Eberhard Jüngels Predigt über Psalm 131: „Weil wir bei Gott allezeit solche Kinder sind, deshalb gibt es auch für jeden von uns die ganz besonderen Augenblicke, in denen der himmlische Vater genug getan hat für uns und wir ihn nur noch so kennen wie das ganz und gar gestillte Kind seine Mutter. Dann nehmen wir Gott um seiner selbst willen wahr. Und sind ganz bei ihm und gerade so ganz bei uns selbst.“

Predigt über Psalm 131

Von Eberhard Jüngel

Ein Wallfahrtslied Davids.
Herr, mein Herz will nicht (mehr) hoch hinaus.
Aus meinen Augen kommt kein hochfahrender Blick.
Mich treiben keine großen Wünsche umher
und Ziele, die mir zu hochgesteckt sind.
Meine Seele habe ich vielmehr befriedet, gestillt.
Wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter,
so ist gestillt meine Seele in mir.
Israel, harre des Herrn von nun an bis in Ewigkeit.
Amen.

Auch diesmal, liebe Hausgemeinde, lenkt ein alttestamentlicher Text unsere Aufmerksamkeit auf eine weibliche Gestalt. Doch welch’ ein Unterschied! Hannah und Judith, die uns in den beiden letzten Andachten eindrücklich wurden, waren Frauen, von denen selbst die Nachwelt noch spricht. Ihr Name hat Geschichte gemacht. Im Unterschied zu Ihnen bleibt die Frau, von der unser Wochenpsalm redet, namenlos. Und eigentlich ist sie sogar nur ein Gleichnis. Namenlos und gleichnishaft kommt sie auch bloß am Rande des Bildes in den Blick, in dessen Mittelpunkt der Psalmist ganz ungeniert sich selbst in Szene gesetzt hat.

Und doch nimmt niemand Anstoß daran, daß hier ein menschliches Ich so unge­niert von sich, von seinem Herzen, seinen Augen, seiner Seele erzählt. So wie ja auch niemand sich an den Bildern alter Meister ärgert, in denen im Zentrum des Bildes, alles beherrschend, ein Säugling unseren Blick gefangen nimmt, und erst der zweite Blick dann die Mutter wahrnimmt, die ihrem Kinde die Brust reicht oder es liebevoll auf dem Schoß wiegt.

Mit einem solchen bei der Mutter geborenen Kleinkind vergleicht sich unser Psalmist in seinem Verhältnis zu Gott. Nur daß in diesem Fall das Kind schon gestillt und nunmehr wunschlos glücklich bei seiner Mutter ist. Ein gewagter Vergleich, gewiß! Mehr als gewagt sogar, wenn man bedenkt, daß spätere Zeiten diesen Psalm als Lied Davids identifizieren zu können meinten. Doch die historisch gewiß problematische Identifikation des Psalmisten mit David ist gut geeignet, die Pointe dieses kleinen Liedes sicher zu fassen. Denn ein Mann wie David ist ja geradezu das Gegenteil dessen, was hier ein menschliches Ich von sich selber zu sagen weiß: Sein Herz wollte weiß Gott hoch hinaus; die Blicke seiner Augen waren gewiß alles andere als demütig; seine Wünsche und Ziele hatte er von Jugend hoch gesteckt, höher jedenfalls als es seinem königlichen Schwiegervater Saul lieb sein konnte. Kurzum: David war der Inbegriff des jungen Mannes, der den homerischen Helden gleich „immer der beste und niemanden je unterlegen“ sein wollte:

Erst wenn man ein solches Mannsbild – heiße es nun David, Achill, Alexander oder wie einer von uns – erst wenn man ein solches Mannsbild vor Augen hat, wird die Kühnheit unseres Liedes nachvollziehbar.

Denn von einem ohnehin Anspruchslosen, immer mit niedergeschlagenen Augen durchs Leben Trippelnden, sich keine Ziele Steckenden, keinen Lebensentwurf Wagen­den und eben deshalb allezeit wunschlos Glücklichen oder vielmehr wunschlos Un­glücklichen – von einem solchen Männlein Beteuerungen der Demut und Ergebenheit zu hören, das dürfte selbst für Gott einigermaßen langweilig sein. Entsprechend lang­weilig lesen sich die den Psalm auf dergleichen Niveau herabziehenden gelehrten Kommentare: Eine „Loyalitätserklärung“ lege der Sänger Gott gegenüber ab, und diese bestehe in seiner Anspruchs- und Willenslosigkeit: „Er will sich selbst weder helfen noch in irgendeiner Angelegenheit durchsetzen“ – behauptet ein Kommentator (H.-J. Kraus) und macht so den Psalmisten zu einem gottwohlgefälligen Softi. Nun wollen wir nicht bestreiten, daß Gott auch an einem Softi sein Wohlgefallen haben kann. Aber dazu bedarf es keines Psalmes. Und die innere Spannung unseres Psalmes wäre regelrecht verpufft, wenn man ihn so verstehen müßte: verpufft, pointenlos.

Da leuchtet es schon eher ein, wie ein anderer Schriftgelehrter erklärt – sich in unserem Psalm ein Mensch aussprechen soll, der in einem überaus heftigen „Kampf gegen eigenen Hochmut … gegen Streben nach Ehre, Reichtum, Geltung“ sich selber beherrschen und „auf schöne Jugendträume und trotziges Mannes-wollen“ verzichten gelernt hat, um dafür „als Siegespreis … die Festigkeit und Gehaltenheit eines Men­schen, der ganz Herr seiner selbst geworden ist“, in Händen zu halten (A. Weiser). Unser Psalm wäre dann allerdings nicht viel mehr als das Selbstgespräch eines altern­den Menschen, dessen Lebensschiff durch vielfach stürmische Wogen endlich in ruhige Gewässer gelangt ist, die ihm nun sicher den Weg in den Hafen weisen: „Meeresstille und glückliche Fahrt“ … Beata vita, seliges Leben haben frühere Zeiten solche Einkehr ins schützende Hafengewässer genannt.

Doch kann das die beata vita sein: das Leben eines Menschen, der sich selber bekämpft und bezwungen hat und auf diese Weise endlich „ganz Herr seiner selbst geworden ist“? Unser Psalm wäre dann allenfalls ein Text für Emeriti und solche, die es werden wollen. Auch an ihnen mag Gott sein Wohlgefallen haben. Wir wollen es hoffen. Aber unser Lied wäre dann sinnlos und schal für die Jugend und für Menschen, die in der Blüte ihrer Jahre stehen, und aus ihrem Leben noch etwas zu machen geden­ken. Sie könnten in diesen Psalm ganz gewiß nicht einstimmen.

Nun wendet sich der Psalmist aber am Ende seines Liedes ausdrücklich an ganz Israel. Also muß die ganze Gemeinde einstimmen können in dieses so überaus persönli­che Bekenntnis eines Einzelnen. Das ist aber nur möglich, wenn wir unser Lied gera­de nicht als „Loyalitätserklärung“ eines von Natur aus anspruchslosen oder durch Selbstüberwindung anspruchslos gewordenen Menschen lesen, der sich für seinen weitgehenden Verzicht auf Ich-Stärke und selbständige Lebensgestaltung, sozusagen als Ersatz, bei Gott geborgen wissen darf. Umgekehrt wird ein Schuh draus! Wie jeden guten Text, so muß man auch diesen Psalm von hinten lesen können. Dann wird verständlich, warum man ihn treffend zu „den schönsten der Psalmen“ (A. Weiser) gezählt hat.

Schön ist er deshalb und im strengen Sinne des Wortes, weil in ihm selber er­scheint, was im eigentlichen Sinne schön genannt zu werden verdient. Ihm gilt das „interesselose Wohlgefallen“ – mit Kant zu reden –, also das Wohlgefallen, das nichts haben, sondern nur wahrnehmen, nur da und dabei sein will. Schön ist, was wir um seiner selbst willen lieben. Und dafür steht in unserem Psalm die Mutter, die dem Kind alles gegeben hat, was es begehrt und wessen es bedarf. Sie hat das Kind in seinem ganzen Begehren, sie hat alle seine Bedürfnisse gestillt. Und nun ist sie nicht mehr Mittel zur Befriedigung kindlicher Wünsche. Nun ist sie in einem ganz anderen Sinne Mutter noch. Nun ist sie um ihrer selbst willen begehrens- und also wirklich liebenswert. Nun ist sie schön. Und das gestillte Kind ist ganz bei ihr, nun wirklich in einem unver­gleichlichen Sinne anspruchslos. Es hat ja nun alles, was es braucht. Es ist zufrieden. So ist es ganz bei der Mutter und freut sich ihrer. Und nur so, so aber ist es ungestört ganz bei sich selbst.

Bis es wieder hungrig wird, oder andere Bedürfnisse hat und schreit …

Doch die schreiende Rückkehr in den Rhythmus der Welt macht das liebevolle Zusammensein, in dem nur die gegenseitige Wahrnehmung Bedeutung hat, nicht ungeschehen. Im Gegenteil: von solchem Zusammensein herkommend besteht das heranwachsende Kind den Rhythmus der Welt eher, als wenn es allein auf sich selber gestellt wäre und dann entweder durch übertriebene Ansprüche oder übertriebene Anspruchslosigkeit auf sich aufmerksam macht, und – sei es hochmütig sei es demütig – sich durchzusetzen versucht.

Bei Gott, liebe Hausgemeinde, sind wir allezeit solche Kinder. Auch wenn wir längst erwachsen geworden sind und wie der steineschleudernde David oder der hochfahrende Achill oder der seine Ziele weit und hoch steckende große Alexander – nur einige Nummern kleiner, versteht sich – , auch wenn wir längst wie Hannah und Judith oder irgendeine andere gestandene Frau unseren Willen an der widerständigen Lebenswirklichkeit erproben müssen, auch dann ist Gott für uns am Werk wie eine die Bedürfnisse ihres Kindes ernstnehmende Mutter. Und weil wir bei Gott allezeit solche Kinder sind, deshalb gibt es auch für jeden von uns die ganz besonderen Augenblicke, in denen der himmlische Vater genug getan hat für uns und wir ihn nur noch so kennen wie das ganz und gar gestillte Kind seine Mutter. Dann nehmen wir Gott um seiner selbst willen wahr. Und sind ganz bei ihm und gerade so ganz bei uns selbst.

Dann will mein Herz nicht mehr hoch hinaus und aus meinen Augen kommt kein hochfahrender Blick. Mich treiben keine großen Wünsche umher und keine hoch und immer noch höher gesteckten Ziele. Denn dann ereignet sich mehr als irgendein Ziel. Dann ereignet sich die mütterliche Nähe des göttlichen Vaters. Dann ist Gott schön. Und ich bin es, seltsam genug, auch für ihn. Jedenfalls bis auf weiteres.

Und wenn ich dann wieder wie ein bedürftiges Kind, das seinen Willen haben will, zu schreien beginne, dann ist es vielleicht für einen anderen Mann oder eine andere Frau aus dem Volke Gottes an der Zeit, in diesen zartesten aller Psalmen einzu­stimmen und sich Gottes zu freuen – bis auf weiteres …

Amen.

Quelle: Einfach von Gott reden. Festschrift für Friedrich Mildenberger zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Jürgen Roloff und Hans G. Ulrich, Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer, 1994, S. 240-242.

Hier die Predigt als pdf.

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