Karl Barths Klarstellung zu seinem Brief an Hromadka: „Ist die politische Ordnung und Freiheit bedroht, dann trifft diese Bedrohung indirekt auch die Kirche. Und schreitet ein rechter Staat zu deren Verteidigung, dann ist an dieser Verteidigung indirekt auch die Kirche beteiligt. Sie würde ihre eigene Verkündigung nicht ernst nehmen, wenn sie hier gleichgültig bleiben könnte.“ (Aus einem Brief an Pfarrer G. J. Derksen, Holland, 1938)

Aus einem Brief an Pfarrer G. J. Derksen (Holland), 1938

Basel, 26. Oktober 1938.

Ich will es in Beantwortung der mir gestellten Frage versuchen, die Überlegungen, die hinter dem gesperrt gedruckten Satze [Anmerkung Karl Barth: Es handelt sich um den Satz: „Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für uns — und, ich sage es heute ohne Vorbehalt: er wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun, die in dem Dunstkreis der Hitler und Mussolini nur entweder der Lächerlichkeit oder der Ausrottung verfallen kann.” in meinem Brief an Prof. Hromadka (S. 58-59), der in den deutschen, aber auch in französischen, holländischen u. a. Zeitungen unter Zeichen des Entsetzens in Sperrdruck wiedergegeben worden war.] standen und noch stehen, kurz darzustellen:

Es ging in der heute verlorenen Sache der Tschechoslowakei gegen das hitlerische Deutschland nicht nur um die Regelung einer territorialen und völkischen Frage. Daß eine solche Frage im Sudetengebiet gestellt und zu beantworten war, ist nicht zu bestreiten. Es scheint, daß der Versailler Vertrag dort unerträgliche Verhältnisse geschaffen hat. Und es scheint, daß die tschechoslowakische Regierung die Wege bisher nicht gefunden hatte, diese zu beseitigen. Eine Beantwortung der damit gestellten Frage hatte aber mit folgenden Voraussetzungen zu rechnen:

1. Den vielleicht vorliegenden Übelständen mußte auf alle Fälle durch die Aufrichtung von Recht, d. h. auf dem Wege einer internationalen Verhandlung und Entscheidung unter Mitsprache und Anhörung aller Beteiligten abgeholfen werden. Indem an Stelle dessen der Tschechoslowakei gegenüber der Weg des einseitigen Diktats unter übermächtiger Gewaltsdrohung eingeschlagen wurde, entstand für diesen Staat zunächst die Pflicht der Selbstbehauptung und also der militärischen Verteidigung seiner bisherigen Grenzen. Er hatte mit solcher Selbstbehauptung rebus sic stantibus eine Frage der politischen Ordnung in Europa zu beantworten.

2. Den vielleicht vorliegenden Übelständen durfte unter keinen Umständen durch das bestimmt größere Übel abgeholfen werden, die Tschechoslowakei als die einzige östliche Vormacht demokratischer Politik praktisch hilflos zu machen, vier Millionen weiterer europäischer Menschen dem Diktatursystem (seiner Geheimpolizei, [67] seiner barbarischen Justiz, seiner gleichgeschalteten Presse, seinem Antisemitismus, seinem Kirchenkampf, seinem Mythus usw.) auszuliefern und damit diesem System neues Prestige und neue Kraft zuzuführen. Die Tschechoslowakei hatte auch unter diesem Gesichtspunkt die Pflicht zur Selbstbehauptung und also zur militärischen Verteidigung. Und sie hatte mit solcher Selbstbehauptung rebus sic stantibus eine Frage der politischen Freiheit in Europa zu beantworten.

Die Kirche Jesu Christi kann der Frage der politischen Ordnung und Freiheit in Europa nicht gleichgültig gegenüberstehen. Sie verkündigt den Totalitätsanspruch des Wortes Gottes. Sie kann diesen Anspruch im Bereich der Diktaturen nur entweder fallen lassen und damit vor Gott und der Welt der Lächerlichkeit verfallen oder ihn aufrecht erhalten und damit die Ausrottung durch die Diktatur auf sich ziehen. Muß sie bereit sein, sich durch vollendete Tatsachen vor dieses Dilemma stellen zu lassen, so kann sie doch eine Politik, die sie vor dieses Dilemma stellt, nicht von sich aus bejahen, gutheißen und wollen. Die Kirche kann die Diktatur erleiden müssen. Der politische Raum, den sie allein bejahen, gutheißen und wollen kann, ist aber der der Ordnung und der Freiheit.

Ist die politische Ordnung und Freiheit bedroht, dann trifft diese Bedrohung indirekt auch die Kirche. Und schreitet ein rechter Staat zu deren Verteidigung, dann ist an dieser Verteidigung indirekt auch die Kirche beteiligt. Sie würde ihre eigene Verkündigung nicht ernst nehmen, wenn sie hier gleichgültig bleiben könnte. Sie kann als Kirche nur geistlich streiten und leiden und sie wird damit indirekt das Wichtigste und Entscheidende tun, was in einem die Ordnung und das Recht verteidigenden Staate für diesen zu geschehen hat. Sie wird aber umgekehrt auch anerkennen, daß das menschliche Streiten und Leiden des Staates und der Soldaten dieses Staates indirekt auch für sie geschieht.

In diesem Sinne habe ich den gesperrten Satz meines Briefes geschrieben. Von einer „Identifizierung” zwischen dem Streiten und Leiden der Kirche und dem des Staates ist in diesem Satz keine Rede. Es sollte aber auch nicht übersehen werden dürfen, daß es zwischen dem Streiten und Leiden der Kirche und dem des Staates dann eine Gemeinsamkeit gibt, wenn der Staat [68] als rechter Staat für die Ordnung gegen eine blinde Dynamik und für die Freiheit gegen eine brutale Tyrannei einzutreten hat. Dann hat die Kirche sich nicht von ihm zu distanzieren, sondern solidarisch neben ihn zu treten. Der Satz vom tschechischen Soldaten meint in konkreter Anwendung sehr schlicht das, was 1. Tim. 2, 1-3 als Grund des christlichen Gebetes für die Obrigkeit angegeben ist: „auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit”. Eben dazu ist der rechte Staat da. Und eben dazu muß es leider, solange es Ordnungsbrecher und Freiheitszerstörer gibt, auch Soldaten und dann wahrlich auch ein christliches Lob des Soldaten geben.

Getäuscht habe ich mich am 19. September nur darin, daß ich die Widerstandskraft sowohl der Tschechoslowakei als der anderen europäischen Ordnungs- und Freiheitsstaaten und auch die Einsicht der europäischen Kirchen damals überschätzt habe. Prag ist nicht fest geblieben und London und Paris sind nicht wieder fest geworden. Und die Kirche hat, mehr mit der Frage nach dem Frieden überhaupt, als, wie es sich gehörte, mit der Frage nach dem rechten Frieden beschäftigt, nichts dazu zu sagen gehabt. Wir werden alle dafür bezahlen müssen, daß jene Widerstandskraft nicht größer gewesen ist, daß die Regierungen, die Völker und die Kirchen sich in der Weise haben bluffen lassen, wie es vor und nach dem 30. September geschehen ist.

Quelle: Karl Barth, Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, Zollikon-Zürich: EVZ 1945, S. 66-68.


Hier der Text als pdf.

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