussion nur ganz andeutungsweise in den Anmerkungen wiedergeben.

Bei den Angelsachsen – bei denen ich zwanzig Jahre lang lebte – habe ich gelernt, daß man einen Vortrag entweder mit einer guten, möglichst witzigen Geschichte oder mit der unverblümten Summierung der Fragen und Thesen, die im Vortrag ausgebreitet werden, beginnen soll. Ich wähle die zweite Me­thode und fasse meine Fragen und Thesen über den verlorenen Gott wie folgt zusammen:

1. Gott hätte nie in der Weise Gegenstand des Intellekts werden sollen, wie er es in unserer zweitausendjährigen Geschichte tatsächlich geworden ist. Ja, mehr noch, er hätte nie in der Weise mit Ordnung, Regeln, Naturgesetzen, mit Ordentlichkeit, mit Gesundheit und Normalität naiv parallel gesetzt wer­den sollen, wie dies tatsächlich geschehen ist. Was aber hätte geschehen sollen anstelle dieses Gefängnisses, das ihm bereitet wurde und in dem er uns abhan­den gekommen ist?

2. Man hat immer dazu geneigt, sich Gott räumlich vorzustellen. Hätte man nicht besser zeitlich von ihm reden sollen? Hätten wir die Bibel richtig gelesen, so hätten wir das vielleicht lernen können, wer weiß? Denkt man räumlich von ihm, so gibt es drei Gottesbilder, von denen mir das erste sehr fremd, das zweite sehr lieb und das dritte sehr erstrebenswert vorkommt:

  • Er ist wie ein General, der seine Truppen sieht, obgleich sie ihn nicht oder selten sehen. Er befiehlt, sie gehorchen. Bei ihm laufen alle Fäden zusam­men. Er ist der große, männliche Herrscher, der Chef, der Manager, der den Überblick hat und für alles zeichnet. Er ist distanziert.
  • Gott ist wie eine Mutter, wie ein gütiger Vater. Er beugt sich zu seinen Kin­dern hinab, er lehrt Israel das Laufen wie einem Kind (Hos. 11), er stellt sich auf unsere Seite, leidet mit uns, vergibt uns. Gott ist nahe wie eine Mutter, wie ein Vater.
  • Gott ist wie ein Mutterleib, wir sind wie das Embryo in Gott getragen, ge­schützt, von Gott umgeben. Und wenn wir an das Ende der Erde gingen oder in die Unterwelt, so wäre Gott da (Ps. 139). Wir sind in Gott, nicht er in uns.

Dies sind alles räumliche Vorstellungen. Ich sagte es schon: die erste ist mir sehr fern, die zweite sehr lieb, die dritte möchte ich erlernen. Alle drei kom­men in der Bibel vor, darüber besteht kein Zweifel. Es stehen eben fremde, liebe und auch erlebenswerte Dinge in der Bibel. Und übrigens, wer sagt uns, daß die Leute, die sie geschrieben haben, sich zu ihrer Zeit nicht auch über Gott getäuscht haben?

3. Wenn wir Gott verloren haben, so hängt das aufs Tiefste mit unserer Be­ziehung zu unseren Eltern zusammen, zu unserer Mutter und unserem Vater. Ich werde harte Dinge darüber sagen und zwar aus der Erfahrung meines zweiten Berufes, der analytischen Psychotherapie.

4. Zum Schluß werde ich eine These aufstellen, die mein Nachdenken – oder: mein Nachfühlen – über Gott seit vielen Jahren bestimmt. Ich werde sa­gen: Wenn man überhaupt wieder lernen könnte, zu Gott zu reden und von ihm her, und – vielleicht als Ausnahme – auch einmal über ihn, dann kann das nur geschehen, wenn man sich in die Story hineinfallen läßt, die von Abraham über Jesus bis zu uns hin reicht. Ich kann auch sagen: hineinschlüpfen in diese Geschichte, in diese Story hineinschlüpfen, ihn ganz und gar nicht außerhalb dieser Story suchen, nur in der Solidarität mit denen, die auch durch diese Ge­schichte geprägt, gefordert, beglückt, beschenkt und wohl auch beengt sind und in ihr leiden, aber eben nur in ihr Gott suchen können. Und ich werde sogar sagen: nur, wenn wir die Geschichte Israels mit Jesus und mit der Ge­schichte der Kirche – schändlich und schön wie sie ist – zu verknüpfen wissen, nur, wenn wir diese Trinität sehen: Gott in Israel, in Jesus und im Geist bei uns, nur dann können wir ihn wieder finden. Wir haben ihn verloren, weil wir diese Trinität verloren haben.[1] So schlicht und so einfach ist das, meine ich.

Nun will ich diese Thesen und Fragen zu erklären versuchen. Dabei soll die Theologie nicht so sehr Richtiges von Falschem trennen, als vielmehr dazu helfen, Hilfreiches von weniger Hilfreichem zu unterscheiden.[2]

1. Gott und die Ordnung

Unser Intellekt ist auf Ordnung aus, und das ist gut so. Ich selber vertraue in politischen und psychologischen Fragen sehr der Macht der menschlichen Ra­tionalität. Ich wünschte, es wäre mehr Rationalität in der Welt. Ich wünschte, die Politiker wären schlauer als ich, ich fürchte, sie sind es nicht. Denken ist sehr gut, sehr notwendig; scharfes, kritisches, unvoreingenommenes, enga­giertes Denken. Aber Gott sollte nicht einfach Gegenstand des Denkens sein. Er sollte doch vorher schon, im Vorrationalen, daheim sein, am Platze sein, seine Wirkung haben! Er sollte mein Herz füllen, meine Sehnsucht ausma­chen, meine Gefühle und Hoffnungen bestimmen. Uber ihn nachdenken, gut, das will ich dann auch, aber nur sekundär, so wie über die Liebe meiner Frau, meiner Kinder, meiner Freunde. Hinterher will ich verstehend denken, wie es ist mit der Liebe, mit dem Leben, mit Gott.

Aber Gott ist ganz ins Gefängnis der Gedanken geraten und ist uns darum abhanden gekommen. Denn Gedanken, so meine ich, sind austauschbar, wenn sie nicht nachvollziehend sind, wenn sie nicht einem Lebendigen auf der Spur sind, das schon vorher da war, bevor ich zu denken begonnen habe.

Sinnlos ist es gewiß, Klagelieder über die neue Zeit und gar erst über die neue Wissenschaft anzustimmen. Die neue Wissenschaft ist viel besser als die alte. Aber doch muß ich eine scharfe Kritik anmelden: die sog. Kopernikanische Wende war so sehr eine Wende eigentlich nicht. Immer noch dachte man – auch später noch Kepler und Isaak Newton – die Welt bestünde aus Festem und Beweglichem, aus Geordnetem und Unordentlichem, aus Ordnung und Chaos. Der fatale, alte Dualismus war durch die Wende des Kopernikus über­haupt nicht gewendet. Und, schlimmer noch: Gott blieb in den Gedanken der Menschen, besonders der frommen Menschen, immer auf der Seite der Ord­nung.[3]

Ist es nicht bis heute so geblieben, vorausgesetzt, man redet überhaupt noch von Gott? Das Chaos der entsetzlichen Überschwemmungen von Bangladesh 1985, dem Zehntausende zum Opfer fielen, das kann doch nicht der Ort sein, wo Gott ist! Und das Morden im Libanon, in Afghanistan, der Hungertod in Äthiopien, das Foltern im Mittleren Osten und in Lateinamerika, die Arbeits­losen bei uns, die kaputten Ehen – eine von drei mindestens! -, die seelisch Verkrüppelten und die psychisch Kranken, die Mutter, die am Krebs von den Kindern wegstirbt: diese Unordnung kann doch nicht die Heimat Gottes sein! Also geben wir ihm bei uns kein Heimatrecht mehr. Das ist auch gut und ehr­lich. Gott ist eigentlich gar nicht verloren. Er ist eher ausgeschlossen, sozusa­gen aus Ehrlichkeit weggedacht. Der Gott der Ordnung und strahlenden Ge­sundheit paßt schlecht in unsere Situation.

Nun hat aber Isaak Newton am Ende seines Lebens angeblich den Gedan­ken erwogen, das könnte vielleicht alles gar nicht stimmen. Die Ordnung wäre vielleicht gar nicht das Normale, eher die Ausnahme. Er scheute sich, dies zu veröffentlichen – er war ja ein braver Sohn seiner Kirche. Aber er hat es gedacht, und hat es aufgeschrieben. Vielleicht ist die geregelte Bahn der Planeten um die Sonne eine wunderbare Ausnahme, vielleicht ist das Ausein­anderrasen der Sternnebel in völliger Unordnung das Normale. Vielleicht se­hen wir nur von unserer Ökonische her, die uns das Überleben erlaubt, die Dinge einseitig, nämlich zu viel Ordnung und daher einen falschen statisti­schen Durchschnitt. Vielleicht ist die Unordnung das Normale. Vielleicht sind glückliche Kinder die Ausnahme; gesunde Körper und Seelen, die bis zum hohen Alter durchhalten, auch die Ausnahme; glückliche Ehen sind es si­cher, und sehen Sie doch die Menschen auf der Straße und auf dem Bahnhof an: glückliche Gesichter gewiß auch. Sind nicht viele unserer Mitmenschen ir­gendwie schon »tot«: keine Veränderung mehr, keine neuen Gedanken über sich und über andere? Das ist vielleicht das Normale. Schrecklich, aber ich will es jetzt denken: vielleicht ist Abstumpfung und Fantasielosigkeit die Norm, Haß die Norm und Friede die Ausnahme. Wer weiß?

Nur, auf welche Seite gehört Gott? Die naturwissenschaftlich Geschulten unter Ihnen mögen jetzt vielleicht sagen, die Unterscheidung von Ordnung und Chaos sei heute nicht mehr haltbar. Das glaube ich auch. Heute denkt man eher über Felder statistischer Dichte von Abwesenheit von Unordnung und also von Anwesenheit von relativer Ordnung und Geregeltheit. Das ist wahr, aber es ist nur ein gradueller Unterschied, der immerhin die alte, zwei­geteilte Weitsicht überwindet, die uns so lange tyrannisiert hat. Die Frage bleibt jedoch immer noch: wollen wir weiter über Gott als über das Bild und den Garanten der Ordnung denken? Gehen Gott und die Welt nicht vielmehr auf eine neue Ordnung zu, eine neue Schöpfung, wo wilde Tiere und Lämmer miteinander spielen und Wasser und Feuer keine Feinde mehr sind?

In der medizinischen Ethik, die eines meiner Arbeitsgebiete ist, denke ich manchmal: gehört Gott denn so einfach auf die Seite der Gesunden, der Star­ken? Ist dies nicht eher das Modell, das aus Athen, von den Griechen kommt: der starke, konkurrenzfähige Mensch, gleich imponierend auf dem Sportplatz wie in der Akademie, ebenmäßig und schön gebaut wie eine griechische Mar­morstatue, ein schöner Mensch, Mann oder Frau, von etwa dreißig Jahren, makellos, voll verwirklicht in allen Potenzen? Steht dem gegenüber nicht das andere Modell – ich nenne es gerne Jerusalem-Modell – wo der kaputte Mensch der Geliebte ist, der kleine David und nicht der große Goliath, der arme Jesus und nicht der vollmächtige Pilatus?

Wir haben Gott in die gedankliche Zange der sichtbaren Ordnungen ge­nommen, der Natur- und der Gesellschaftsordnungen, und wir haben ihn darum auch verloren. Diesen Gott jedenfalls haben wir verloren. Ich will die­sen Ordnungsgott auch verloren gehen lassen, wiewohl mir Ordnung als sol­che kein Schimpfwort ist und ich sie zum Leben mit meinen Mitmenschen si­cher brauche. Aber ich sehe zu viel Unordnung und Elend, um mit einem Gott weiterleben zu wollen, der auf der Seite der Ordnung ist. Schon das, was ich bei Tieren und Pflanzen zu beobachten meine, verbietet einen solchen Ge­danken: Herrscht nicht dort schreckliches Leiden, furchtbare Schmerzen, die Großen fressen die Kleinen, die Starken erdrücken die Schwachen, und dies seit Jahrmillionen, schon lange, bevor der Mensch so übel in die Natur ein­griff? Große Leiden – mitten in dem, was wir naturwissenschaftlich »Ord­nung« zu nennen meinen![4] Ich meine, Gott sei dort nicht festzumachen. Ich meine, Gott sei im ordentlichen, im alten klassisch-physikalischen Sinn, im Sinn von Ursache und Wirkung, nicht allmächtig. Im Sinn der neuen Schöp­fung, seines neuen Rechts und Friedens ist er auf dem Weg zur Allmacht.[5]Aber wir sehen sie erst in der Hoffnung.

2. Der verlorene räumliche Gott

Der räumliche Gott ist auch ein Gott der Kausalzusammenhänge. Er kann kaum anders gedacht werden als der, der die Dinge passieren läßt. Jedenfalls nach dem ersten Modell, dem »Generals-Modell«, das ich anfangs beschrieb, muß er ja der sein, der alles wirkt und für alles verantwortlich gemacht werden kann.

Ich sage aber bei Beerdigungen, die ich im Verwandten- und Bekannten­kreis leider oft zu halten habe – schon lange nicht mehr: »Gott hat unseren Bruder/unsere Schwester von uns abberufen …« – weil ich es von Herzen nicht mehr glaube. Zu viele Menschen schon habe ich beerdigt, von denen ich – vom Evangelium her geurteilt – sagen muß: die sind gegen Gottes Willen ge­storben oder vom Auto getötet worden![6] Und, wer bin schon ich als Beerdiger und Interpret eines Todes im Angesicht von Millionen von Ermordeten, Ver­gasten und Verhungerten, die niemand beerdigt hat, denen niemand eine in­terpretative Rede hielt, wo überhaupt niemand war, der über sie nachdachte, als sie verendeten, außer vielleicht Gott allein!

Es ist wie ein Zwang: wenn man räumlich über Gott denkt, kommen Vek­toren, Energien und Kausalitätsvorstellungen in den Sinn, von denen man nicht mehr lassen kann. Sie steuern meist auf das Generals-Modell zu, auf den Feldherrn oder allgewaltigen Manager. Es laufen dann alle Fäden bei ihm zu­sammen. Er ist der Beobachter und Abwartende, der strenge Erzieher, der uns zwingt, alles umzuinterpretieren: Leiden in verstecktes Glück, Tod in vermeintlichen Sinn, Diffamierung und Unterdrückung in gottgeplantes und – gewolltes pädagogisches Planen – ein Satan-Gott, wirklich! Ein Gott zum Hassen. Oft sind die Gläubigen wirklich so unterwürfig gewesen, daß sie be­reit waren, alles umzuinterpretieren, das Leid, den Tod, den totalen Sinnver­lust, die Liebe Gottes – alles waren sie bereit, umzuinterpretieren, solange sie ihr Generalsbild von Gott aufrechterhalten konnten, die abstrakte Idee von seiner Allmacht.

Gut, daß vielen von uns dieser Gott verloren gegangen ist. Man kann frei­lich im räumlichen Denken auch an Gott als Mutter, als gütigen Vater denken. Darin liegt ein großer Reichtum, auch eine echte Dankbarkeit und Demut. Es gibt herrliche Bibelstellen, vor allem in der hebräischen Bibel, die diesen güti­gen, sich herabneigenden Gott preisen. Und das Neue Testament sieht in die­sen Gottesbildern zu Recht die Ankündigung der Demut Gottes in seiner So­lidarität mit dem geschändeten Jesus am Kreuz. Nichts, aber auch gar nichts gegen dieses räumliche Gottesbild! Nur fürchte ich, daß es auch vielen nichts oder wenig sagt. Wieso? Weil sie keine gnädigen Mütter und keine gütigen Vä­ter erlebt haben – erlebt haben, sage ich. Vielleicht waren ihre Eltern anders, als sie sie erlebten, aber auf das Erleben kommt es an. Uber ein Erleben kann ich mit Ihnen nicht rechten, erst recht nicht über das Ausbleiben eines Erle­bens.

Und dann das dritte Modell, das ich eingangs nannte: Gott wie ein Mutter­leib, der das Embryo birgt? Zu schön, um je voll ausgeschöpft und akzeptiert zu werden, mag man sagen. In der Psychotherapiesitzung sagte mir neulich ei­ner nach vielen Monaten, in denen wir nie von Gott gesprochen hatten, als dieses Modell einfach einmal auftauchte: »Ach nein, das sagt mir auch nichts, wirklich, das sagt mir gar nichts«. Er hatte von seinen Eltern nie Urvertrauen gelernt, besinnt sich nicht, daß die Mutter ihn je geküßt und geherzt hat. So viel liegt an der Erfahrung der Eltern. Aber es ist ein wunderbares Modell. Die auf der Mauer sitzenden Philosophen, die uns Christen überhören, mögen sa­gen: Wissen Sie nicht, daß dies das alte Modell des Pan­entheismus ist? Und ich würde zu ihnen fröhlich hinüberwinken und ihnen zurufen: Denken Sie, das habe ich auch schon gemerkt, und die Etikette stört mich kein bißchen, wenn Sie Geduld haben zuzuhören, lese ich Ihnen den Psalm 139 vor, in dem genau dies drin steht! Aber eben, es gibt solche, denen das nichts sagt, aber auch gar nichts. Keine Geborgenheit in Gott, überhaupt kein Urvertrauen, nur Fremdheit, Alleingelassensein, Sinnlosigkeit … und wer bin ich, zu sagen, diese Haltung sei nicht echt und typisch und wirklich menschlich?

Wie soll man denn räumlich über Gott denken und fühlen, wenn das Räumliche so viele Schwierigkeiten bietet? Zeitlich, meine ich.[7] Die Zeit, die ist Gottes Heimat, Gottes Raum, Gottes Dimension. Er ist vor uns und nach uns, das ist ungemein, nein, ungeheuer wichtig. Zeit – man denke nur – wieviele Dimensionen sie hat: Uhrzeit, Kalender-Zeit, Kinder-Zeit, Erwachsen­enzeit, Zeit des Alters, Freizeit, Zeit des Todes, Zeit der Erinnerung; Zeit un­serer politischen Vergangenheit, unserer persönlichen Geschichte, Zeit unse­rer Zukunft, Zeit der Vergebung und der Hoffnung. Manchmal denke ich: »Hoffen in die Vergangenheit« hinein, das ist Vergebung, d. h., daß nicht alles aus der Vergangenheit meine Zukunft kaputt macht; und »Erinnerung in die Zukunft«, das ist Hoffnung auf die Verheißung Gottes, daß er dann auch noch da sein wird. Mir ist das wichtig, weil ich überhaupt zu den Menschen gehöre, die glauben, Gott sei eher in der Erinnerung und in der Hoffnung da, als jetzt im greifbaren Augenblick.[8]

Aber vielleicht ist außer dem räumlichen Gott auch der zeitliche abhanden gekommen. Das müßte seine Gründe haben, über die ich jetzt drittens einiges sagen muß.

3. Die Trennung von Mutter und Vater

Das ist doch etwas ganz Selbstverständliches, sagen Sie. Ja natürlich, das ist schon so. Aber es ist auch der Ort, wo ganz selbstverständlich lebenslange Probleme ihren Ursprung erhalten. Die Trennung vom Mutterleib in der Ge­burt ist unser gewichtigstes Erlebnis: Das physisch bedingte Ende der Gebor­genheit, der automatischen Ernährung durch einen anderen Menschen, das Freigelassenwerden in die kalte Welt, die Individuation, wie man das so nennt. Ich muß hier keine Vorlesung halten über die richtigen Erlebnisse und Leistungen, die jedes Baby zwischen der Geburt und etwa dem 2. Lebensjahr verarbeiten und erbringen muß, noch muß ich sagen, welche späteren Schäden entstehen, wenn in dieser Zeit nicht alles gut und balanciert abläuft. Es sind ja auch keineswegs nur diese ersten zwei Jahre wichtig, von ganz besonderer Be­deutung sind auch die darauffolgenden Jahre, wenn das Kind seine Ge­schlechtlichkeit entdeckt und zum gegengeschlechtlichen Elternteil eine an­dere Beziehung entwickelt als zum gleichgeschlechtlichen, wenn also das be­rühmte Dreieck sein großes Gewicht erhält. Und nicht nur dies ist von Bedeu­tung: erst recht auch die späteren Jahre, wenn alles darauf ankommt, ob die Eltern dem Kind in Vorpubertät und Entwicklungsjahren und danach nicht Schäden zufügen – meist unwissend – und unter welche Einflüsse ein junger Erwachsener/ eine junge Erwachsene gerät, wenn äußerlich die Trennung von den Eltern vollzogen ist. Innerlich kann man sich nie von seinen Eltern ab­trennen, sie bleiben immer unsere Eltern, auch über ihren Tod hinaus. Dar­über sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Und gerade hieran hängt das Erlebnis des verlorenen Gottes!

Ich muß hier persönliche Beobachtungen einbringen. Die Entwicklung un­serer eigenen vier Kinder und die Kontakte mit Studenten in Amerika, Au­stralien und hier in den letzten Jahren haben mir den Eindruck vermittelt, daß es für die Jungen, nicht nur für uns Altere, immer schwerer wird, einen leben­digen Glauben an Gott zu haben. Gott ist immer weniger nötig geworden. Die Väter sind gleichzeitig immer milder und schwächer, und die Mütter im­mer geduldiger und werbender geworden. Die Jungen haben auf diese insge­samt ähnliche Grundhaltung – es ist ja eine kulturell und nicht eine familiär be­dingte Haltung – natürlich unterschiedlich reagiert. Die einen mit frustrierten Aggressionen gegen die Väter und gegen jegliche Autorität, die anderen mit Sehnsucht nach fortgesetzter Geborgenheit, eine Geborgenheit, die sie oft in der Gruppe gefunden haben, die ihnen das – wie man früher sagte – Erwach­senwerden zeitlich hinausschieben half. Gewiß, dies alles hat auch seine schö­nen und guten Seiten. Wer würde sich heute schon nach den Zeiten zurück­sehnen, als Zwanzigjährige wie Vierzigjährige gekleidet waren und sich von ihrer Jugend abzusetzen versuchten? Aber es liegt bei den jungen Erwachse­nen auch eine depressive Grundhaltung in der Luft: Viele können und wollen nicht allein sein, können dem Tag kein Ende setzen, wollen den nächsten Tag spät beginnen und manche, noch mutloser, wollen erst recht allein sein, scheuen sich, Bindungen überhaupt einzugehen. Wozu auch sich binden? Wozu auch den nächsten Tag? Angst vor Vätern gibt es zwar kaum mehr, auch keine Angst vor Gott. Um so mehr aber Angst vor der Zukunft. Nicht: wie werden wir es schaffen, was werden wir leisten? Sondern: wie werden wir überleben, und nicht nur wir, sondern die Armen und Unterdrückten, zu denen wir gehören, gehören wollen. Da sitzt die Angst. Einer sagte mir neu­lich, am Ende seines Studiums: »Wenn ich nicht verstrahlt bin in einigen Jah­ren, dann will ich vielleicht auch mal heiraten.« Er ist nicht gewiß, ob er je eine Familie, eine Zukunft haben wird.

Wenn ich für meine Generation spreche, so sieht es in manchem gar nicht so anders aus. Es gibt Altersgenossen, die haben noch vor ihren Vätern und somit auch vor Gott Angst gelernt, ich selber nicht, sicher nicht. Aber auch meine Generation spürt Angst vor der Vergangenheit – teilweise gewiß als verdrängte Angst vor der Vergangenheit – und fragt sich, wie denn Gott in das Erleben unserer Zeit hineinpaßt. So urteilen auch manche der Schriftsteller, deren Meinungen Karl-Josef Kuschel gesammelt hat.[9] An den Schriftstellern irritiert mich zwar oft ihre überaus privatistische, aber doch mit Pathos vorge­tragene religiöse Meinung. Aber als typisch für meine Generation muß ich doch viele ihrer Stimmen einfach hören und hinnehmen. Die einen beklagen mit Recht den Gott der Angst, der ihnen von religiös verängstigten Müttern vermittelt worden ist, die andern denken angstfrei aber auch hoffnungslos über ihn, wieder Dritte jedoch können dem Glauben, besonders auch Jesus und seiner Ethik, Sinnvolles abgewinnen. Gemeinsam scheint allen die Erfah­rung zu sein, daß der Gott der sichtbaren Ordnung für sie verblaßt ist und sie es höchstens mit dem Gott des Mitleidens zu tun haben wollen. Das verbindet auch mich mit ihnen. Nur wenige der Schriftsteller – wie etwa Heinrich Böll und Walter Jens – versuchen noch, den klassisch-biblischen Lehren, auch den Dogmen der Alten Kirche, interpretierend etwas abzugewinnen.

Ich scheue mich eigentlich, die Generationen psychopathologisch mit Eti­ketten zu versehen, aber oft denke ich, die junge Generation in unserer westlichen Welt hätte die Merkmale von depressiven, die ältere die von zwanghaften Menschen. Und für Zwanghafte ist das Eingeständnis des Versagens schwie­rig, auch die Bewältigung von Aggressionen; für Depressive aber ist freier und partnerschaftlicher Glaube an einen lebendigen Gott nahezu unmöglich.[10] Sie sind ja mit dem Erlebnis der Trennung nicht fertig. Sie kleben am Geliebten, oder sie können es nicht kennen. Angst und Vertrauen durchkreuzen sich. Selbstvertrauen will nicht gelingen, Urvertrauen ist nie entstanden. Eine große Sehnsucht tritt oft an die Stelle des Vertrauens. Manche suchen sie durch Meditation zu stillen, durch Techniken aus Indiens alter Weisheit.

Vielleicht ist es ja gut, daß uns, den Jungen und den Älteren, ein Gott verlo­ren gegangen ist, der unseren Depressionen und Zwängen einfach entspricht. Vielleicht ist der Gott der Entsprechung, der von Menschen erdachte Ersatz-Vater-Gott, die göttliche Mutter-Geborgenheit, vielleicht ist dieser Gott ja verlierenswert. Ich sage das ohne Ironie, eher mit Trauer, aber Ehrlichkeit nötigt dazu, es zu sagen.

4. Der jüdische Gott

Absichtlich sage ich: der jüdische Gott. Denn damit wird der Zugang zu ihm zunächst einmal ganz eng, alles ganz auf ein kleines und partikulares Volk be­zogen, allerdings dann auch auf eines der größten Bücher der Welt, die hebräi­sche Bibel und dann auf die gewaltig komplexe, herrlich-schreckliche Ge­schichte des Christentums, der Kirche. Aber er bleibt der jüdische Gott. Hät­ten nur die frühen Christen dieses Jüdische nicht verachtet, verneint und da­mit schon so oft Gott verloren! Hätten sie doch begriffen, daß Gott am Rande der Wüste lebt und dort zu finden ist, in der Wolke und der Feuersäule, daß er in Zelten lebt und in Gleichnissen von sich reden macht; hätten sie doch mit den versprengten Juden im späten Altertum die jämmerliche Diaspora geteilt und sich nicht mit den Kaisern auf die strahlenden Throne gesetzt, um sich von dort privilegieren zu lassen und Andersdenkende zu verfolgen und zu be­strafen. Dieses Klagelied wollen wir jetzt nicht zu Ende singen. Es hat ja auch immer etwas Kleinliches und Scheußliches an sich, wenn wir Christen über unsere Geschichte klagen, fast so, als seien wir nicht Teil von ihr, sondern be­reits der gute Neuanfang, über den keine Klage berechtigt ist.

Ja, der jüdische Gott! Eigentlich kann man über ihn nicht reden und darum letztlich vielleicht ihn auch nicht verlieren. Man kann seinen Namen eigent­lich nicht nennen, und doch alles in seinem Namen erhoffen und tun, sich lie­ben und einander vergeben, sich grüßen und segnen. Ja, man kann im Grunde nicht über ihn reden, nur von ihm her in seiner Beauftragung, und zu ihm hin im Beten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat Jesus sich auch Gott ge­genüber so verhalten, von ihm her hat er geredet, und zu ihm hin. Vor allem hat er – wenn er schon über ihn redete – in Gleichnissen gesprochen. Gleich­nishaft und metaphorisch, wie die Sprachphilosophen sagen, das ist eigentlich das Höchste, was wir uns leisten können, wenn wir etwas über Gott sagen. Ein Gleichnis von ihm ist ja letztlich auch Jesus selber, eine Ikone von ihm, wie es eine Stelle im Neuen Testament sagt.

Hineinschlüpfen müßten wir nachträglich in diese Geschichte Gottes mit Israel und mit Jesus und mit den frühen Christen, so sehr sie sich auch geirrt haben und so wenig vorbildlich sie auch gewesen sein mögen. Als ich das Thema dieser Arbeitsgruppe »Gott vermissen – Gottes Spuren entdecken« zum ersten Mal hörte, kam mir aus Abscheu gegen all die vielen nötigen oder nutzlosen philosophischen Gedanken über Verlust und Wiedergewinn Gottes dieses einfältige Wort »Hineinschlüpfen« in den Sinn. In die Story von Abra­ham über Moses bis Jesus und bis zu mir hineinschlüpfen, drin-sein, mit-tun, sozusagen »mitten in der Trinität« sich aufhalten: Im jüdischen Gott, dicht bei seinem Gleichnis, dem Rabbi Jesus, und geleitet im guten Geist Gottes – das ist die wahre Trinitätslehre. In und mit ihr denke ich nicht so sehr über Gott, sondern bin in ihm drin, tue seine Werke, hoffentlich nicht wie ein Soldat ei­nes Generals, lieber schon als Kind, dem er das Laufen lehrt, noch lieber als ein freier, erwachsener Mensch, der als sein Mitarbeiter andere Menschen zu Partnern macht, ihre Menschenwürde achtend oder für sie streitend.

Was habe ich alles sagen wollen? Ich weiß nicht, ob es gelungen ist, ich wollte sagen:

Hätten wir uns den Flirt mit dem Gott der sichtbaren Ordnung nicht gelei­stet – so vieles wäre vielleicht einfacher und klarer geblieben! Wir hätten von kaputten Ehen bis zu Auschwitz und Millionen hungernder Kinder nicht die Einladung verspürt, Gott als Ursache oder als feige Distanzierung zu denken.

Hätten wir uns weniger den räumlichen Vorstellungen hingegeben und mehr auf die Zeit geachtet, die Gottes wahre Heimat ist, wenn die Bibel recht hat, so wären uns Vergebung und Hoffnung näher geblieben, ohne die im Grunde ja kein Mensch leben kann, auch nicht der ungläubigste und gottfern­ste. Ja, das wäre uns näher geblieben. Das wollte ich sagen.

Und drittens, hätten wir eine balanciertere und besser verarbeitete Bezie­hung zu unsern Eltern, zur großen Trennung bei unserer Geburt und zum schockierenden Erlebnis, daß ein Elternteil unser Geschlecht teilt, das andere eben nicht, und hätten wir mehr Hilfe erhalten beim Erwachsenwerden, mag sein, daß unser selbstgemachter Ersatz-Gott-Vater und Mutter-Gott stabiler geblieben wäre.

Aber das ist alles, fast alles zerbröckelt und der damit verbundene Gott ist abhanden gekommen. Es waren eben auch alles nur Gottesvorstellungen. Es war alles nicht der wahre Gott. Es war alles gedanklich, was wir einmal über Gott wußten. Schade, mögen einige denken, daß es weg ist. Vielleicht ist es nicht schade, denke ich. Es bleibt uns noch das Hineinschlüpfen in die enge Geschichte von Abraham bis heute, die zugleich die Weite und Freiheit der Trinität ist: Drin-Stehen und Teilnehmen an der Geschichte und am Tun des jüdischen Gottes und seines Gleichnisses von Nazareth, bewegt in unserem Geist von seinem Geist.

Quelle: Hermann Deuser et al (Hrsg.), Gottes Zukunft – Zukunft der Welt. Festschrift für Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag, München: Chr. Kaiser 1986, S. 250-261.


[1] Mit diesem Satz ist freilich die erkenntnismäßige Priorität der ökonomischen vor der im­manenten Trinitätslehre ausgesagt. So lehrten auch Athanasius, die Kappadokier und ihre Nachfolger. Die Perspektive, in der die Gläubigen die Story von Abraham an über die ganze Geschichte Israels, zu Jesus und der Geschichte der Kirche bis hin zu ihrer eigenen Lebens­geschichte hören und erzählen, führt zum Staunen über die Kontinuität der Identität Gottes bzw. des Redens von und zu Gott. Dieses Staunen entspringt der gegenwärtigen Anbetung Gottes und drängt auf die gedankliche Verklammerung des Wirkens des Geistes in der Kir­che mit dem Kommen und Gehen Jesu und mit dem Gott und Erwähler Israels. Diese Ver­klammerung – die ökonomische Trinitätslehre – wird durch Rückschluß auf Einheit und Einzigkeit Gottes im gegenwärtigen Geist, in der Gegenwart in Jesus und im schöpferischen und erwählenden Wirken in Israel gewonnen. Sie ist als Lehre (dieser erklärungskräftigen Anschauung) ein Rückschluß aus deskriptiver Sprache. Erst der Umkehrschluß, daß Gott »ad extra« nicht ein anderer als »ad intra« sein könne, ergibt die »immanente Trinitätslehre«. Das Wagnis, so von Gottes innerem Wesen zu sprechen, kann nur in askriptiver, doxologischer Rede unternommen werden, als im Gottesdienst dargebrachtes Geschenk, als offenendender Gedanke. Deduktionen von solchen Sätzen zurück in deskriptive Sprache schei­nen mir als Zirkelschluß unstatthaft zu sein, wiewohl sie in der Geschichte der Theologie im­mer wieder versucht worden sind mit dem Ergebnis, daß die Gemeinden verwirrt und im Hinblick auf »Trinität« entmutigt wurden. Vgl. meine Studie: Zur Geschichte der Kontro­verse um das Filioque und ihrer theol. Implikationen, in L. Vischer (Hg.), Geist Gottes – Geist Christi, Frankfurt 1981, 25-42.

[2] In dieser Verkürzung ist dieser Satz nur provokativ und scheint die Frage nach, der Wahrheit auszuklammern. Ich habe dies ausführlicher diskutiert in: Zur Logik der Theolo­gie, München 1984, I F u. G. Im Vortrag diente der Satz der Abwehr der Vorstellung, die Theologie könnte automatisch über Wahrheit und Irrtum der soeben aufgehäuften theologi­schen Gottesbilder befinden.

[3] Der Edinburger Systematiker T. F. Torrance hat sich (von Karl Barth her kommend und in Anlehnung an Michael Polanyi) seit Ende der sechziger Jahre mit diesem Thema ausführ­lich befaßt, vgl. Theological Science, Oxford U. P. 1971, und Transformation and Convergence in the Frame of Knowledge, Grand Rapids 1984. Er meint, erst die Relativitätstheorie und neuere Quantenmechanik habe die erkenntnistheoretischen Mittel bereitgestellt, den al­ten Dualismus zu überwinden. Über die direkte Anwendung auf die Theologie ist das Ge­spräch mit Torrance allerdings noch nicht beendet – Einen anderen Weg zur Überwindung des Dualismus bietet die Prozeß­theologie an, jedoch zu einem hohen Preis: die Ewigkeit Gottes und die gesamte Dimension des Messianischen hat in ihr keinen legitimen und not­wendigen Platz.

[4] Die unvermeidliche Ambiguität in der Bewertung der Schöpfung nach Gesichtspunkten von. Sinn und Ordnung zeigt sich auch in J. Moltmanns Trinität und Reich Gottes, wenn er von der »guten« sowie auch von der »versklavten Schöpfung« spricht; vgl. auch sein Buch: Gott in der Schöpfung, München 1985 sowie G. Theissen, Biblischer Glaube in evolutionä­rer Sicht, München 1984. Die Prozeßtheologie hat es hier einfacher, weil sie kurzerhand das Problem quantifizieren kann: die Schöpfung ist auf dem Wegzurrelativen Perfektion. Dann allerdings muß die biblische Rede von der neuen Schöpfung umgedeutet werden.

[5] An diesem Satz entfachte sich eine lebhafte Diskussion, die sich auch seither in Briefen weiter entwickelt. Eigentlich ist das erstaunlich, wenn man bedenkt, daß von K. Barth bis E. Jüngel und J. Moltmann theologische Lehrer eben dies schon je in ihren Worten deutlich ge­sagt hatten. Zu stark ist in der Geschichte der Frömmigkeit die Gewöhnung an Negationen von Negativem in bezug auf Gott: unbegrenzt, unendlich usw., um eine Negation einer ver­meintlich positiven Prädikation ertragen zu können. Darum verlangt auch unsere (philoso­phische) Gewöhnung, »Allmacht der Liebe Gottes« geringer einzustufen als Allmacht im Sinn von »Allgewalt«. Zur ausführlicheren Diskussion vgl. Zur Logik der Theologie, I C 4 und II B 4.

[6] In der Diskussion mußte ich von Philipp erzählen, dem 20jährigen Sohn meines Freun­des, der auf der Autobahn zu Tode gefahren worden war. Bei seiner Beerdigung vor Jahren predigte ich – auf Anraten des Basler Freundes Max Geiger – über bzw. anhand des unge­wöhnlich kurzen Textes Joh. 11,35: »Jesus weinte«, und sagte, der Tod von Philipp sei gegen den Willen Gottes geschehen. Freilich weiß auch ich, daß gläubige Menschen einen Tod wie den von Philipp »aus der Hand Gottes« nehmen können. Es fragt sich aber, was genau mit diesem Ausdruck gemeint ist. Es kann ja gemeint sein: »in diesem Tod selber ist kein Sinn, aber wir nehmen jetzt den Auftrag zur neuen Sinnfindung aus der Hand Gottes«, d. h. es muß nicht gemeint sein: »Gott hat Philipps Tod gewollt«, wovon die unvermeidliche Kurz­form – vor der man aus traditioneller Scheu zurückschreckt-heißt: »Gott hat Philipp getö­tet«. Zudem fragt es sich, ob die direkt Betroffenen nicht zu anderen, steileren Aussagen le­gitimiert sind als der Pfarrer. Überträgt man diese Gedanken auf die Vernichtung ganzer Städte und Völker, auf Auschwitz, so wird die Diskrepanz zwischen den Betroffenen und dem einzelnen Interpreten umso krasser. Wer darf sagen: hier ist das Gericht Gottes?

[7] Über die Priorität der Zeit vor dem Raum in der Erkenntnis Gottes gibt es – außer bei K. Barth – Entscheidendes bei G. Picht zu lernen. Vgl. zur Thematik H. Wehrt, Über Zeit­verständnisse und die Problematik von Möglichkeiten und Offenheit, in A. M. K. Müller (Hg.), Zukunftsperspektiven, Stuttgart 1976,144-208. Ich orientiere mich hauptsächlich an J. Barrs Arbeiten, zunächst an Biblical Words for Time, London 19692, sodann an seinen verschiedenen Arbeiten zum »Story«-Begriff, z. B. The Scope and Authority of die Bible, London 1980. Wir hatten in den fünfziger Jahren gemeinsam begonnen, diesen Begriff in die englischsprachige Theologie einzuführen. Er ist freilich im Deutschen unglücklich, jedoch, nicht leicht ersetzbar. Aber es geht um das Konzept, nicht um den Terminus. Das Konzept will eine Alternative zur inner-deutschen Diskussion um Geschichte und Historie vorberei­ten helfen; vgl. außer Barrs Arbeiten die kleine programmatische Schrift D. Ritschl/H. Jo­nes, »Story« als Rohmaterial der Theologie, München 1976 (= ThExh 192). – Der stärkste Ausdruck der Priorität der Zeit vor dem Raum (in dem sich Theologie mit neuer Naturwis­senschaft trifft) ist die Trinitätslehre.

[8] Diese Wendung gegen eine mystische Vereinnahmung von Gottes Gegenwart darf sich jedoch nicht auf das Leben überhaupt beziehen und so zu einer Abwertung der Bedeutung der Gegenwart führen. Dagegen betont auch mit Recht G. Picht, daß die Gegenwart mehr ist als bloßer Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft. Ich würde das heute auch deutlicher herausstellen als damals in Memory and Hope, An Inquiry Concerning the Presence of Christ, New York/London 1967.

[9] K.-J. Kuschel, Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen, 12 Schriftsteller über Religion und Literatur, München/Zürich 1985.

[10] Eine derart steile Aussage kann freilich in einer Fußnote nicht hinreichend begründet werden. Als grundsätzliche theologische Aussage sollten wir uns allerdings nicht anmaßen festzustellen, welcher Typ von Mensch einen lebendigen Gottesglauben haben kann und welcher nicht. Aber über dieser theologischen Richtigkeit ist uns – besonders in der Her­kunft von K. Barth – nicht selten beim Theologietreiben der konkrete Mensch verloren ge­gangen. In der Gemeindepraxis und in 15 Jahren Psychotherapie habe ich äußerst wenig de­pressive Menschen getroffen, deren Glaube an Gott irgendeinen spürbaren und helfenden Einfluß auf die Depression hatte (ganz im Unterschied zu schizoiden Persönlichkeiten). Sie hatten die größten Schwierigkeiten mit der Annahme der Predigt vom helfenden, tröstenden und gegenwärtigen Gott. Freilich bestreite ich nicht, daß es solche Menschen trotzdem gibt; aber die Empirie ist für die Theologie nicht ohne Belang.

Hier der Text als pdf.

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