Von Rudolf Bohren
Von Gottes Trost will ich reden. Den Gott will ich euch rühmen, der euch tröstet. Gott tröstet. Keiner und keine soll ungetröstet aus dieser Kirche gehen. Was ich heute möchte, ist nur dies, Gottes Trost weitergeben – wie ich ihn erfahren habe. Ich kann diesen Trost nicht besser weitergeben also so, daß ich den Text auslege, mit dem Paulus seinen 2. Korintherbrief beginnt.
Gott tröstet, indem er uns seine Nähe spüren läßt. Er läßt uns seine Nähe spüren, indem er nicht stumm und verborgen bleibt. Er bleibt nicht stumm und verborgen, indem er sich zu erkennen gibt als der, der er ist. Gott tröstet, indem er unser Gott ist. Der Gott, der uns tröstet, ist unser Gott als »Vater unseres Herrn Jesus Christus«. Und das heißt: Gott tröstet nicht obenhin, sondern mit seinem ganzen Gottsein. Sein Trost ist nicht irgendein Streicheltrost. Er kommt vielmehr aus blutigem Ernst. Ihm selbst ist das Trösten schwer geworden, sah er doch seinen Jesus Christus am Kreuz hängen, hörte er ihn doch verzweifelt schreien: »Warum hast du mich verlassen?« Gott tröstet als der, den Jesus Christus trostlos leiden ließ. Gott tröstet als der, der selber litt, indem der Sohn litt. Gott, der Vater unseres Herrn Christus, ist der Gott im Schmerz. Wir können uns diesen Schmerz des Vaters um den sterbenden Sohn nicht vorstellen, können ihn nicht ausmessen, nicht wägen. Er ist uns zu groß; denn er ist Gottes eigener Schmerz. Und unser Schmerz vergeht vor seinem Schmerz, unsere Trauer schmilzt in seiner Trauer: »Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Gott im Schmerz des Karfreitags«; denn nach drei Tagen, da ist er gleichsam aufgewacht aus der Erstarrung, aus der Lähmung und Betäubung seiner Schmerzen um den Sohn und zeigt sich als »Vater des Erbarmens«, als »Gott alles Trostes«, indem er den Sohn nicht im Tod läßt, sondern ihn aus dem Grab holt. Gottes Trost ist das Ende eines Grabes: das Grab hat seine Funktion verloren. Es hat keinen Inhalt mehr.
Ich habe am Grab gestanden, habe gesehen, wie der Sarg versenkt wurde, der Sarg mit meiner Frau. Und da, in dem Moment, hat mich blitzartig der Gedanke durchzuckt: »Was da versinkt, wird wieder herauskommen. Was da verschlossen liegt, wird befreit werden. Einmal wird all das Sarg- und Grabwesen explodieren – eine Explosion ins Leben hinein.« – »Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Gott im Trost des Ostertages.«
Ich weiß nicht, wer von uns das nächste Mal an einem Grab steht und den Sarg mit einem geliebten Menschen versinken sieht. Aber das weiß ich, daß er dann denken darf, was ich gedacht habe. Sarg und Grab sind nicht endgültig. Christus kommt wieder und mit ihm eine Explosion ins Leben hinein, da alle Gräber und Särge ihre Funktion verlieren, weil die Toten auferstehen. – »Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Gott im Trost des Jüngsten Tages.«
Und nun spricht Paulus vom Trost Gottes »in aller unserer Bedrängnis«. Er weiß, daß wir Christen sind. – Die Trauer um einen Toten gehört sicherlich zu dieser Bedrängnis; aber diese Bedrängnis umfaßt das ganze Christenleben. Solange unser Christus noch nicht sichtbar wiedergekommen ist, solange der Tod umgeht, gibt es Bedrängnis: Dürre der Felder, Unfälle, Schwermut, Verfolgung, Unterdrückung. Indem wir Menschen sind, nehmen wir teil an der Bedrängnis alles Lebendigen durch den Tod.
Die Christenmenschen aber erleiden noch eine besondere Bedrängnis. Indem sie sich zu Christus halten, nehmen sie teil am Leiden dessen, der am Karfreitag am Kreuz hing; sie gehen den Weg ihres Herrn, schreien irgendwo und irgendwann und irgendwie mit Christus am Kreuz: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Es steht nirgends geschrieben, daß die Christen es besser haben sollen als ihr Herr: Wenn wir in unserem Brief weiterlesen, lesen wir, daß der Apostel eine Erfahrung mitteilt. Der Erfahrung des Trostes geht eine Erfahrung von Leiden voraus.
Da wir als Gemeinde hierzulande uns der Umwelt angepaßt haben, haben wir wenig Erfahrung von der Art des Apostels, daß die Leiden Christi überaus reichlich über uns kamen. Eine laue und gleichgültige Gemeinde leidet nicht. Laue und gleichgültige Christen leiden kaum. – Ich vergesse nicht, wie mir einmal ein Christ aus einer verfolgten Kirche sagte: »Ihr in Deutschland, ihr habt die Wissenschaft. Aber wir haben die Erfahrung.« Ich denke, er meinte die Erfahrung des Leidens und des Trostes.
Die Gefahr aller Bedrängnis ist die, daß sie uns einredet, es gebe für uns keinen Ausweg mehr. Die Gefahr aller Bedrängnis ist die Resignation, die uns Gottes Nähe verdunkelt. Und die Trauer hat ihr Wesen darin, daß der Trauernde keine Zukunft mehr, sondern nur noch Vergangenheit hat. Aber nun sind wir hier als Gemeinde versammelt, damit »der Vater des Erbarmens« uns tröstet, uns einen Weg zeigt in der Bedrängnis und Trauernden die Zukunft öffnet.
Ich weiß nun noch nicht, in welche Bedrängnis wir als Christengemeinde noch hineinkommen. Ich weiß nicht, in welche Trauer und Trübsal jeder einzelne von uns hineingeführt wird. Aber das weiß ich, daß der »Vater des Erbarmens« gerade dort in Trauer und Trübsal »unser Vater« sein wird. Das weiß ich, daß in aller Bedrängnis der Gemeinde der »Gott alles Trostes« unser Gott sein wird, »der uns tröstet bei aller unserer Bedrängnis«.
Gott tröstet, indem er uns nahe ist, indem er sich uns zu erkennen gibt. Gott tröstet in und durch seine Gemeinde. – Für mich war das ein schönes Erleben, daß ich beim Tode meiner Frau spürte: ich bin nicht allein in dem, was mich betroffen hat. Wenn ich sage: ich habe in schwerem Leid Gottes Trost erfahren, dann kann ich auch sagen: ich habe in meinem Leben als Pfarrer und als Professor wohl noch nie so stark erfahren, daß die Gemeinde Jesu Christi, die wir glauben, eine Wirklichkeit und eine Kraft ist. – Da kam einer, der hatte ein Psalmwort gehört und sagte es mir weiter, ein Wort, das mich aus der Erstarrung löste. Da schrieben und sagten mir Leute, daß sie für mich und die Meinen beteten, und es war beinahe körperlich zu spüren, daß das geschah. Gott hat mich in und durch die Gemeinde getröstet.
Von der Erfahrung her, die ich machte, möchte ich Gottes Trost auch so weitergeben, daß ich Ihnen allen als Gliedern der Gemeinde sage: Ihr habt ein Trostamt in dieser tristen Zeit. Trost wird euch mitgeteilt, damit ihr andere tröstet. Im Alten Testament lese ich den Satz: »Wie einen seine Mutter tröstet, so will ich euch trösten; ihr sollt in Jerusalem getröstet werden.« Wo Menschen Trost empfangen und weitergeben, ist Jerusalem. Da wandelt sich Dossenheim in einen Vorort von Jerusalem.
Noch etwas ist mir deutlich geworden, vor allem beim Lesen von Kondolenzbriefen. Da schrieben Menschen, die selber Leid und Trost erfahren hatten. Sie konnten selbsterlebten Trost weitergeben.
Wer darum in Zukunft Schweres und Schreckliches erlebt, soll wissen, daß er dies auch für andere erlebt. So sinnlos das Leid sein mag, es hat seinen Sinn darin, daß es, mit dem Leiden des Gekreuzigten zusammengebracht, anderen Menschen Nutzen bringen soll, »damit wir die, welche in allerlei Bedrängnis sind, trösten können durch den Trost, durch den wir selbst von Gott getröstet werden«.
Nun aber hat der Gott alles Trostes einen Widersacher, der möchte auch trösten. Auch der Teufel tröstet. Und er tröstet möglicherweise sogar mit frommen Worten, ist er doch auch ein Bibelkenner. In einer Welt, die betrogen sein will, läuft viel falscher Trost herum. – So ist es denn kein Zufall, daß in unserem Text so stark von Gott die Rede ist. Daran hängt eben alles, daß Gott selbst uns tröstet und nicht dessen Nachäffer.
Als wir die Frau und Mutter begraben hatten, sagte mir mein Jüngster: »Ich habe gespürt, daß Gott der Richtige ist.« Das möchte ich Ihnen allen wünschen, daß Sie das auch spüren. Das ist das Echo des wahren Trostes, daß wir mit dem Apostel auf unsere Weise sagen: »Gepriesen sei Gott, der Vater des Erbarmens und der Gott alles Trostes.« Und nun wollen wir diesen Gott preisen mit dem Lied:
Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte, dem Gott, der alle Wunder tut, dem Gott, der mein Gemüte mit seinem reichen Trost erfüllt, dem Gott, der allen Jammer stillt. Gebt unserm Gott die Ehre.
Ich rief zum Herrn in meiner Not: Ach, Gott, vernimm mein Schreien! Da half mein Helfer mir vom Tod, ließ Trost mir angedeihen. Drum dank, mein Gott, drum dank ich dir, ach danket, danket Gott mit mir. Gebt unserm Gott die Ehre.
Der Herr ist immer noch und nimmer nicht von seinem Volk geschieden; er bleibet ihre Zuversicht, ihr Segen, Heil und Frieden. Mit Mutterhänden leitet er die Seinen stetig hin und her. Gebt unserm Gott die Ehre.
Gehalten am 11. Juli 1976 in Dossenheim, zwei Wochen nach dem depressionsbedingten Suizid seiner Frau.
Quelle: Rudolf Bohren, Trost. Predigten, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 21983, S. 64-70.