Iring Fetscher, Zuversicht – trotz allem: „Ohne die Erfahrung des Krieges wäre mir nicht bewußt ge­worden, wie sehr Menschen den Glauben an Gott brauchen, wie unmöglich es ihnen ist, die Sinnlosigkeit von Not, Gewalt und Tod zu ertragen, ohne die Hoffnung. Wie wenig sie zu hoffen vermögen, ohne einen Glauben an Gott.“

Zuversicht – trotz allem

Von Iring Fetscher

Wie wird man zu dem, der man ist? Diese Frage habe ich mir oft gestellt und kann sie doch nicht genau beantworten. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich an meine ersten be­wußten Anstrengungen und Entschlüsse. Sie galten meinen sportlichen Leistungen. Als 15jähriger etwa begann ich jeden Morgen zwei bis drei Kilometer zu laufen. Heute würde man das Jogging nennen. Ich wollte ein guter Zehntausend-Meter-Läufer werden. Ähnlich hielt ich es mit dem Reiten. Aus einem etwas trägen, wenig sportlichen Jungen wollte ich ei­nen widerstandsfähigen Sportler machen. In der Schule är­gerte ich mich über den Mathematiklehrer, der uns mit zyni­scher Geringschätzung behandelte. Um gegen ihn „stark“ zu sein, bemühte ich mich mit Erfolg um überzeugend gute Lei­stungen. So konnte er mir schließlich nichts mehr anhaben. An die tiefe Befriedigung über die durch bewußte Willensan­spannung erzielten Erfolge kann ich mich noch gut erinnern.

In einer anderen Ebene spielten sich meine Träume und meine Spekulationen ab. Ich hatte schon früh Texte buddhi­stischer Philosophen und deutscher Mystiker gelesen. Etwas später begeisterte ich mich für Spinozas „Ethik“ und ihre kri­stallklare logische Struktur. Wie die Beherrschung des Kör­pers verschaffte mir auch das „Schweifen“ im Reich der Spe­kulation ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit und wohl auch – wie das für Pubeszenten typisch ist – der Überlegenheit ge­genüber den Erwachsenen, die in ihrer täglichen Routine er­starrt zu sein schienen.

Es will mir scheinen, als hätte diese doppelte frühe Erfahrung von erfolgreicher Willensanspannung um sportlicher Leistung willen und von den Freuden der philosophischen Spekulation meinem späteren Leben die Richtung gegeben. Mein Vater war von den Nazis aus seiner Stellung als Profes­sor entlassen worden. So wuchs ich in einem antifaschisti­schen Elternhaus auf. Obgleich ich – wie alle Jugendlichen – in einer Spannung zur Elterngeneration lebte, konnte ich mir doch nicht vorstellen, an einer Universität des Dritten Rei­ches zu studieren. Der Beruf des Soldaten, der in meiner Ide­alvorstellung von Politik weit entfernt war, schien mir dage­gen sinnvoll und erstrebenswert. Ich meldete mich freiwillig als Offiziersbewerber. Immerhin nahm ich meine Bücher – ei­nige von ihnen – mit und las auf der Waffenschule noch eifrig in meinem Spinoza, was mir den Vorwurf „geistigen Hoch­muts“ einbrachte.

Erst im Laufe des Rußlandfeldzuges begann ich den Zu­sammenhang von Politik und Militär deutlicher zu erkennen. Ich erschrak über die Mißachtung des Völkerrechts und der Haager Landkriegsordnung, die wir eben – als Fähnriche – ge­lernt hatten. Soldaten plünderten ungestraft und ungehindert Warenlager mit Kinderkleidung. Zivilisten wurden ohne Ver­fahren eingesperrt oder auf bloßen Verdacht hin erschossen. Überall auf dem Vormarsch trafen wir auf Spuren sinnloser Zerstörungswut. Immer schwerer wurde es, den Sinn des Krieges zu bejahen, der ganz gewiß kein Verteidigungskrieg war. Eine Zeitlang begnügte ich mich mit der in meinem Regi­ment weit verbreiteten Distanzierung des Heeres von den Greueltaten der SS und der Zivilverwaltungen in Polen und der Ukraine. Schließlich überzeugte mich diese halbherzige Haltung nicht mehr. Desertion oder Kapitulation jedoch schien mir – aus Solidarität mit den mir anvertrauten Soldaten – unerlaubt. In einem Tagebucheintrag aus dem Jahre 1944 ist vom „Warten auf das allgemeine Ende“ die Rede. Der Krieg und die Tage heftiger Kämpfe vor Leningrad machten mir die Ohnmacht des Einzelnen bewußt, die Ausgeliefertheit an den Zufall, das Schicksal, die Vorsehung. Ich konnte keinen Grund dafür finden, daß ich überlebte, während andere – ringsum – fielen. Jedesmal wenn ich einer besonderen Gefahr entronnen war, fühlte ich zugleich Dankbarkeit und Schuld. Ich begann in einer Bibel zu lesen, die ich in einem zerstörten Haus gefunden hatte und die ich seither in meiner Brustta­sche mit mir führte. Um den Splittern der Granaten und Bom­ben zu entkommen, muß man sich klein machen, sich ducken, in Erdlöchern verkriechen. Die körperliche Haltung stärkt das Gefühl der Ohnmacht und Ausgeliefertheit. Dieses Gefühl macht aber auch ernst und erinnert an unsere Pflich­ten gegenüber anderen.

Als der Krieg sich dem Ende zuneigte, begann unter Kame­raden das Gespräch über Ursachen und Folgen. Ich erinnere mich an eine Diskussion über den Antisemitismus, der mir immer das Unmenschlichste am Nationalsozialismus erschie­nen war. Mit vielen meiner Freunde erwartete auch ich eine schreckliche Rache der Sieger, die dann – für die Bewohner der unter polnische Verwaltung und sowjetische Herrschaft geratenen Gebiete – auch eintraf. Wiederum wurde ich durch unverdientes Glück verschont.

Ohne die Erfahrung des Krieges wäre mir nicht bewußt ge­worden, wie sehr Menschen den Glauben an Gott brauchen, wie unmöglich es ihnen ist, die Sinnlosigkeit von Not, Gewalt und Tod zu ertragen, ohne die Hoffnung. Wie wenig sie zu hoffen vermögen, ohne einen Glauben an Gott. Sobald aber der Krieg vorbei war und der Einzelne aus dem Befehls- und Gehorsamsverhältnis des Militärs entlassen, schien mir die Passivität, in der wir dahingelebt hatten nicht mehr zulässig. Bald erfuhr ich, daß mein Vater noch am letzten Kriegstag, beim Versuch, mit den einziehenden sowjetischen Streitkräf­ten in Dresden – im Auftrag der Widerstandskämpfer – Kon­takt aufzunehmen, von SS erschossen worden war. Das be­stärkte meinen Willen, durch meine Tätigkeit mitzuhelfen, damit ein neues und besseres Deutschland entsteht. Zu­nächst glaubte ich – dem Vorbild des Vaters folgend – als Arzt diese Hilfe am besten leisten zu können. Nach einem Jahr des Studiums, in dem ich gleichzeitig Philosophievorlesungen gehört hatte, entschloß ich mich die Medizin wieder aufzuge­ben. Beide Fächer gleichzeitig zu studieren schien mir doch nicht möglich. Die Philosophie, so hoffte ich, würde mir hel­fen, eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen des Natio­nalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zu finden. Wie konnte – im Namen des deutschen Volkes – das millionenfa­che Unrecht, die bestialische Grausamkeit der Massenver­nichtung der europäischen Juden geschehen? Gab es in der deutschen Geschichte, in der Pathologie der deutschen Ge­sellschaft und des „deutschen Geistes“ Ursachen, die zu die­sem Ziele hinführten? Wie konnten die Wurzeln des Übels überwunden werden?

Die Philosophie, die Soziologie, die Sozialpsychologie und die Geschichte – so hoffte ich – würden Beiträge zur Beant­wortung dieser Frage liefern. Es hat lange gedauert, ehe ich erste – vorsichtige – Antworten fand. Ich bin zahlreiche Um­wege gegangen, die manchmal fruchtbar und nützlich waren. Nicht immer war alles geplant, gewollt, beabsichtigt. Oft habe ich von außen kommende Anforderungen angenommen, habe reagiert – nicht agiert. Das hängt vermutlich mit meiner Auffassung vom Lebenssinn zusammen. Wir sind nicht im­stande, auf dem Reißbrett unser Leben zu entwerfen. Wir müssen als Gegebenheit hinnehmen, daß wir Deutsche sind, daß wir in diesem Jahrhundert geboren wurden, daß wir diese und diese Fähigkeiten haben und so weiter. Mit dem, was uns „begegnet“, was uns vorgegeben ist, müssen wir unser Leben gestalten. So großartig das Freiheitsstreben der neuzeitlichen Menschheit ist, wenn dabei die Gebundenheit, die Angewie­senheit auf Natur, Heimat, Sprache, Kultur übersehen wird, führt es in die Irre.

Wenn ich – im Unterschied zu manchen Jüngeren – trotz allem mit einer gewissen Zuversicht in die Zukunft blicke, dann vor allem deshalb, weil ich überzeugt bin, daß in der Freiheit Gefahren rechtzeitig erkannt und verhängnisvolle Entwicklungen korrigiert werden können. Als es solche Frei­heit nicht gab, rannte ein ganzes Volk ohnmächtig – bis auf wenige mutige Widerstandskämpfer, die das Schicksal nicht aufhalten konnten – in sein Unheil. Das ist – trotz aller be­rechtigter Kritik an unserer allzuperfekten, allzurechtsgläubigen, allzubürokratisierten – bundesdeutschen Gegenwart – der große und entscheidende Unterschied gegenüber dem Dritten Reich. Wir haben keinen Grund, zufrieden zu sein und die Dinge laufen zu lassen. Das unkontrollierte Wirt­schaftswachstum wächst uns schon über den Kopf. Die Zer­störungen der Natur, die Ausbeutung der Naturschätze, die Verarmung der „Dritten Welt“, die Neurotisierung der städti­schen Bevölkerung, das ständige Wachsen des selbstmörderi­schen Vernichtungspotentials in Ost und West, das alles ist Grund genug zu Besorgnis und Aufregung. Aber wir können noch hoffen, daß die Entwicklung geändert wird, solange die Menschen in Freiheit sich besinnen und gegen die heraufzie­henden Gefahren kämpfen können.

Ich weiß, daß mein Optimismus letztlich nicht rational be­gründbar ist. Es ist gar nicht schwer ein Bild der zeitgenössi­schen Realität zu malen, in dem nur düstere Farben vorkom­men. Wahrscheinlich ist meine Zuversicht, meine Hoffnung, mein Optimismus Ausdruck eines Lebensgefühls, das sich im Laufe des Krieges entwickelt hat. Eines Gefühls des Getra­gen­seins, dem ich nur Ausdruck geben und das ich nicht rechtfertigen kann. Dieses Gefühl macht mir Mut und ich hoffe, anderen etwas davon mitteilen zu können. Denn ohne Mut können wir die Gefahren, die vor uns liegen nicht beste­hen.

Quelle: Was meinem Leben Richtung gab. Bekannte Persönlichkeiten berichten über entscheidende Erfahrungen, Herderbücherei, Bd. 940, Freiburg i.Br.: Herder, 1982, S. 43-47.

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