Søren Kierkegaards Rede bzw. Predigt über Hebräer 4,15 (1849): „Mein Zuhörer, solch einen Hohenpriester haben wir. Wer du auch seist und wie du auch leidest: er kann sich ganz an deine Stelle setzen; wer du auch seist und wie du auch versucht wirst: er kann sich ganz an deine Stelle setzen.“

Rede über Hebräer 4,15

Von Søren Kierkegaard

Gebet

Wohin sollten wir gehen, wenn nicht zu Dir, Herr Jesus Chri­stus! Wo sollte der Leidende Mitleid finden, wenn nicht bei Dir, und wo der Reuevolle, wenn nicht bei Dir, Herr Jesus Christus!

Hebr. 4,15: Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleiden haben könnte mit unserer Schwachheit, sondern der versucht ist allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde.

Mein Zuhörer, was du auch selbst gewesen bist — vielleicht ein Leidender, oder was du auch von Leidenden kennengelernt hast — vielleicht in der schönen Absicht trösten zu wollen: dies hast du wohl oft gehört, dies was die allgemeine Klage der Leidenden ist: „du verstehst mich nicht, o, du verstehst mich nicht, du setzest dich nicht an meine Stelle; wärst du an meiner Stelle, oder könntest du dich an meine Stelle setzen, könntest du dich ganz an meine Stelle setzen, und mich also ganz verstehen, so würdest du anders reden“. Du würdest anders reden, das will nach der Meinung des Leidenden sagen, auch du würdest einsehen und verstehen, daß es keinen Trost gibt.

Also dies ist die Klage; der Leidende klagt fast immer darüber, daß derjenige, welcher ihn trösten will, sich nicht an seine Stelle setzt. Gewiß hat der Leidende auch stets etwas recht; denn kein Mensch erlebt ganz dasselbe wie ein anderer Mensch, und selbst wenn dies so wäre: es ist nun einmal die allen gemeinsame, für jeden Menschen besondere Grenze, sich nicht ganz an die Stelle eines andern Menschen setzen zu können, selbst beim besten Willen nicht ganz empfinden, fühlen, denken zu können wie ein anderer Mensch. Aber in einem anderen Sinne hat der Leidende Unrecht: sofern er daraus folgern will, daß es für Leidende keinen Trost gibt; denn das könnte ja auch bedeuten, daß jeder Leidende streben soll, den Trost in sich selbst, das heißt bei Gott zu finden. Es war wohl gar nicht Gottes Wille, daß der eine Mensch bei dem andern vollen Trost finden sollte; es ist hingegen Gottes wohlgefälliger Wille, daß jeder Mensch ihn bei ihm suchen soll, daß er, wenn all die Trostgründe, welche andere bieten, ihm geschmacklos werden, nach Gott suche, das Wort der Schrift befolgend: Habt Salz in euch selbst und haltet Frieden untereinander. O du Leidender, o und du, der du vielleicht aufrichtig und wohlmeinend zu trösten wünschest; streitet doch nicht miteinander den unnützen Streit! Du Mitleidiger, zeige du wahres Mitleid, indem du nicht für dich in Anspruch nimmst, dich ganz an die Stelle des andern setzen zu können; und du Leidender, zeige wahre Erkenntlichkeit, indem du nicht Un­mögliches von dem andern verlangst; — es gibt ja doch einen, der sich ganz, wie an jedes Leidenden, so auch an deine Stelle setzen kann: den Herrn Jesus Christus.

Davon reden die verlesenen heiligen Worte: „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid haben könnte mit unserer Schwachheit“; das heißt: wir haben einen, der Mitleid haben kann mit unserer Schwachheit; und weiter: „wir haben einen, der versucht ist allenthalben gleich wie wir.“ Dies ist nämlich die Bedingung dafür, wahres Mitleid haben zu können (denn das Mitleid des Unerfahrenen und Unversuchten ist ein Mißverständnis, sehr oft ein für den Leidenden mehr oder minder beschwerliches und verletzendes Mißverständnis) — dies ist die Bedingung dafür: in gleicher Weise versucht zu sein. Wenn das der Fall ist, so kann man sich auch ganz an die Stelle des Lei­denden setzen; und wenn man in allen Dingen in gleicher Weise versucht ist, so kann man sich ganz an die Stelle jedes Leiden­den setzen. Einen solchen Hohenpriester haben wir, der Mitleid haben kann. Und daß er Mitleid haben muß, das sichst du ja daraus, daß er aus Mitleid in allen Dingen wie wir versucht wurde: Mitleid war es ja, was ihn bestimmte, in die Welt zu kommen; und es war wieder Mitleid, daß er um wahres Mitleid haben zu können, nach freiem Entschluß, in allen Dingen ver­sucht wurde gleich wie wir, er, der sich ganz an deine, an meine, an unsere Stelle setzen kann, und es auch tut.

Davon wollen wir reden in dem vorgeschriebenen kurzen Augen­blick.

Christus setzte sich ganz an deine Stelle. Er war Gott und wurde Mensch — so setzte er sich an deine Stelle. Das ist es ja, was wahres Mitleid so gerne will, es will sich so gern ganz an die Stelle des Leidenden setzen, um recht trösten zu können. Aber es ist zugleich das, was menschliches Mitleid nicht vermag; nur göttliches Mitleid vermag das — und Gott wurde Mensch. Er wurde Mensch; und er wurde der Mensch, der von allen, allen unbedingt am meisten gelitten hat; niemals ward der Mensch geboren, und es wird und kann niemals der geboren werden, der leiden sollte wie er. O welche Bürgschaft für sein Mitleid! o welches Mitleid, solche Bürgschaft zu geben! Mit­leidig öffnet er für alle Leidenden seine Arme: Kommt her, sagt er, alle die ihr mühselig und beladen seid; kommt her zu mir, sagt er: und er steht ein für das, was er sagt, denn er — dies ist das zweite Stück der Einladung — er litt unbedingt am meisten. Groß schon, wenn menschliches Mitleid sich getraut, fast ebensoviel zu leiden wie der Leidende: aber aus Mitleid, um den Trost zu sichern, unendlich viel mehr zu leiden als der Leidende, welches Mitleid! Das menschliche Mitleid schreckt doch gerne zurück, bleibt am liebsten teilnahmevoll am trocke­nen Ufer; oder wenn es sich hinauswagt, will es doch nicht gern ganz bis dort hinausgehen, wo der Leidende ist: aber welches Mitleid, weiter hinauszugehen! Du Leidender, was forderst du? Du forderst, daß der Mitleidende sich ganz an deine Stelle setzen soll: und er, das Mitleid selbst, er setzte sich nicht bloß ganz an deine Stelle, er litt sogar unendlich viel mehr als du! Oh, für einen Leidenden in seinem Mißmut sieht es wohl zuweilen fast treulos aus, daß sich das Mitleid ein wenig zurückhält: aber hier, hier steht das Mitleid hinter dir in unendlich viel größerem Leiden!

Er setzt sich ganz an deine Stelle, er kann sich ganz an deine Stelle setzen, du Leidender, wer du auch seist. — Ist es zeitliche und irdische Bekümmerung, Armut, Sorge um dein Auskommen und was dazu gehört: auch er hat Hunger und Durst gelitten, und gerade in den schwierigsten Augenblicken seines Lebens, wo er zugleich geistig kämpfte, in der Wüste und am Kreuz; und zum täglichen Gebrauch besaß er nicht mehr als die Lilie auf dem Felde und der Vogel unter dem Himmel — soviel besitzt doch wohl auch der Ärmste! Und er, geboren in einem Stalle, in Windeln gewickelt, in eine Krippe gelegt, er hatte sein Leben lang nicht, wo er sein Haupt hinlegte — soviel Obdach hat doch wohl auch der Obdachlose! Sollte er sich so nicht ganz an deine Stelle setzen und dich verstehen können! Oder ist es Herzenssorge: auch er hatte einmal Freunde, oder richtiger, er meinte einmal welche zu haben; aber als dann die Entscheidung kam, da verließen sie ihn alle —, doch nein, nicht alle, zwei blieben zurück, der eine verriet ihn, der andere ver­leugnete ihn! Auch er hatte einmal Freunde, oder meinte einmal welche zu haben, die schlossen sich ihm eng an, sie stritten sogar darum, wer den Platz zu seiner Rechten und wer den zu seiner Linken einnehmen solle, bis dann die Entscheidung kam und er statt auf den Thron erhoben zu werden, am Kreuz erhöht wurde: da wurden zwei Verbrecher gegen ihren Willen ge­zwungen, den leeren Platz zu seiner Rechten und den leeren Platz zu seiner Linken einzunehmen! Meinst du nicht, daß er sich ganz an deine Stelle setzen kann! — Oder ist es Sorge über die Bosheit der Welt, über den Widerstand, den du und das Gute leiden mußt, wenn anders es nur so ganz gewiß ist, daß du in Wahrheit der bist, der das Gute und Wahre will: o, in dieser Hinsicht wirst du, ein Mensch, doch wohl nicht wagen, dich mit ihm zu vergleichen, du ein Sünder, doch wohl nicht wagen, dich mit ihm, dem Heiligen, zu vergleichen, der zuerst diese Leiden erlebte, so daß du allerhöchstens in Ähnlichkeit mit ihm leiden kannst, und der ewig diese Leiden heiligte — also auch dein Leiden, wenn anders du in Ähnlichkeit mit ihm leidest. Er wurde verachtet, verfolgt, verhöhnt, verspottet, be­spieen, gegeißelt, mißhandelt, gemartert, gekreuzigt, verlassen von Gott unter allgemeinem Jubel gekreuzigt: was du auch gelitten hast, und wer du auch bist, meinst du nicht, daß er sich ganz an deine Stelle setzen kann! — Oder ist es Sorge über die Sünde der Welt und ihre Gottlosigkeit, Sorge darüber, daß die Welt im Argen liegt, Sorge darüber, wie tief der Mensch fiel, Sorge darüber, daß Geld für Tugend gilt, daß Macht Recht ist, daß die Menge die Wahrheit ist, daß nur die Lüge Erfolg hat und nur das Böse siegt, daß nur die Selbstliebe wieder­geliebt wird, daß nur die Mittelmäßigkeit gelobt wird, daß nur die Klugheit geachtet wird, daß nur die Halbheit gepriesen wird, und nur die Niedertracht vorwärts kommt: o, in dieser Hinsicht wirst du, ein Mensch, doch nicht wagen, deine Sorge zu vergleichen mit der Sorge, die der Erlöser der Welt trug, als könnte er sich nicht ganz an deine Stelle setzen! — Und so in Hinsicht auf jedes Leiden.

Und darum du Leidender, wer du auch bist, schließe dich nicht verzweifelt mit deinem Leiden ein, als könnte keiner dich ver­stehen, auch er nicht; rufe auch nicht ungeduldig deine Leiden aus, als wären sie so furchtbar, daß auch er sich nicht ganz an deine Stelle setzen könnte: sei nicht so unwahr und vermessen, bedenke, daß er unbedingt und ohne allen Vergleich von allen Leidenden am meisten litt. Denn willst du wissen, wer am meisten leidet, nun so laß es mich sagen. Nicht das verhohlene Schreien der stillen Verzweiflung, auch nicht, was andere schreckt, das überlaute Schreien ist Zeichen des tiefsten Leidens, nein, gerade das Entgegengesetzte. Derjenige leidet unbedingt am meisten, von dem es (dadurch, daß er danach handelt) in Wahrheit wahr ist, daß er unbedingt keinen andern Trost hat als den: andere zu trösten; denn dies und nur dies ist der wahre Ausdruck dafür, daß sich in Wahrheit keiner an seine Stelle setzen kann, und daß das in ihm Wahrheit ist. Und so mit ihm, dem Herrn Jesus Chri­stus; er war nicht ein Leidender, welcher bei andern Trost suchte, noch weniger fand er ihn bei andern, noch weniger klagte er darüber, daß er ihn bei andern nicht fand, nein, er war der Leidende, dessen einziger, unbedingt ein­ziger Trost es war, andere zu trösten. Sieh, hier bist du zum Gipfel der Leiden gekommen, aber auch zur Grenze der Leiden, wo alles sich umkehrt; denn er, gerade er ist „der Tröster“. Du klagst darüber, daß keiner sich an deine Stelle setzen könne; Tag und Nacht mit diesem Gedanken beschäftigt, fällt es dir, kann ich mir denken, vielleicht nie ein, daß du andere trösten solltest: und er, „der Tröster“, er ist der einzige, von dem es in Wahrheit galt, daß keiner sich an seine Stelle setzen konnte (wie wahr, wenn er da geklagt hätte!); er, „der Tröster“, an dessen Stelle sich keiner setzen konnte, er kann sich ganz an deine Stelle setzen und an die jedes Leidenden. Wäre es Wahr­heit, daß gar keiner sich an seine Stelle setzen kann, nun wohl, so beweise es; es bleibt dir dann nur eins, werde selbst der, welcher andere tröstet. Dies ist der einzige Beweis, der dafür geführt werden kann, daß in Wahrheit keiner sich an deine Stelle setzen kann. Solange du davon redest, daß keiner sich an deine Stelle setzen kann, solange bist du mit dir selbst nicht unbedingt einig darin, sonst würdest du wenigstens schweigen. Aber selbst, wenn du schwiegest, solange das nicht zur Folge hat, daß du es auf dich nimmst, andere zu trösten, solange bist du mit dir selbst nicht unbedingt einig darin, daß keiner sich an deine Stelle setzen kann. Du sitzt dann doch nur in stiller Verzweiflung da, wieder und wieder beschäftigt mit dem Gedanken, daß keiner sich an deine Stelle setzen könne; daß heißt, du mußt diesen Gedanken jeden Augenblick dir wieder befestigen; das heißt, er steht dir nicht fest, du bist mit dir selbst nicht un­bedingt einig darin; das heißt, er ist nicht ganz wahr in dir. Doch wahr kann es ja auch in einem Menschen nicht sein, daß keiner, unbedingt keiner sich an seine Stelle setzen kann; denn gerade er, Jesus Christus, an dessen Stelle sich keiner, weder ganz noch teilweise, setzen kann, gerade er kann sich ganz an deine Stelle setzen.

Er setzt sich ganz an deine Stelle, wer du auch bist, du, der du in Versuchung und Anfechtung gerätst: er kann sich ganz an deine Stelle setzen, „versucht in allen Dingen gleich wie wir“.

Wie bei dem Leidenden, so bei dem Versuchten und Angefochte­nen: auch er klagt gerne darüber, daß derjenige, welcher ihn trösten, beraten oder warnen will, ihn nicht verstehe, sich nicht ganz an seine Stelle setzen könne. „Wärst du an meiner Stelle“, sagt er, „oder könntest du dich an meine Stelle setzen, könntest du verstehen, mit welch schrecklicher Macht die Versuchung mich umklammert, könntest du verstehen, wie furchtbar die An­fechtung jeder meiner Anstrengungen spottet: so würdest du anders urteilen. Aber du spürst dies nicht, du kannst leicht mit Ruhe davon reden, leicht die Gelegenheit benutzen, dich selbst besser zu fühlen, weil du in der Versuchung nicht fielst, der An­fechtung nicht erlagst — du wurdest ja weder in der einen noch in der andern versucht. Wärst du an meiner Stelle!“

O mein Freund, streite nicht einen unnützen Streit, der dir selbst und einem andern das Leben nur noch mehr verbittert: da ist doch der, welcher sich ganz an deine Stelle setzen kann, der Herr Jesus Christus, der „nachdem er gelitten hat und selbst versucht wurde, denen helfen kann, die versucht werden“ (Hebr. 2,18); da ist der, welcher sich ganz an deine Stelle setzen kann, Jesus Christus, der jede Versuchung in Wahrheit kennenlernte, dadurch daß er in jeder Versuchung bestand. — Ist es Nah­rungssorge, ganz buchstäblich und im strengsten Sinn Sorge um die Nahrung, so daß der Hungertod droht: auch er wurde so versucht; versucht dich tollkühner Wagemut: auch er wurde so versucht; wirst du versucht, von Gott abzufallen: auch er wurde so versucht; ganz kann er sich an deine Stelle setzen, wer du auch seist. Wirst du in der Einsamkeit versucht: auch er, den der böse Geist ja in die Einsamkeit hinausführte, um ihn zu versuchen. Wirst du in der Verwirrung der Welt versucht: auch er, den sein guter Geist verhinderte, sich von der Welt zurückzuziehen, bevor er das Werk seiner Liebe vollendet hatte. Wirst du im großen Augenblick der Entscheidung versucht, wenn es gilt, allem zu entsagen: auch er; oder ist es der nächste Augen­blick, wo du versucht wirst, zu bereuen, daß du alles opfertest: auch er. Wirst du versucht, zu wünschen, daß die Wirklichkeit der Gefahr doch bald da wäre, weil du unter der Möglichkeit zusammenbrichst: auch er; wirst du versucht, verschmachtend dir den Tod zu wünschen: auch er. Ist die Versuchung die, daß du von Menschen verlassen bist: auch er wurde so versucht; ist es die — doch nein, die Anfechtung hat doch wohl kein Mensch erlebt, die Anfechtung, von Gott verlassen zu sein; aber er wurde so versucht. Und so in jeder Weise.

Und darum du, der du versucht wirst, wer du auch bist, ver­stumme nicht in Verzweiflung, als wäre die Versuchung über­menschlich, und als könnte keiner sie verstehen; male dir auch nicht ungeduldig die Größe deiner Versuchung aus, als könnte auch er sich nicht ganz an deine Stelle setzen! Denn willst du wissen, was nötig ist, um in Wahrheit beurteilen zu können, wie groß in Wahrheit eine Versuchung ist, nun so laß es mich sagen. Dazu ist nötig, daß du in der Versuchung bestanden hast. Erst dann erfährst du in Wahrheit, wie groß die Versuchung war; solange du in ihr nicht bestanden hast, weißt du nur die Unwahrheit, nur was die Versuchung, gerade um zu versuchen, dir einbildet, wie furchtbar sie sei. Wahrheit von der Ver­suchung zu verlangen, das ist zuviel verlangt; die Versuchung ist ein Betrüger und Lügner, der sich wohl hütet, die Wahrheit zu sagen, denn seine Macht ist gerade die Unwahrheit. Willst du von ihr in Wahrheit erfahren, wie groß sie wirklich ist, so mußt du der Stärkere zu bleiben suchen, dich bemühen in der Versuchung zu bestehen: so erfährst du die Wahrheit, oder so erfährst du die Wahrheit von ihr. Und darum gibt es nur einen, der in Wahrheit ganz genau die Größe jeder Versuchung kennt und sich ganz an die Stelle jedes Versuchten setzen kann: ihn, der selbst in allen Dingen versucht wurde gleichwie wir; ver­sucht wurde, aber in jeder Versuchung bestand. Nimm dich denn in acht, daß du nicht leidenschaftlich und immer leidenschaft­licher die Größe der Versuchung schilderst und über sie klagst: mit jedem Schritt, den du auf diesem Wege vorwärts tust, klagst du dich selbst nur immer mehr an. Daß du der Versuchung unterlagst, läßt sich auch nicht dadurch entschuldigen, daß du immer übertriebener die Größe der Versuchung beschreibst; denn alles, was du so sagst, ist unwahr, da du die Wahrheit nur da­durch erfahren kannst, daß du in der Versuchung bestehst. Vielleicht könnte dir ein anderer Mensch helfen, wenn du dir helfen lassen willst, ein anderer Mensch, der ebenso versucht wurde, aber in der Versuchung bestand; denn er weiß die Wahr­heit. Aber selbst wenn es keinen andern Menschen gibt, der dir die Wahrheit sagen kann: es gibt doch einen, der sich ganz an deine Stelle setzen kann, ihn, der versucht wurde in allen Dingen gleich wie wir, aber in der Versuchung bestand. Von ihm wirst du die Wahrheit erfahren können, doch nur dann, wenn er sieht, daß es dein aufrichtiger Vorsatz ist, in der Versuchung bestehen zu wollen. Und wenn du dann in der Versuchung be­standen hast, dann wirst du die Wahrheit ganz verstehen kön­nen. Solange du nicht in der Versuchung bestanden hast, klagst du darüber, daß keiner sich ganz an deine Stelle setzen kann; denn wenn du in der Versuchung bestanden hättest, so würde es für dich ja gleichgültig sein, daß keiner sich an deine Stelle setzen könnte, nicht etwas, worüber du zu klagen hättest. Diese Klage ist eine Erfindung der Unwahrheit, die in der Versuchung ist; und diese Unwahrheit meint, ganz könne dich nur einer verstehen, der auch in der Versuchung unterlag, so daß ihr beide euch also verstündet — in der Unwahrheit. Heißt das einander „verstehen“? Nein, hier ist die Grenze, wo alles sich umkehrt: es gibt nur einen, der sich in Wahrheit an die Stelle jedes Versuchten setzen kann — und er kann das gerade darum, weil er allein in jeder Versuchung bestand. Aber zugleich, o, vergiß das nicht —, er kann sich ganz an deine Stelle setzen.

Er setzte sich ganz an deine Stelle, wurde versucht in allen Dingen gleich wie wir — doch ohne Sünde. In dieser Hinsicht also setzte er sich nicht an deine Stelle, kann er sich nicht ganz an deine Stelle setzen, er, der Heilige: wie sollte das möglich sein! Ist der Unterschied unendlich zwischen Gott, der im Him­mel ist, und dir, der du auf Erden bist: der Unterschied ist un­endlich viel größer zwischen dem Heiligen und dem Sünder.

O, und doch, auch in dieser Hinsicht, wenn auch in anderer Weise, setzte er sich ganz an deine Stelle. Denn wenn er, wenn Leiden und Sterben des Erlösers die Genugtuung für deine Sünde und Schuld ist: Wenn das die Genugtuung ist, so tritt das ja an die Stelle für dich; oder er, der die Genugtuung gibt, tritt an deine Stelle, erleidet an deiner Stelle die Strafe der Sünde, damit du erlöst werden mögest, erleidet an deiner Stelle den Tod für dich, damit du leben mögest. Setzte und setzt er sich so nicht ganz an deine Stelle? Daß er sich ganz an deine Stelle setzt, gilt ja hier noch buchstäblicher als wie wir davon in dem Vorhergehen­den redeten, wo es bloß bezeichnete, daß er dich ganz ver­stehen konnte, während du doch an deiner Stelle bleibst und er an seiner Stelle. Aber die Genugtuung der Versöhnung be­deutet ja, daß du beiseite trittst, und er deine Stelle einnimmt: setzt er sich so nicht ganz an deine Stelle?

Denn was ist der „Erlöser“ anderes als ein Stellvertreter, der sich ganz an deine und an meine Stelle setzt?; und worin sonst besteht der Trost der Erlösung als darin, daß der Stellvertreter sich genugtuend ganz an deine und an meine Stelle setzt? Wenn so die strafende Gerechtigkeit hier in der Welt, oder jenseits im Gericht die Stelle sucht, wo ich Sünder stehe mit all meiner Schuld, mit meinen vielen Sünden: so trifft sie nicht mich. Ich stehe nicht mehr an der Stelle, ich habe sie verlassen; ein ande­rer steht an meiner Stelle, ein anderer, der sich ganz an meine Stelle setzt; ich stehe gerettet an der Seite dieses andern, an der Seite meines Erlösers, der sich ganz an meine Stelle setzte! Hab Dank dafür, Herr Jesus Christus!

Mein Zuhörer, solch einen Hohenpriester haben wir. Wer du auch seist und wie du auch leidest: er kann sich ganz an deine Stelle setzen; wer du auch seist und wie du auch versucht wirst: er kann sich ganz an deine Stelle setzen. Wer du auch bist, o Sünder — und Sünder sind wir alle — er setzt sich ganz an deine Stelle! Du gehst nun hinauf zum Altar, wieder wird dir das Brot gereicht und der Wein, sein heiliger Leib und sein heiliges Blut, wieder als ein ewiges Pfand dafür, daß er mit seinem Leiden und Sterben sich auch an deine Stelle setzte, damit du geborgen hinter ihm, am Gericht vorbei, zum Leben eingehen kannst, wo wieder er dir die Stätte bereitet hat.

Übersetzt von Wilhelm Kütemeyer.

Ursprünglich erschienen in: Søren Kierkegaard, Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin. Drei Reden beim Altargang am Freitag (1849).

Hier die Rede als pdf.

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