Walter Lüthi, Zwei Predigten zu Johannes 17,1-8 von 1942: „Wo aber Gottes lebendiges Wort so angenommen wird, da bleiben die Wirkungen nicht aus. Es wird dann hell bei dir drinnen, und dein Fuss hat dann eine Leuchte. Nun kannst du gewisse Tritte tun.“

Zwei Predigten zu Johannes 17,1-8

Von Walter Lüthi

Der Hohepriester: Seine Person

1 Solches redete Jesus, und hob seine Augen auf gen Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da, dass du deinen Sohn verklärest, auf dass dich dein Sohn auch verkläre; 2 Gleichwie du ihm Macht hast gegeben über alles Fleisch, auf dass er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast. 3 Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. 4 Ich habe dich verklärt auf Erden und vollendet das Werk, das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte. 5 Und nun verkläre mich du, Vater, bei dir selbst mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war. (Johannes 17,1-5)

Das wollen wir uns hier, gleich am Eingang des «hohepriesterlichen Gebetes», sagen und, will’s Gott, durch den Heiligen Geist bestätigen und in unsere armen Herzen schreiben lassen: Christus «hat vollendet das Werk, das ihm der Vater gegeben hat, dass er es tun sollte». Lassen wir uns nicht mehr durch den entmutigenden Eindruck niederhalten, Gott habe nichts getan in dieser Welt und für uns Menschen. Und lassen wir uns auch nicht mehr in jene törichte Wichtigtuerei und Selbstüberschätzung hineinhet­zen, als hinge Gottes Werk auf Erden von uns, von einem jeden einzelnen unter uns, ab, als wäre Gottes Sache auf Erden verloren, wenn wir versagen würden! So sind die Könige dieser Welt dran. Die sind von ihren Leuten abhängig und verloren, wenn nicht «der hinterste Mann auf seinem Posten steht». Aber so ist Gott nicht dran. Ohne uns zu fragen und ohne uns zu rufen und ohne uns zu benöti­gen, hat Gott auf dieser Erde sein Werk vollenden lassen ganz allein durch seinen Sohn. Sie haben ihm nicht nach­zuhelfen brauchen, als wäre er schwach und unser bedürf­tig, nein, nein, wir glauben an einen Gott, der mit seiner Sache selber fertig zu werden vermag. Ja diejenigen, die es unternahmen, ihm nachzuhelfen, und die meinten, ihm zu Hilfe eilen oder gar seine Sache retten zu müssen, die sind je und je elendiglich zerbrochen an diesem Unterfangen. Es bleibt dabei, Gemeinde, mag es uns passen oder nicht, mag es uns noch so ärgern, es bleibt bei dem, was Christus hier sagt: «Ich habe vollendet das Werk, das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.»

Worin aber besteht das Werk, das ihm der Vater übergeben hat, und von dem er nun sagt, er habe es vollendet? Chris­tus sagt, es bestehe darin, dass er seinen Vater hier auf Erden – und nun kommt’s, dieses uns etwas fremdartige Wort, das sich wie eine helle Spur durch dieses hohe Kapitel zieht – dass er seinen Vater hier auf Erden «ver­klärt» habe: «Ich habe dich verklärt auf Erden.» «Verklä­ren!» – wie geht das zu? Wie hat er seinen Vater verklärt? Was können wir uns darunter vorstellen? Christus hat seinen Vater zunächst einmal ganz schlicht damit verklärt, dass er aus dem Jenseits, wo er von Ewigkeit her war, in die Zeit hereinkam und Mensch wurde, so Mensch wurde, dass er geradezu sagen kann: «Wer mich sieht, der sieht den Vater.» So hat der Sohn den Vater verklärt, dass er den ewig Unsichtbaren gleichsam «sichtbar» machte hier auf Erden. Und er hat den Vater Schritt um Schritt, Fussbreit um Fussbreit, bis zum letzten Atemzug, sichtbar gemacht. Mit jedem Bissen Brot, den er bricht, schaut er demonstra­tiv zum Himmel, um dem Vater die Ehre und den Dank zu geben vor den Menschen. Und er macht die Ehre Gottes da sichtbar, wo sie auf dieser Erde am schrecklichsten zerstört und bis zur völligen Unkenntlichkeit verwüstet ist, gerade da, wo man dieser armen Erde auch nicht mehr im Entfern­testen hätte ansehen können, dass sie Gottes Erde ist. An Blinden und an Lahmen, an Aussätzigen und an Armen, auch an Reichen, selbst an Toten hat er den Ruhm des Vaters weithin sichtbar aufglänzen lassen. In einer abgefal­lenen Welt, die in Finsternis und Unwissenheit verstrickt ist, in einer Welt, die gefangen ist in Gleichgültigkeit oder Hass gegen Gott und seine Sache, die täglich den Namen Gottes missbraucht, in einer solchen Welt missbraucht er den Namen Gottes nicht, sondern braucht diesen Namen zur Ehre Gottes, nennt ihn, bittet und lehrt uns beten: «Dein Name werde geheiligt.» So geht dies Verklären vor sich, so dass er ganz dem Staub dieser Erde entlang, ja da, wo die Erde am staubigsten ist, die Gebote seines Vaters im Himmel aufrichtet und den Willen Gottes respektiert bis zum Gehorsam am Kreuz. Es ist der bis zum Kreuz Mensch Gewordene, der nun hier vor dem Vater steht und sagt: «Ich habe dich verklärt auf Erden und vollendet das Werk, das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.»

Dadurch aber, dass Christus dies Verklärungswerk vollen­det hat auf Erden, ist er für die arme Welt der «helle Morgenstern» geworden, ist geworden das «Licht der Welt». Und wer diesem Licht nachgeht, der wird nicht mehr im Finstern wandeln. Und wer in diesem Lichte steht, der steht nicht mehr in der Finsternis, sondern ist ein Kind des Lichtes geworden. Aber er ist das Licht der Welt, nicht wir. Er hat vollendet sein Werk und den Vater verklärt, nicht irgendein anderer. Wer einen anderen sucht, der das getan und gekonnt hätte, der soll ihn nur suchen, wenn er nicht vergebene Mühe scheut. Es gibt deren genug, die auf der Suche sind nach Menschen, an denen sie die Verklä­rung Gottes schauen könnten. Ihr alle, die ihr seit Jahr und Tag auf Erden Umschau haltet nach einem Menschen, an dem ihr endlich einmal sehen könntet, dass Gott ist, ihr habt nur zu recht mit eurer bitter enttäuschten Klage, ihr hättet noch nie einen Menschen getroffen, der Gottes Gebote halte und «ein wirklicher Christ sei», an dem man endlich einmal einen Beweis hätte für Gottes Dasein. Ihr habt nur zu recht. Ihr könnt gehen, so weit euch eure Füsse tragen, ihr werdet ihn kaum finden, den Menschen, der euch nicht enttäuschen wird. Eben nicht wir haben den Vater verklärt. Dazu war schon Christus nötig. An was für einem kleinen Ort hat doch immer wieder das Platz, was wir auch im besten Leben zur Ehre Gottes zu tun vermö­gen. Sei froh, wenn du ihm nicht Schande über Schande bereitest. Sind wir nicht alle Kinder mit schmierigen Fingern, die an allem, was sie anrühren, Tatzen hinterlas­sen? Und wir meinen, Gott verklären zu können? Aber nun ist er gekommen in die Welt, gekommen mit dem ganz bestimmten Auftrag, den Vater im Himmel hier zu verklä­ren. Und er hat den Auftrag erfüllt. Der Vater im Himmel ist verklärt, ist ein für allemal verklärt auf Erden. Wer einen Beweis für die Existenz Gottes sucht, der schaue auf Christus. Schau nicht auf Menschen. Verflucht ist, wer sich auf Fleisch verlässt. Schau auch nicht aufs grelle Irrlicht weithin scheinender Tagesereignisse. Da ist Gottes Herr­lichkeit nicht zu sehen. Der «Gott der Geschichte» bleibt ein Gott des Blutes und der Tränen. Schau auch nicht auf unsere Kirchen- und Kapellenlichter. Die Kerzen, die wir hier zur Ehre Gottes aufzustellen versuchen, «russen» ja doch alle mehr oder weniger. Schau auch nicht auf das sorgfältig und nobel abgedämpfte Licht unserer Studierstu­ben und Weisheitstempel. Da wird längst nicht einmal mehr der Versuch gemacht, Gott zu verklären. Schau auf den, dessen besonderer und einmaliger Auftrag es war, den Vater hier auf Erden zu verklären. Schau ausschliesslich auf ihn. Hier ist Engstirnigkeit eine Tugend. Von der Person des Sohnes her, der hier vor dem Vater steht, wird es hell. Vom Angesichte Jesu Christi her kommt jener helle Schein in unsere Herzen, von dem der Apostel Paulus sagt: «Denn Gott, der da hiess das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Gottes in dem Angesichte Jesu Christi» (2. Kor. 4).

Das ist es, was wir nun weiter hören hier: Weil Christus den Vater auf Erden verklärt hat, darum gibt es jetzt unter uns Menschen hier auf Erden das, was man Gotteserkennt­nis nennen darf. «Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.» Man kann jetzt und hier Gott kennen. Ich sage mit Bedacht und ausdrücklich «jetzt». Es kommt in letzter Zeit eine Finsternis daher, die zwar immer vorhanden war, aber es ist ihr jetzt eine besondere Stunde zusammengeballter Macht verliehen. Es kommt jetzt einfach an den Tag, dass ein Mensch dieser dunklen Macht nicht gewachsen ist auf Erden. Wer zum Beispiel meint, er habe dafür zu sorgen, dass es hell bleibt in der Welt, er sei dafür haftbar, dass die Menschen zur Erkenntnis Gottes und Christi kommen, sehe zu, dass er sich jetzt nicht hintersinne. Ihr Eltern, die ihr bedrängten Gewissens eure Kinder jetzt in diese Finsternis hinein schreiten seht, ohne ihnen folgen und ohne sie entscheidend bewahren zu können, ihr alle, die ihr euch irgendwo in der Kirche dafür verantwortlich wisst, dass möglichst viele Menschen, dass alle Menschen zur Er­kenntnis Gottes gelangen, ihr alle, die ihr das Anliegen der inneren und äusseren Mission auf dem Herzen tragt und erkennen müsst, die Finsternis rollt übermächtig, unwider­stehlich heran – ihr alle, werfet jetzt eure Sorge auf den Hohenpriester, der das Werk des Vaters so vollendet hat, dass er ihn verklärte auf Erden, damit die Menschen zur Erkenntnis Gottes und Christi kommen. Müssten wir «Reichsgottesarbeiter» jetzt auf uns schauen, wir würden kurzweg platt gedrückt von der Wucht der Widerstände. Aber schaut nicht auf uns Pfarrer und auf uns «kirchliche Laien», schaut auf Gott und stellt seine Sache auf ihn und auf ihn allein. Er hat das Werk des Vaters so vollendet, dass es jedem Widerstand wird gewachsen sein. Gewiss, es hat sich jetzt ein Sturm erhoben, der allerlei Lichter, auch Kirchen- und Kapellenlichter, zu löschen vermag. Gott erbarm sich unser. Aber kein Sturm wird mehr das Feuer löschen, das auf die Erde zu werfen Christus gekommen ist: «Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.»

Hier wird es hell. Und hier bleibt es hell. Hier ist der Vater verklärt. Aber wie, wenn ich das nicht fassen kann? Wenn die Nacht, die jetzt über den Völkern angebrochen ist, einem das Gemüt umdüstert, wenn Schwermut sich anzu­melden beginnt? Wie, wenn das Licht wohl scheint, aber in mir bleibt es leer, bleibt es finster, bleibt es kalt? Aber schau jetzt auch nicht in dich hinein, wo es vielleicht tatsächlich finster ist, kalt und leer. Schau jetzt von dir weg, schau jetzt auf den ewigen Hohenpriester, ganz nur auf sein Angesicht hin. Da ist der Vater verklärt auf Erden. Oder wie, wenn es tatsächlich so wäre, was letzthin ein Natur­wissenschaft­ler in dürren Worten festgestellt hat, indem er sagte: «Die Glaubensfähigkeit nimmt im heutigen Men­schengeschlecht rapid ab»? Wie, wenn sie eines Tages bis zum letzten Rest geschwunden wäre, diese Glaubensfähig­keit? Aber ich möchte fragen: Hat Gott seine Sache hier auf Erden auf unsere Glaubensfähigkeit gebaut, oder auf das Werk, das Christus für uns vollendet hat? Glaubensfähig­keit hin, Glaubensfähigkeit her, der Sohn hat den Vater verklärt auf Erden und hinzugefügt: «Das ist das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, erkennen.»

Aber wie, wenn ich nicht will? Wenn ich wohl Zeiten habe, da ich das Verklärungslicht sehen möchte und mich möchte hineinziehen lassen, aber dann will ich plötzlich wieder ganz und gar nicht? Wenn die natürliche Faulheit des Fleisches wieder obenauf kommt, so dass alle Stränge reissen, und wenn die Trägheit des Herzens sich wie Blei in meinen Tag hineinlegt, so dass ich bestimmte Sünden immer wieder mehr liebe denn Gott? Wie, wenn du seit Jahr und Tag alle Morgen und alle Abende bittest: «Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, gewissen Geist», aber ach, es ist so wenig, kaum der Mühe wert, was wirklich an Neuem zu sehen wäre an dir! So wenig, dass es auch im besten Fall bei beschämenden Anfängen bleibt, und dass solche Erneuerung, wenn’s gut geht, den Wert und die Bedeutung kleiner Zeichen behält! Ist das denn nicht zum Verzweifeln? Es wär’s, ja, es wäre zum Verzweifeln, wenn du auf dich und dein Herz schauen müsstest. Aber wer befiehlt dir denn, auf dich zu schauen? Trotz deiner und trotz deines Herzens hat Christus auf Erden den Vater verklärt. Ja gerade darum, weil es um unser Herz so steht, hat er sein Werk auf dieser Erde unternommen, ohne uns zu Hilfe zu rufen, weil er wusste, wie sehr er und wie sehr der Vater im Stich gelassen wäre, wenn er auf unser Herz hätte bauen wollen. Das gerade ist ja schliesslich die rechte Erkenntnis des Vaters und des Sohnes, dass er dennoch der Vater ist, und dass Christus darum Christus ist, weil er sich meiner Schwachheit priesterlich, das heisst eben stellvertretend, erbarmt.

An unserer Schwachheit hat Christus den Vater verklärt, so verklärt, dass er uns das ewige Leben brachte: «gleichwie du ihm Macht hast gegeben über alles Fleisch, auf dass er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erken­nen.» Wir fangen in letzter Zeit wieder ganz besonders an, darüber nachzudenken, was das heisst: «Leben». Was für eine ungesicherte und bedrohte Sache ist doch jetzt das geworden, was wir unter «Leben» verstehen! An was für einem blöden Faden sehen wir dies Leben jetzt hängen! Wie ganz anders fangen wir jenes Lied wieder an mitzusin­gen, das mit den „Worten beginnt: «Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen.» Und nun sagt Christus uns, die wir ganz besonders arm sind da, wo es sich um unser Leben handelt, nicht nur ein achtzigjähriges, auch nicht nur ein hundertjähriges oder tausendjähriges, sondern gleich ein ewiges Leben zu. Ewiges Leben! Da wird es klar, dass unsere Hände nicht taugen, dies zu fassen. So wenig unsere Hände dazu geschaffen sind, glühende Kohlen zu halten, so wenig sind wir geeignete Träger des ewigen Lebens. Wir sind Fleisch. Je krautiger wir uns benehmen in dieser kurzen Erdenzeit, umso deutlicher kommt’s heraus, dass wir Fleisch sind. Das Fleisch verdirbt wie abgehauenes Gras und wie die Blume auf dem Felde. So schlimm es steht um unsere Glaubensfähigkeit, so schlimm steht es um unsere Lebensfähigkeit. Oh, ich verstehe sie, verstehe sie nur zu gut, die angesichts dieses Tatbestandes es nicht zu fassen vermögen, dass wir, wir! ewig leben sollen. Wem die Hinfälligkeit allen Fleisches Not bereitet, ist manchmal gläubiger, als wer allzu rasch und pausbackig vom ewigen Leben redet, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Aber Gott sei es gedankt. Nicht auf unsere Lebensfähigkeit baut und schaut Christus, wenn er uns das ewige Leben zusagt, sondern auf die Tatsache, dass ihm der Vater «über alles Fleisch hat Macht gegeben». Nicht wir haben das ewige Leben in unseren fleischernen Händen zu tragen, sondern er trägt es in seinen Händen, die eigens dazu auf diese Erde gekommen sind, um uns das ewige Leben zu bringen. Nicht wir, Gott sei es gedankt, nicht wir sind die Träger des ewigen Lebens, sondern er ist vom Vater zum Träger dessen gemacht, was sonst kein Fleisch tragen könnte. Ihm ist Macht gegeben über alles Fleisch. Und nun lasst die Totenglocken heulen, lasst den Tod würgen, lasst die Krematorien brennen, lasst die Würmer fressen, was zu fressen ist, unser ewiges Leben ist in guten Händen. «Gleichwie du ihm Macht hast gegeben über alles Fleisch, auf dass er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast.»

Nun aber ist zu beachten, dass hier Christus als einer redet, der selber noch im Fleisch ist. Er steht hier am Vorabend seines Kreuzesleidens. Seine Passion hat er nicht hinter, sondern noch vor sich. Er wird bald von den Menschen erniedrigt, verwüstet und geschändet werden. In dieser Stunde seiner völligen Verhüllung wird selbst die Sonne ihre Klarheit verlieren. In dieser Stunde wird es offenbar werden, dass der Mensch, auch der fromme Mensch, nicht nur nicht imstande ist, Gott zu verklären, sondern dass dieser Mensch sogar fähig wird zum äussersten Gegenteil von dem, was man Verklärung Gottes nennen könnte: Der Mensch kreuzigt den Sohn. Aber durch diese Stunde hindurch vollendet Christus nun erst recht das Werk des Vaters, verklärt den Vater im Himmel bis dort, wo wir ihn rufen hören: «Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.» Und drei Tage nach diesem letzten steilen Weg­stück zum Kreuz hinauf wird es vor aller Welt an den Tag kommen, wie der Vater den Sohn verklärt und ihm einen Namen gibt, der über alle Namen ist. Am Ostertag sehen die Jünger ihren Herrn in seiner sieghaft strahlenden Herrlichkeit. Im Geheimnis der Ostern kommt es an den Tag, wie der Vater dem Sohn Macht gegeben hat über alles Fleisch und wie allen, die den Sohn erkennen, das ewige Leben zuteil wird: «Solches redete Jesus und hob seine Augen auf gen Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da, dass du deinen Sohn verklärest, auf dass dich dein Sohn auch verkläre.»

Und nun, nachdem der Sohn wie ein Knecht nach getanem Tagewerk sich vor den Vater hingestellt und ihm gesagt hat: «Ich habe dich verklärt auf Erden und vollendet das Werk», nun bringt er dem Vater die Bitte dar: «Und nun verkläre mich du, Vater, bei dir selbst mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.» Man hat gesagt, das sei das einzige Gebet, das Jesus in eigener Sache gebetet habe. Aber wenn man genauer hinhört, trifft das nicht zu. Chris­tus bittet auch hier im Grunde genommen nicht für sich. Nicht um seinetwillen erbittet er sich vom Vater die Verklärung aus, sondern um unsertwillen und im Blick auf diese arme Erde. Wohl weiss er, dass er hienieden in seiner Menschengestalt das Werk des Vaters vollendet hat. Das Tagewerk, das ihm vom Vater zwischen Weihnacht und Karfreitag eingeräumt war, geht nun zwar zur Neige. Aber damit gedenkt Christus nun, und wir sagen noch einmal, Gott sei es gedankt, noch nicht Feierabend zu machen. Christus hört «das Seufzen aller Kreatur, die sich noch immerdar ängstet». Dies Seufzen darf nicht ewig bleiben. Er weiss um den Tag der letzten Vollendung, da der Herr «die Gefangenen Zions erlösen wird». Er wird als «Erstling aller Auferstandenen» nicht allein bleiben, es wird ein Tag kommen, da alle Gräber sich öffnen und das Meer seine Toten wiedergeben wird. Was jetzt nur zeichenhaft ge­schieht auf Erden, das wird in einem neuen Himmel und in einer neuen Erde vollendet werden. Bis zu dieser letzten Vollendung gibt es noch vieles zu tun für Christus. Wenn er nun am Ende seines Erdentages vom Vater die Verklä­rung erbittet, dann hat das den Sinn, dass er sich damit dem Vater sogleich wieder zur Verfügung stellt fürs Tagewerk, das seiner in der Erhöhung wartet. Er wird bald von der Ewigkeit her als ewiger Hohepriester das Werk des Vaters weitertreiben und nicht ruhen, bis dass er erscheinen wird in seiner Herrlichkeit, und alle heiligen Engel mit ihm.

Der Evangelist Matthäus berichtet von jenen drei Jüngern, die dem Herrn bis auf den Berg der Verklärung folgen dürfen, dass dort ein Moment eintritt, da sie auf ihr Ange­sicht fielen und ihre Augen verhüllten, weil sie nicht wagten, die Herrlichkeit Gottes zu schauen. Ähnlich sind wir hier dran. Wir sind in diesem 17. Kapitel Zeugen einer einsamen Zwiesprache zwischen Vater und Sohn. Diese geht hoch über unsere Köpfe hinweg. Und doch geht sie uns an. In unserer Sache steht der Sohn priesterlich vor dem Vater. Darum hindert er es nicht, dass menschliche Augen und Ohren hier als Zeugen zugegen sind und wie aus weiter Ferne die hohen Worte auffangen dürfen mit ihren unzulänglichen irdenen Gefässen. Aber von sehr hoch oben kommen sie zu uns Menschen herüber, diese Worte. Wir sind es ja zwar als Schweizer gewohnt, an hohe Berge hinaufzuschauen. Einigen von uns ist es sogar auch schon vergönnt gewesen, Viertausender zu besteigen. Hier aber hört das Besteigen für uns Menschen auf. Hier schauen wir hinüber zu den Bergen, die alle anderen Berge überstrah­len. Das sind die wahrhaft ewigen Berge, von denen uns Hilfe kommt. Hört nicht auf, aus aller Nacht und Not heraus hinüberzuschauen und euch hinzugeben an diesen hohen und fernen Glanz. An diesem Trachten nach der Herrlichkeit Gottes wird dies Geschlecht gesunden, gesun­den zum ewigen Leben.

Der Hohepriester: Sein Dank

6 Ich habe deinen Namen offenbart den Menschen, die du mir von der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort behalten. 7 Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, sei von dir. 8 Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben; und sie haben’s angenommen und erkannt wahrhaftig, dass sie glauben, dass du mich gesandt hast. (Johannes 17,6-8)

«Menschen, die du mir von der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben», so redet jetzt der Meister über seine Jünger. So ist’s also zugegangen damals, als Jesus dem See Genezareth entlang schritt, zwei Männer bei der Arbeit traf und weiter unten nochmals zwei, die mit ihrem Vater zusammen die Netze flickten, als er sie zur Nachfolge aufforderte, als sie ihre Netze und alles, was sie besassen, verliessen und sich ihm anschlossen. So ist’s zu- und hergegangen, als er am Zoll Matthäus traf und ihn einlud: «Folge mir nach», so dass er seine Staatsstelle verliess und Jünger wurde. Das waren Menschen, die der Vater dem Sohn gegeben hat. Und in jedem neuen Jünger sah er ein neues Geschenk, bis dass die Zahl der Zwölf voll war. Also nicht er hat sie gewonnen mit dem Feuer seiner Rede, mit seinen Wundertaten, mit der Macht seiner Persönlichkeit. Nein, als die Berufung der Jünger auf Erden vor sich ging, da war im Himmel ein Beschluss vorausge­gangen. Im Himmel sind seine Jünger erwählt und ihm zugeteilt worden. «Menschen, die du mir von der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gege­ben.» Das ist wahrlich eine erstaunliche Feststellung.

Der Meister sieht in seinen Jüngern Gaben, die er dem Vater zu verdanken hat! Wir aber, wir spielen gar oft die vielgeschäftigen, unentbehrlichen Knechtlein, die sich einbilden, jagen und rennen und laufen zu müssen, um Menschen für Gott zu gewinnen. Wir schauen immer wieder auf uns, unsere Geschicklichkeit, unsere Leistung. Und doch steht geschrieben: «Kinder sind eine Gabe des Herrn, und Leibesfrucht ist ein Geschenk.» Wenn es das schon von den natürlichen Kindern heisst, wie viel mehr gilt es dann von den Gotteskindern! Wenn du selber ein Gotteskind sein darfst oder wenn du ein Vater oder eine Mutter bist, deren Nachkommen Gotteskinder sind, dann ist das wahrhaftig nicht dein Ruhm, sondern Gottes unbegreif­liches Gnadengeschenk. Wenn dem nicht so wäre, wer wagte es dann ernstlich, Vater und Mutter zu werden? Wer könnte dann Erzieher oder Seelsorger sein, wenn wir uns nicht im Glauben auf Jesu Wort stützen dürften: «Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben!»

Diese Lehre von der Gnadenwahl – um diese geht es doch hier! – ist heute im Blick auf die heranwachsende Jugend in ganz besonders heller Weise Frohbotschaft. Die letzte Entscheidung, das letzte Wort über unsere Söhne und Töchter fällt Gott sei Dank nicht auf der Erde. Freilich haben wir uns klar zu sein darüber, dass alle Frohbotschaft für uns Menschen nicht nur freudig, sondern auch ärgerlich tönt. Wenn es darum jetzt unter uns welche gibt, die in Unmut, wenn nicht gar in Zorn und Trotz geraten, darf uns das keineswegs verwundern. Wir kommen doch eben vom «pädagogischen Jahrhundert» her, von einem Zeitalter, da die Erziehung alles war. Ich kenne ein Dorf im Kanton Bern, da sieht die Sekundarschule aus wie eine Kirche auf hochragendem Hügel, ausgestattet mit Turm und Uhr, während die Kirche im Winkel steht und einer Efeu bewachsenen Ruine gleicht. Das ist für den Zeitgeist von gestern bezeichnend. Ich erinnere mich an ungezählte Gespräche bei Anlass von seelsorgerlichen Besuchen hin und her in den Häusern zu Stadt und Land. Vom Evangelium, von der Rettung durch Christus, wollte man nichts wissen, kam aber das Gespräch auf Erziehung, dann wurde es sofort munter. Für eine Aussprache über Erziehung sind die Menschen zu haben. Das war unser Stolz, das war das strahlendste Juwel in jener Krone, die wir Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts uns selber aufgesetzt hatten: Erziehung, Bildung, Menschenformung. Wir hatten es im Handgelenk, das Erziehen. Heinrich Pestalozzi war, sicher gegen seinen eigenen Willen, recht eigentlich der Heilige dieses erziehungstrunkenen Geschlechtes geworden. Und was war das Ergebnis? Wir vermochten aus den Menschen zu machen, was uns gefiel, «ein Bild, das uns gleich sei»; wir vermochten aus ihnen auch zu machen, was dem Teufel gefiel, aber niemals können wir aus den Menschen das machen, was Gott gefallen würde. Das ist und bleibt Geschenk. Da stehen wir an der Grenze unserer Menschen-Beeinflussung und Menschen-Formung. Ein Gotteskind kann nur geboren werden aus jenem Geist, der nicht unser ist. Gotteskind wird man nicht durch eine Methode, sondern durch ein Wunder hindurch. Darum lautet das Hauptwort der Heiligen Schrift nicht «Erziehung», sondern «Rettung», und darum ist Christus nicht der Erzieher und Lehrer, sondern der Retter des Menschengeschlechts. Wir haben lange Zeit auch in der Kirche diesem Zeitgeist gefrönt, haben lange genug auch gemeint, wir könnten es, haben schliesslich auch angefangen, die Menschen ein wenig kirchlich und christlich zu erziehen. Was ist daraus geworden? Ein Abendland mit christlichem Anstrich. Aber was wir den Völkern an christlicher Wohlanständigkeit beigebracht hatten, fiel beim ersten Beben der Erde herun­ter wie schlechter Verputz. Auch unsere christliche Erzie­hung hat versagt. Nicht versagen aber wird die Rettung. Die «Menschen, die der Vater dem Sohn gegeben hat», die bleiben ihm. Mit den Menschen, über denen das Geheimnis der Rettung, der Gotteskindschaft, der Gnadenwahl liegt, baut Christus seine Gemeinde.

Wenn nun aber doch die Entscheidung schon beim Vater gefallen ist, was hat dann Christus noch zu tun? Bleibt für ihn dann auch noch etwas zu tun an ihnen? Ja, freilich. Und zwar tut er an ihnen, wie er hier klar sagt, zweierlei. Einmal sagt er: «Ich habe ihnen offenbart deinen Namen», und dann: «Ich habe ihnen dein Wort übergeben.»

Christus offenbart den Menschen, die er sich vom Vater schenken lässt, den Namen des Vaters. Das christliche Abendland kannte zwar den Namen Gottes. Aber dieser Name hatte allen Kredit verloren, war leer und hohl geworden. Aber nun ist Christus gekommen und hat dem Namen seines Vaters durch seine Tat und durch sein Wort wieder Gewicht, Geltung und Respekt verschafft. Als Christus in diese Welt einging, da fingen die Menschen wieder an, den Namen Gottes zu fürchten, auf ihn zu trauen und zu bauen. Wer auf Christus schaut und von Christus her den Namen Gottes kennt, der weiss: Ich rufe nicht ins Leere, wenn ich Gott anrufe, und der weiss auch: Es ist nicht nichts, wenn ich mein Werk in dieser Welt im Namen Gottes beginne, fortführe und beschliesse. Oh, ein Ge­schlecht, das wieder im Namen Gottes an sein Tagewerk ginge! Ich besuchte letzthin auf der Durchfahrt zwischen zwei Zügen hinein in Schwyz das Landesarchiv. Dort sind all die alten Bundesverträge aufgestellt. Mit steigender Ehrfurcht, aber auch mit steigendem Heimweh, liest man von Brief zu Brief immer neu wieder die Eingangsworte: «In nomine Domini, Amen!» Im Namen Gottes, Amen. Wenn das nicht nur eine leere Formel ist, dann gelten Verträge im Grossen und im Kleinen, auch Eheverträge, und wir haben dann wieder Boden unter den Füssen in Familie und Volk. Solche Schreiberformeln werden mit Kraft und Leben gefüllt, sobald Christus in seinem Wort einem Geschlecht den Namen seines Vaters offenbart. Wenn wir wieder anfangen, in Christus Gott unseren Vater zu nennen, dann wird uns auch wieder aufgehen, was das heisst, auf diesen Namen getauft zu sein. Auch der Tauf­schein hört dann auf, ein Papier ohne Deckung zu sein. Dann wird auch die Taufe wieder zu einem lebendigen Siegel, das denen aufgedrückt ist, die Gott gehören. Wie oft liest man bei neu entstandenen Strassenzügen schon während der Bauzeit an diesem oder jenem Haus die Aufschrift: «Verkauft»! Wer getauft ist, über dem steht gleichsam die Aufschrift: «Verkauft». Es gibt da nichts mehr zu markten. Als Getaufter bist du verkauft und gehörst jetzt Gott. Das heisst: «Ich habe ihnen offenbart deinen Namen.»

Und dann das zweite, das Christus an denen tut, die ihm der Vater gegeben hat: «Die Worte, die du mir gegeben hast, die habe ich ihnen übergeben.» Die Worte! Ach, das wissen wir ja auch, wie schwach und wirkungslos, wie verachtet Gottes Worte unter uns geworden und wie sehr sie aus Kurs und Kraft gefallen sind. Aber dadurch, dass das «Wort Fleisch wurde und unter uns wohnte», kamen sie wieder in Kurs und Wirkung. Da gab es einen Hauptmann von Kapernaum, der sagte: «Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund.» Da gab es einen Petrus, der sich entschloss, «auf dein Wort hin das Netz auszuwerfen». Jene Menschen, die es miterlebten, als Jesus ins Grab des Lazarus hinein die Worte rief: «Lazarus, komm hervor», die haben aufgehört, Gottes Wort zu «vernütigen» und zu verachten. So hat Christus den Menschen die Worte gegeben, die er selber vom Vater erhalten hat.

Das tat Christus. Aber nun, was bleibt den Jüngern zu tun übrig? Wenn die Entscheidung über die Jünger doch beim Vater gefallen ist, bleibt ihnen dann auch noch etwas zu tun übrig? Ja, freilich, und zwar dreierlei. Von ihnen sagt hier der Meister: «Sie haben’s angenommen und erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und glauben, dass du mich gesandt hast.»

«Sie haben’s angenommen.» Das ist das erste, was die Jünger tun. Sie nehmen das Wort, das der Vater ihnen durch Christus gegeben hat, an. Sie haben für dieses Wort Raum und Herberge. Sie haben die Gnade, zu denen zu gehören, von denen geschrieben steht: «Wie viele ihn aber annahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu heissen.» Sie tun dem Wort, das sie vom Himmel her besuchen und bei ihnen Wohnung nehmen will, die Türe auf. An ihnen ist das Wunder geschehen, dass Gottes Wort eine offene Tür fand, so dass es hineinschreiten konnte zu ihnen. Das Wort ist nicht nur bis zu ihrem Ohr gelangt, hat ein wenig die Luft erschüttert und ist dann wieder verhallt, sondern ist hineingegangen ins Herz und in den Verstand, in die Gefühle und in den Willen hinein und hat vom ganzen Wesen Besitz ergriffen. Wo aber Gottes lebendiges Wort so angenommen wird, da bleiben die Wirkungen nicht aus. Es wird dann hell bei dir drinnen, und dein Fuss hat dann eine Leuchte. Nun kannst du gewisse Tritte tun. Gottes Wort, das angenommen wird, wird nun zum Ätzstoff, der Unge­sundes und Ansteckendes wegätzt, so dass Christus den Jüngern sagen kann: «Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe» (Kap. 15). Und weiter wird es zum Nährstoff, der uns täglich baut und erquickt und vor geistlicher Unterernährung bewahrt. Und es wird zum Impfstoff, der uns widerstandsfähig macht gegen die Verwesungskräfte der Hölle und des Grabes. So ist Gottes Wort, wo es von den Jüngern angenommen wird, nicht nur wie ein Feuer und ein Hammer, der Felsen zerschmeisst, sondern auch wie ein Same, der Leben weckt, wie Milch und Brot als Wegzehrung zum ewigen Leben.

«Sie haben’s angenommen», und dann fügt Jesus hinzu «und erkannt». Angenommen und erkannt. Beachte hier die Reihenfolge. Wir versuchen es immer umgekehrt, wollen zuerst erkennen und dann erst annehmen. Aber solange du zuerst erkennen willst, so lange bleibt dir Gottes Wort verschlossen. Darum annehmen! So wie das Kind einen Apfel annimmt, so wie man von der Post ein Paket in Empfang nimmt, vielleicht etwas neugierig, wer wohl der Absender sei, aber man nimmt’s an, so sollen wir Gottes Wort annehmen, ohne vorher erkennen und verstehen zu können, einfach annehmen!

Solange du das Opfer des Verstandes und des Eigenwillens nicht bringst, solange du nicht bedingungslos dazu bereit bist, anzunehmen, so lange bleibt dir die Bibel verschlos­sen. Wer aber annimmt wie ein Kind, der fängt dann an zu erkennen. Wer sozusagen «blindlings» annimmt, bei dem bleibt es nämlich dann nicht dunkel, sondern es fängt dann bei ihm an hell zu werden. Dann aber, wenn du angenom­men hast, fängt Gott an mit dir zu reden, und du darfst dann schreiten von Klarheit zu Klarheit. Wer das Wort annimmt, der darf «seine Herrlichkeit sehen, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes voller Gnade und Wahrheit». Nun fällt es dir wie Schuppen von den Augen, und es geht dir auf, wer Christus ist. Die Person Christi war damals umstritten, heute nicht weniger. Die einen sagten, er sei von den Menschen, die andern, er sei vom Teufel, andere, er sei von Gott. Wer ihn annimmt wie ein Kind, der darf erkennen, dass Christus wahrhaftig von Gott ist mit allem, was er sagt und tut.

Und nun das dritte, das die auserwählten Jünger tun dürfen: Annehmen, erkennen und – glauben! Beachte die Steige­rung. Glaube ist mehr als Erkenntnis, weil der Glaube aufs Schauen verzichten kann, so wie es heisst in jenem schlich­ten Lied: «Ich will die Augen schliessen und glauben blind.»

So, liebe Christen, sind, wir fassen zusammen, die «Rol­len» verteilt: Der Vater im Himmel hat die Jünger dem Herrn gegeben. Christus hat den Jüngern den Namen des Vaters und das Wort des Vaters gebracht; die Jünger ihrerseits aber haben «angenommen, erkannt und ge­glaubt».

Und nun vergegenwärtigen wir uns noch einen Augenblick die Lage, in der sich Jesus mit seinen Jüngern hier befindet. Es sind im Ganzen elf Männer auf die hier Christus seinen Blick gerichtet hat, noch elf sind’s, einer ist ihm schon wieder genommen worden. Wir möchten nach menschli­chem Verstand fragen: Ist das nun alles? Ist das nun das Resultat seiner unsäglichen Bemühungen? Jeder andere würde wehmütig antworten: Ja, das ist alles, was mir übrig bleibt. Aber er, was tut er? Er dankt dem Vater in diesem Gebet für die elf, die er ihm gegeben und gelassen hat. Jeder andere würde, und mit gutem Grund, in Unruhe geraten und zur Anstrengung rufen, um die Zahl der Getreuen noch etwas zu erhöhen und das Ergebnis der Lebensarbeit noch ein wenig zu verbessern. Aber nein! Welch völlige Abwesenheit von Ängstlichkeit! Weil der Vater es ist, der ihm diese elfe gegeben hat, darum sieht er das Werk trotz dieser geringen Anzahl auf dieser Welt gesichert. Eine geradezu majestätische Stille liegt hier auf seinen Worten, als wollte er etwa sagen: «Nur elf, fragt ihr? Ich sage ja, elf! Zur Zeit des Noah war’s nur einer, und auch zu Abrahams Zeit, mir aber hat der Vater gleich deren elf gegeben.» Aber es ist auch da wie bei Elia: Wo einer sichtbar wird, dem der Vater die Vollmacht gegeben hat, dann fällt auf ihn eine Schar von siebentausend Verborge­nen, die «ihre Knie nicht gebeugt haben vor Baal». So wird auch hier die Stunde schlagen, von der geschrieben steht: «Es wurden an diesem Tage hinzugetan bei dreitausend.» Darum sehen wir hier den Hohenpriester voll Dank.

Und schliesslich noch ein Letztes: Eine Hausfrau hat mir letzthin anlässlich eines Hausbesuches geklagt, sie habe vor Jahren ein Gärtchen angelegt und viele Blumen hineinge­pflanzt. Und nun sei ihr letzthin beim Umspaten aufgefal­len, wie sehr alle feinen Sorten im Verlauf der wenigen Jahre verschwunden seien, die gemeinen Arten aber seien am Leben geblieben. Und, fügte sie dann etwas melancho­lisch hinzu, das sei fast wie ein Bild dieser Welt und Zeit. So sei es halt: Die «feineren Sorten» müssten verschwin­den, die gemeinen aber nähmen überhand. Aber, möchte ich nun fragen: ist die Frage, ob feine oder harte Sorten, da wo es Menschen betrifft, letztlich entscheidend? Ist nicht vor allem das eine wichtig und nötig, dass Gott sie ge­pflanzt hat und ihr Gärtner ist? Gott aber, das sagt uns die Frohbotschaft unseres Herrnwortes, Gott hat seinen Garten bepflanzt mit allerlei Sorten. Diejenigen, die er gepflanzt hat, die werden nicht mehr verschwinden. Sie sind «wie ein Baum, gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht». Darum ruht hier der Blick des Hohenpriesters voll Dank gegen den Vater auf denen, die «du mir von der Welt gegeben hast». Und voll Dank und Anbetung stellt er fest: «Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort behalten. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, sei von dir. Und die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben; und sie haben’s angenommen und erkannt wahrhaftig, dass ich von dir ausgegangen bin, und glauben, dass du mich gesandt hast.»

Quelle: Walter Lüthi, Johannes. Das vierte Evangelium ausgelegt für die Gemeinde, Basel: Friedrich Reinhardt, 1942.

Hier der Text als pdf.

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